In seinen 2013 in Rumänien erschienen Erinnerungen erzählt Ştefan Agopian, wie er Anfang der 1970er Jahre auf der Krankenstation seiner Militäreinheit als Sanitäter arbeitete. In Vertretung des aushäusigen Arztes musste er einen an hohem Fieber Erkrankten behandeln und erkundigte sich, in Medizin völlig unbeleckt, bei einem Kameraden, der Viehdoktor war, nach der zu verabreichenden Menge an Antibiotika. Der Veterinär empfahl die Hälfte dessen, was er sonst einer Kuh zuteile. "Am darauffolgenden Tag", beschließt Agopian die Episode lakonisch, "erfuhren wir vom Arzt, wir hätten dem Patienten fast das Fünffache der für einen Menschen üblichen Dosis verabreicht und könnten von Glück sagen, dass er nicht gestorben sei. Aber er war nicht nur nicht gestorben, sondern hatte sich innerhalb zweier Stunden frisch und gesund vom Krankenbett erhoben."
So verrückt, balkanisch absurd und burlesk, wie es nicht selten im Leben des Ştefan Agopian zuging, der in erbärmlichen Familienverhältnissen und der Misere einer Bukarester Vorstadt aufwuchs, weshalb dem späteren Schriftsteller und Boheme nichts Menschliches fremd war und ist, geht es auch in seiner Prosa zu. Für viele Autoren der jüngeren Generation besitzt sie bis heute Vorbildcharakter.
Verrückte Gestalten
In dem knapp hundert Seiten langen Roman "Handbuch der Zeiten" von 1984 hat das "Verrückte" poetische Methode. In diesem Buch gibt es nichts, was es nicht gibt: Kakodämonen und Pandidaktiker, die sich um die Bedeutung der Bohne streiten; einen Riesenvogel namens Odysseus; Stymphaliden, die sich mit Wölfen paarten, woraus die blutrünstige Hunderasse der Molosser hervorging; Engel in allen Varianten: schnarchende Engel, zwergkleine Engel, Engel fett wie Tauben; sich an Fußsohlen wärmende Teufelchen und einen enzyklopädisch gebildeten Hund namens Magog. Woher kommen aber alle diese fantastischen Gestalten – gibt es für sie eine Tradition in der rumänischen Literatur?
"Im Allgemeinen hat die rumänische Literatur sich dieser Art des Fantastischen nicht bedient, es ist – um eine Verwandtschaft zu benennen - ein Fantastisches eher wie bei Bulgakov in seinem 'Meister und Margarita'. Aber im Grunde entspringt dieses Fantastische einfach nur meiner persönlichen Fantasie, meiner Sichtweise auf die Welt, denn in erster Linie ist es eine überaus humorvolle Fantastik. Aber ein bisschen beeinflusst ist sie doch auch von Bulgakov, ganz sicher. Die rumänische Literatur kennt für das Fantastische dieser Art jedenfalls keine klaren Beispiele, deshalb war mein Buch für die rumänischen Leser auch etwas Neues."
Das Wundersame ist ständig präsent
In der Tat zeichnen sich Agopians fantastische Figuren in ihrer schaurigen Komik für den Leser durch lebendigste Originalität aus. Anders als Mircea Cartarescu, der als jüngerer Vertreter des Fantastischen in der rumänischen Literatur den plötzlichen Einbruch des Wundersamen und Unheimlichen in langen realistischen bis hyperrealistischen Schilderungen vorbereitet, ist es bei Agopian immer schon ganz selbstverständlich präsent. Da wundert es weniger, wenn sich unter die Dämonen und Engel auch ein Spitzel mischt, der für seinen namenlosen Herrscher Listen all derer anlegt, die sich als seine Feinde zu erkennen gegeben haben, weil sie verbreiten, "die Winter wären nicht mehr das, was sie einmal waren, wegen deines Wahnsinns, der du alles auf den Kopf gestellt hättest". Ein Schelm, der dabei an Ceausescu denkt.
"Wir lebten in einer absurden Welt, diese kommunistische Welt war absurd, ich werde jetzt nicht anfangen zu erklären, was der Kommunismus unter Ceausescu bedeutete, und mein Buch war, wie soll ich es sagen, eine Transformation der absurden Welt, in der wir lebten, aber es war ein absurd witziges Buch und erschien nun mal in der Zeit, als sich Ceausescus Wahnwitz voll entfaltet hatte. Und niemand hat das verstanden, außer den Leuten des Senders Freies Europa. Dort wurde das Buch zweimal besprochen. Es sei ein antikommunistisches Buch, hieß es – aber die suchten auch mit der Laterne in der Hand nach allem, was antikommunistisch war. Als ich die Besprechung hörte, bin ich erschrocken. Oh Gott, habe ich gedacht, die verbieten mir das Buch, sie ziehen es zurück, denn normalerweise verbannten sie solche verdächtigen Bücher aus den Buchhandlungen."
