Im Grunde genommen stehen in diesem Buch drei Lebenswege zur Anschauung. Es geht um die portraitierten Humanisten Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne - und es geht um den Autor selbst. Montaigne und Erasmus von Rotterdam trennt ein knappes Jahrhundert voneinander. Der geborene Niederländer, Theologe und Kosmopolit Erasmus starb 1536; Michel de Montaigne wurde 1533 als Sohn eines begüterten Weinhändlers in der Gascogne geboren. Ihre Lebensgeschichten grundiert der Autor Stefan Zweig mit seinen eigenen Erfahrungen und Vorstellungen. Wie kaum ein anderer Schriftsteller der deutschen Sprache verstand Zweig sich darauf, der Weltgeschichte wesenhafte Züge anzudichten, Stichwort: Sternstunden der Menschheit. Sie, die Geschichte als allegorische Handlungsbevollmächtigte in eigener Sache, sucht sich immer dann, wenn sie an eine Epochenschwelle gelangt, einen Menschen, in dem sich die Aufgabe der nächsten Generation verdichtet. Das Zweig’sche Geschichtsverständnis ist in diesem Sinn heroisch, und es ist teleologisch, also zweckgerichtet. Die Geschichte will, lässt Zweig uns wissen, zum Guten hin wachsen. Zentral ist hier der Begriff eines schöpferisch wirkenden Geistes. Dieses Wort ist bei Zweig weniger religiös als humanistisch inspiriert. Geist ist alles, was zum Wahren, Guten und Schönen strebt. Besonders Erasmus von Rotterdam ist in diesem Sinne ein Geistesmensch. Erasmus, so wie Zweig ihn sieht, schafft Klarheit, er sucht nach Austausch, er ist ein konzilianter Mann des Maßes und der Verständigung. Er trägt sogar die frühen Insignien der Aufklärung.
"(...) in Erasmus sieht die Zeit das Symbol der still, aber unaufhaltsam wirkenden Vernunft. Einen wunderbaren Augenblick lang ist Europa einig in dem humanistischen Wunschtraum einer einheitlichen Zivilisation, die mit einer Weltsprache, einer Weltreligion, einer Weltkultur der uralten, verhängnisvollen Zwietracht ein Ende machen sollte, und dieser unvergeßliche Versuch bleibt denkwürdig gebunden an die Gestalt und den Namen des Erasmus von Rotterdam."
Diskrete Psychologisierung des Portraitierten
Stefan Zweig schrieb diese Sätze nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler und vor dem Anschluss Österreichs. Zweig war ein überzeugter Pazifist, er war das schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs gewesen, einer Zeit, in der viele Künstler und Intellektuelle in einen wahren Kriegsrausch verfallen waren. Sein auktoriales Flehen nach Frieden und Verständigung, nach einem hellen Europa, ist unüberhörbar, wiewohl mit wunderbarer Eleganz angebunden an das Sujet. Der Text über Erasmus von Rotterdam bietet viel von Zweigs schönster Prosakunst. Man findet sie in der novellenartige Verdichtung seiner Sentenzen, in der diskreten Psychologisierung des Portraitierten, in der eleganten Paraphrase, die unaufhörlich zuordnet und sichtet. Zugleich geht dieser Essay schwanger mit seinem Erscheinungsjahr. Ab 1934 konnten Stefan Zweigs Bücher nicht mehr im Insel Verlag in Leipzig erscheinen, sondern sie wurden im Verlag Herbert Reichner in Wien verlegt. Im gleichen Jahr packte Zweig auch erstmals seinen Koffer um nach London zu emigrieren. Er wurde selbst, wie sein Erasmus von Rotterdam, zu einem vagabundierenden Geistesmenschen, der überall und nirgendwo zuhause war. Zweig feiert die Fähigkeit seines Erasmus, sich nie, niemals mit den Mächtigen gemein zu machen. Der ordinierte Geistliche und Theologe bleibt in seiner Deutung ein Freigeist in Armut wie im Reichtum.
"Erasmisch denken heißt darum unabhängig denken, erasmisch wirken im Sinne der Verständigung wirken. Der Erasmische, der Menschheitsgläubige hat nicht das Trennende innerhalb seines Lebenskreises zu fördern, sondern das Bindende (...) und je fanatischer die Zeit wird in ihrer Parteilichkeit, um so entschlossener hat er in seiner Überparteilichkeit zu verharren, (...) unbestechlicher Anwalt der geistigen Freiheit und Gerechtigkeit auf Erden."
