Eine der vornehmsten Qualitäten von Nachrichtenprogrammen ist die spröde Art ihrer Präsentation. Eine klar artikulierte Stimme berichtet über die Ereignisse des Tages, in deutlich vernehmbarer Sprache. Subjektivität, Poesie gar, ist von einer Nachrichtensendung nicht zu erwarten. Es sei denn, sie kam wie damals, Anfang der 1980er Jahre, aus einem so genannten Weltempfänger, einem Radio, das per Kurzwelle Stimmen aus dem einen Ende der Welt einfing und an deren anderes Ende übertrug. Das ging nicht ohne ein konstantes Rauschen, ein fiependes Zischen, das sich als akustischer Kokon um die Stimme aus der Ferne legte.
Das Rauschen des Weltempfängers, erinnert sich der Islamwissenschaftler und Publizist Stefan Weidner auf den Eingangsseiten seines Buches, machte diese Stimmen zu einem ästhetischen Erlebnis. Es verzauberte sie, gab dem jungen Mann eine Ahnung von der Weite und Vielfalt der Welt. Einer Vielfalt, die heute, im Zeitalter der digitalen Medien, ihren akustischen Ausweis verloren hat. Heutige Übertragungen klingen in technischer Hinsicht gleich, ob sie aus Berlin oder Bangkok, Brüssel oder Bagdad kommen. Akustisch hat die Ferne ihren Zauber verloren, die Fremde ihre Rätselhaftigkeit.
Wohl und Wehe der Nachbarschaft
Doch man täusche sich nicht, schreibt Weidner in seinem Buch "Jenseits des Westens": Das Fremde existiert weiterhin - es hat sich nur akustisch einebnen lassen, nicht aber in seiner Substanz. Die Welt ist bunt wie eh und je, sie tickt weiterhin in den unterschiedlichsten Rhythmen, ihre Bewohner hängen Vorstellungen und Ideen an, die disparater kaum sein könnten.
Dieser Umstand mag die Welt zwar reizvoll machen. Er hat aber auch neue Probleme geschaffen. Vor allem wirft er die Frage auf, wie die Menschen es nun, da die Distanzen ihre trennende Funktion verloren haben, miteinander aushalten. Denn global wächst nun zusammen, was lange Zeit kaum zusammengehörte. Wo aber Vielfalt nicht ausdrücklich erwünscht ist, gehen Menschen, deren Erwartungen an die Ordnung der Welt und / oder den Sinn des Daseins kaum irgendwo zur Deckung gelangen, einander meist erheblich auf die Nerven - um das Mindeste zu sagen.
Weltordnung und Dialog
Doch die neue Nähe wirft eine Frage auf: Welche Hausordnung gibt sich die global zusammenwachsende Menschheit? Immer stärker zeichnet sich ab, dass der Westen allein sie nicht mehr wird mehr formulieren können. Die neuen Spielregeln, schreibt Weidner, könnten darum nur im Dialog entstehen.
"Es versteht sich, dass ein alternatives Narrativ nicht einfach erfunden, aus dem Nichts in die Welt gesetzt oder von oben herab oktroyiert werden kann. Es kann nur aus bereits gegebenen Narrativen herauswachsen, aus einer global vernetzten Diskursgemeinschaft, die von den jeweils vor Ort gegebenen dezentralen Diskursen und Narrativen unterfüttert wird. Um als übergreifendes Narrativ, als Masternarrativ oder Dachnarrativ gelten zu können, müsste es den Spagat schaffen, zugleich offen genug zu sein … und zugleich wert-und zielsetzend, Orientierung stiftend – andernfalls ist die Rede vom "Narrativ" sinnlos und wir können bei den globalen Partikularitäten, Relativismen, Identitäten stehenbleiben und dieses Buch zuklappen."
Der Autor als Kurator
Immer deutlicher zeichne sich ab, so Weidner, dass die Menschheit sich als eine Gemeinschaft verstehen müsse, dass jeder Mensch zu ihr gehöre – und jeder darum das Recht habe und haben müsse, an der Gestaltung der zukünftigen Ordnung mitzuwirken. Dieses Recht ist eines, das sich zu jener grundlegenden Kategorie des "Rechts auf Rechte" zählt, das Weidner zur grundlegenden ethischen Voraussetzung der derzeit sich formierenden neuen Weltordnung zählt. Kulturelle Vorlieben, religiöse Gewissheiten, die Rede von letzten und vorletzten Dingen: All dies mag variieren. Was aber nicht variieren kann und darf, ist das Recht, Rechte zu haben.
"Wer die Menschheit nicht als integrale Gemeinschaft anerkennt, wird auch kein Recht auf Rechte zugestehen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer kein Recht auf Rechte zugesteht, erkennt auch die Menschheit als Gemeinschaft nicht an. Er unterscheidet zwischen denen, die dieses grundlegende Recht haben, und denjenigen, die es nicht haben, also keinerlei Rechte haben, Outlaws, Vogelfreie, Sklaven, Indianer; oder … Staatenlose. In dem Moment, wo jemand des Rechts auf Rechte beraubt wird, zum Beispiel indem man ihn oder sie zum Abschuss freigibt – sei es durch eine Drohne, sei es durch einen Selbstmordattentäter, die Begründung ist einerlei –, wird die Gemeinschaft der Menschheit aufgehoben, nicht mehr anerkannt. So jedenfalls lässt sich ein alter jüdischer Rechtsgrundsatz deuten, der später vom Koran übernommen worden ist."
Er verstehe sich, schreibt Weidner auf den letzten Seiten seines Buches, weniger als dessen Autor. Eher sei er in die Rolle eines Kurators geschlüpft, der die unterschiedlichsten Stimmen miteinander ins Gespräch gebracht hat. Das ist elegant gesagt - und verweist bescheiden auf die ungeheure Belesenheit dieses Kurators, seine stupende Kenntnis von Quellen aus den unterschiedlichsten Weltregionen. Europa, der Nahe und der Ferne Osten, die USA, auch Afrika: kaum eine Region, aus der Weidner nicht Gewährsmänner - und Gewährsfrauen - heranzieht. Entstanden ist so ein überaus gelehrtes Buch. Und auch eines, dessen durchweg scharfsinnige Argumentation einige Konzentration erfordert. Als "Weltgespräch beim Schmaus" hatte der Dichter Friedrich Rückert den kommenden Dialog einmal bezeichnet, ein poetisches Wort, das Weidner in einem früheren Buch aufgenommen hat. Sein Buch öffnet die Augen dafür, dass es dabei sehr konträr zugehen dürfte. Was aber bringt uns weiter, wenn nicht der Streit?
Stefan Weidner: "Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken"
Hanser Verlag, München. 368 Seiten, 24 Euro.
Hanser Verlag, München. 368 Seiten, 24 Euro.