Doch das Buch des Schelms Agopian blieb erhältlich. Dass sein Roman im Vorfeld überhaupt die Zensur passierte, lag wohl vor allem daran, dass sich die Behörde mit der historischen Zeit begnügte, in der die Geschichte angesiedelt war. Denn die Handlung des "Handbuchs der Zeiten", wenn denn von einer Handlung gesprochen werden kann, vollzieht sich zwischen 1801 und 1808, freilich ohne dabei irgendeine chronologische Ordnung einzuhalten, denn in den Büchern Agopians geht es selten ordentlich zu.
Etikett des Postmodernismus angeklebt
Wer also auf der ersten Seite liest: "Im Jahre 1807 waren Moskowiterbälle in Mode, die Menschen hatten Pazvantoğlu gelesen, die Türken hatten sich im Lande rar-, die Moskowiter breitgemacht", sollte sich nicht behaglich zurücklehnen und denken, er halte einen postmodernen Roman a la Umberto Eco in der Hand, der wenige Jahre zuvor mit seinem "Namen der Rose" einen Welterfolg gelandet hatte. Dennoch klebte man Agopian in seiner Heimat das Etikett des Postmodernismus an. Dazu der Autor lakonisch:
"Die postmoderne Theorie hat Rumänien erst sehr spät erreicht, mir hat man schon gesagt, ich sei postmodern, ich schriebe postmodern, bevor ich überhaupt wusste, was das ist. Also ich bin ein Postmoderner avant la lettre."
Historische Landschaft und Daten mögen dem Geschehen im "Handbuch der Zeiten" Konsistenz verleihen, und an Ironie fehlt es dem Erzähler gewiss nicht – aber die Welt, in der es sich ereignet, ist so alptraumhaft fantastisch wie das zuvor geschilderte Ensemble seiner Figuren und hält, darüber hinaus, fliegende Sessel, sprechende Eingangsschilder oder sich in Ohren verwandelnde Wände, in die man hinein urinieren kann, bereit. Zudem hatte das "anything goes" der Postmoderne in der Diktatur selbstredend eine andere Bedeutung und besaß, unter den Bedingungen des "anything matters", politische Sprengkraft.
Agopians Anti-Helden wiederum, der Geograf Ioan Marin, der vom Nebelland Engliterra träumt, und der Armenier Zadic, welcher vorgibt, in seinem Leben bereits Dutzende von Berufen ausgeübt zu haben, darunter die des "Bonbonpapieristen" und des "Hornviehgroßisten", diese schon zu Beginn des Buches mit Brummschädeln in einer Pfütze erwachenden Trunkenbolde könnten balkanische Brüder der in "gottverlassener Gegend" auf Godot wartenden Waldimir und Estragon sein.
"Zweifellos, man kann eine Verbindung zu Beckett herstellen, ich habe Beckett damals gelesen, ich bin mir nicht sicher, aber nein, er hat mich nicht beeinflusst, das ist sicher. Vor allem, die beiden Figuren bei Beckett warten auf etwas, das nicht kommt, während meine Figuren, ja auch sie warten, nein, sie warten nicht, naja, beides, sie warten und warten nicht, unterdessen bestehen sie aber viele mehr oder weniger fantastische Abenteuer. Und mein Buch endet eindeutig, während das Ende bei Beckett irgendwie in der Luft hängen bleibt."
Von Handlung kann kaum die Rede sein
Gewiss wirken Agopians Clochards lustiger als die beiden Landstreicher – aber sie teilen die Trägheit der Beckett-Figuren und deren völlig hoffnungslose Sicht auf das Leben.
Wenn auch von einer Handlung in den sechs Romankapiteln kaum die Rede sein kann, so ist in ihnen doch Einiges los, selbst wenn die Protagonisten nicht immer gleich beschossen werden: "Die Bleikugeln flogen an ihnen vorüber wie wahre Fliegen und zerrten an ihren Nerven." Doch im erfindungsreichen Welttheater Agopians wirbelt alles durcheinander, wie der Kritiker Eugen Negrici schreibt: Gutes und Böses, Gegenwart und Zukunft, Wunderbares und Wirkliches, Wahrheit und Lüge, Nacht und Tag, Tod und Leben. Und dabei geht es hochkomisch zu, noch dort, wo Ioan und Zadic im Lazarett einen Offizier mit gespaltenem Schädel begrüßen und sich fragen, ob sie nicht auch recht eigentlich schon tot sind. Das sind sie wohl – und haben, anders als Wladimir und Estragon, eben nichts mehr zu erwarten.
Dass der Roman an Ikonenmalerei erinnert, liegt nicht nur an den historischen Gewändern, den Engeln und Teufeln, auch nicht an der Statik, in der das turbulente Treiben verharrt, sondern an der von Eva Ruth Wemme überzeugend ins Deutsche gebrachten verspielt-poetischen Sprache, die sich wie der Goldgrund seiner Bildtafeln ausnimmt. Es ist die Sprache, die Ştefan Agopian zum Dichter überwältigender, rührender und gleichzeitig lustigster Vergeblichkeit macht.
Ştefan Agopian: Handbuch der Zeiten.
Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Verbrecher Verlag Berlin, 2018. 100 Seiten, 18 €.
Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Verbrecher Verlag Berlin, 2018. 100 Seiten, 18 €.