Der alte Indianerhäuptling Manoel sitzt am Ufer des Xingu. Sein grauschwarzes Haar ist zerzaust, der Arbeitspulli verschwitzt. Er wickelt eine Schnur auf eine Spule, an deren Ende ein Haken geknotet ist. Darauf spießt der 75-Jährige ein Stück gekochte Maniokwurzel und schleudert beides gekonnt einige Meter in den Fluss.
"Ich war ein Fischer. An diesem Fluss habe ich so viel Zeit in meinem Leben – Tage und Nächte – verbracht."
Der Stamm von Alt-Häuptling Manoel sind die Juruna. Sie selbst nennen sich Yudjá [Iudschá]. Die Legende besagt, der Fluss selbst habe ihr Volk erschaffen. Er ist ihnen heilig.
Eines der größten Staudammprojekte der Welt
"Yudjá bedeutet "Herren des Flusses". Von ihm allein haben wir früher gelebt und ihn um Erlaubnis gebeten, etwa um zu fischen."
Manoels Dorf liegt am Mittellauf des Xingu, ein 2000 Kilometer langer Seitenarm des Amazonas. Hier biegt und schlängelt sich der Strom gemächlich auf 100 Kilometern. Doch sein Wasserspiegel sinkt kontinuierlich. Der Xingu wird umgeleitet durch zwei künstliche Kanäle zum Hauptkraftwerk von Belo Monte, eines der größten Staudammprojekte der Welt. Das erhöht den Wasserdruck zum Antrieb der Turbinen. Die Erste von 24 ist im Mai in Betrieb gegangen. Wenn 2019 alle Turbinen laufen, sollen sie 60 Millionen Menschen mit Strom versorgen. Hier in der Flussschleife aber befürchten die Indigenen, ihr Fluss werde verschwinden. Manoels Tochter Eliete schaut ausdruckslos auf den Xingu:
"Es macht mich traurig, so traurig zu wissen, dass mein vierjähriger Sohn sich irgendwann nicht mehr an den Fluss erinnern wird. Er ist noch zu klein."
Wir gehen eine Anhöhe hinauf zum Dorf. Mein letzter Besuch ist fünf Jahre her, damals noch per Boot. Es gab es weder eine Straße noch eine Stromleitung hierher. Beides hat das Staudamm-Konsortium errichten lassen. Im Zentrum des Dorfes zeigt Eliete 22 neue, bunte Holzhäuser, eine neue Schule aus Stein, wo früher in einem Holzschuppen unterrichtet wurde und einen Gesundheitsposten.
Die Neuerungen führten zu einem großen Streit im Dorf
"Für alles mussten wir streiten. Wir haben Straßen besetzt und deren Hauptquartier, um die Häuser fertigzustellen oder die Schule. Jetzt steht sie da, aber niemand nutzt sie, der Gesundheitsposten ist fast fertig, aber was bringt der ohne Medikamente, Arzt oder Schwester?"
Was Eliete nicht erzählen mag: Die Neuerungen führten zu einem großen Streit im Dorf. Ein Teil ihres Stammes lehnte Verhandlungen ab, zog weg und gründete eine eigene Siedlung.
Die Schotterpiste aus dem Reservat eine Straße zu nennen, wäre sehr wohlwollend. 30 Kilometer entfernt türmt sich das Hauptkraftwerk von Belo Monte auf.
Ursprünglich waren für den Bau umgerechnet vier Milliarden Euro Kosten berechnet worden. Nun geht das staatlich kontrollierte Konsortium "Norte Energia" fast vom Doppelten aus. Belo Monte war das Vorzeigeprojekt der mittlerweile suspendierten Präsidentin Dilma Rousseff. Mittlerweile taucht es auch in den Ermittlungen um ein gigantisches Korruptionsnetzwerk aus Bauunternehmen und Politikern auf. Für das Wasserkraftwerk sollen die Konstrukteure mindestens 40 Millionen Euro Schmiergeld gezahlt haben– an die Partei von Rousseff, aber auch an die Partei des jetzigen Übergangspräsidenten Michel Temer. Die Menschenrechtsaktivistin Antonia Melo hält nichts von dem neuen starken Mann.
"Der stammt aus dem gleichen kriminellen Wurf von Politikern, die diese riesigen Baukonstruktionen erlauben und unser Leben gegen Schmiergelder eingetauscht haben."
Ihre NGO "Xingu vivo", "Lebender Xingu", war vor fünf Jahren das Bollwerk aus Indianern, Flussanwohnern, Kirche und sozialen Organisationen gegen Belo Monte. Und heute? Antonia Melo wirkt müde.
"Die Menschen haben Angst und sie haben den Glauben verloren. Sie sind zu apathisch, um aufzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen. Selbst unsere Einheit haben Belo Monte und die Regierung geschafft, zu zerstören."
Was der Organisation bleibt, ist mit Opfern für Entschädigungen vor Gericht zu ziehen. An diesem Tag kommt Dona Maria in das Büro der Provinzhauptstadt Altamira und bittet um Hilfe. Ihr ganzes Leben hat die Mutter von sechs Kindern auf einer abgeschiedenen Insel im Fluss verbracht und vom Anbau von Früchten und vom Fischen gelebt.
"Sie haben mich erniedrigt. Mir wurde gesagt, ich hätte kein Recht auf einen finanziellen Ausgleich. Entweder würde ich die 12.000 Reais von Norte Energia nehmen oder könnte zurückkehren und mich vom Wasser wegspülen lassen."
Verhandlungen mit Konsortium haben den Stamm gespalten
12.000 Reais, das sind etwa 3.000 Euro. Dona Maria nahm das Geld. Aus Angst, sagt sie. Sie teilte es auf ihre sechs Kinder auf. Geblieben ist ihr nichts, außer der Wut auf Norte Energia. Für Interviews steht das Konsortium nicht zur Verfügung. Man verweist auf die neu errichteten Viertel von Altamira. In einem dieser Fertighäuser am Stadtrand lebt Francinete da Silva:
"Die Wände sind sehr fragil. Schauen Sie hier. Überall, wo sie anfassen, bricht ein Stück heraus. Das ist doch nicht normal. Meine Nachbarin wollte einen Geschirrhalter anbringen und hat damit die halbe Wand eingerissen."
Ich besuche ein zweites Indianer-Dorf. Auch hier haben die Verhandlungen mit dem Belo Monte Konsortium den Stamm gespalten. Er habe sich kaufen lassen, werfen viele dem Anführer Fernando vor. Aber das stimme so nicht, sagt er.
"Wir waren gezwungen, diesem Bauprojekt zuzustimmen. Was konnte ich also tun, um das Beste für uns herauszuholen? Das war der große Streit zwischen uns. Einige weigerten sich, aber was wäre dann passiert in den Jahren? Es würde uns schlechter gehen. So haben wir wenigstens einige Fortschritte im Bereich Bildung."
In der Schule hinter Fernando beginnt gerade der Unterricht für 160 indigene Schüler. Nutzpflanzen aus dem Reservat stehen auf dem Lehrplan. Wie aber wird die Zukunft dieser Kinder aussehen? – das kann keiner sagen.
Und bald soll auch noch "Belo Sun" kommen: Ein kanadisches Bergbauunternehmen will in den nächsten Jahren 150 Tonnen Gold aus dem Amazonasboden am Xingu extrahieren, mithilfe von giftiger Blausäure.