Doppelportrait von Martin Luther und Erasmus
Beim Fanatismus in den Tagen des Erasmus von Rotterdam, er lebt im späten 15. und im frühen 16. Jahrhundert, geht es natürlich um die Kirchenspaltung, um Kriege und Bauernaufstände, um die Verfolgung Andersdenkender nach der Reformation. Viel ist geschrieben und gesagt worden über die Gegnerschaft von Erasmus und Martin Luther, die doch beide vom gleichen Punkt aus losgelaufen sind; beiden kam es darauf an, die katholische Kirche zu erneuern. Stefan Zweig hält sich nicht allzu lange auf mit den theologischen Differenzen der Geistlichen, also mit der bis heute anhaltenden Debatte um die Bedeutung des freien Willens für den Menschen. Vielmehr gelingt Zweig hier fast beiläufig ein grandioses Doppelportrait von Martin Luther und Erasmus. Sie erstehen als Kontrahenten in ihrer so gegensätzlichen geistigen und körperlichen Physis, für die Zweig immer wieder neue, packende Wendungen findet; Luther ist der Blutmensch, Erasmus der Geistmensch. Und erst im Kontrast zu seinem Antagonisten Luther gelangt Stefan Zweig zu seiner Kritik am zurückhaltenden Wirken des Erasmus von Rotterdam. Der stets Abwägende wird zögerlich, er verpasst, so Zweig, den Ruf der Weltgeschichte, beim Reichstag zu Augsburg 1530 als Friedensstifter aufzutreten, die Spaltung der Kirche zu verhindern.
"Meine Feinde mehren sich, meine Freunde schwinden", klagt verzweifelt der Einsame, für den humaner geistiger Umgang das Schönste und Beglückendste des Lebens gewesen war."
1942 ist das Jahr, in dem Stefan Zweig sterben wird. In diesem Jahr arbeitet er an einem Essay über den französischen Weinbauern Michel de Montaigne, dessen Essais wegen ihrer Eleganz und Eloquenz bis heute gelesen und bewundert werden. Es sind kleine philosophische Traktate, übrigens in französischer Sprache zwischen 1580 und 1588 erschienen, die von weltlichen und geistlichen Dingen handeln. Zweig hat seinen Essay über Montaigne vielleicht sogar selbst als komplementären Text zu Erasmus verstanden. Jedenfalls ist es erhellend, die beiden Kurzbiographien hintereinander zu lesen und mit Stefan Zweig zu verstehen, wie die beiden Männer auf sehr verschiedenen Wegen zu gleichen Schlüssen kamen. Beide redeten sie bedingungslos der Freiheit des Geistes das Wort, Montaigne aber als epikureischer Individualist, Erasmus als humanistischer Globalist. Zweigs Essay über Michel de Montaigne wird als Fragment bezeichnet, was richtig ist, auch wenn Zweig das Todesjahr Montaignes 1587 erzählerisch erreicht. Man mag sich, gerade im Lichte der Lektüre des Erasmus- Stückes, kaum vorstellen, dass Zweig den Montaigne Text so zur Veröffentlichung frei gegeben hätte. Das vormalig diskrete Werben um die Gunst des Portraitierten ist hier nämlich zu einem einzigen großen Aufschrei geworden, man denkt unwillkürlich an das Bild von Edvard Munch. Stefan Zweig vermag seine eigene Existenz nicht länger an den Zeilenrand zu verbannen.
Ein Buch leider ohne weiteren Textkommentar
"Mich aber berührt und beschäftigt an Montaigne heute nur dies: wie er in einer Zeit ähnlich der unsrigen sich innerlich freigemacht hat und wie wir, indem wir ihn lesen, uns an seinem Beispiel bestärken können. (....) Hundertmal, von Blatt zu Blatt, wenn man Montaigne aufschlägt, hat man das Gefühl: nostra res agitur, das Gefühl, hier ist besser, als ich selbst es sagen könnte, gedacht, was die innerste Sorge meiner Seele in dieser Zeit ist. Hier ist ein Du, in dem mein Ich sich spiegelt, hier ist die Distanz aufgehoben, die Zeit von Zeiten trennt."
Die Andere Bibliothek tut gut daran, die beiden Essays über Erasmus von Rotterdam und Michel de Montaigne in einem Band zu veröffentlichen. Es ist eine bibliophile Ausgabe geworden mit einem originellen Bild im Vorsatz. Erasmus von Rotterdam begegnet der Leserin als Linkshänder; das berühmte Portrait Albrecht Dürers wurde hier aufgelöst und gespiegelt. Leider ist es auch ein Buch ohne weiteren Textkommentar, ein Nachwort des als Herausgeber fungierenden Lektors Christian Döring hätte man sich sehr gewünscht.
Stefan Zweig: "Erasmus von Rotterdam & Montaigne"
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, 288 Seiten, 16 Euro
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, 288 Seiten, 16 Euro