Es hat eine ganz besondere Qualität, dieser Aufstand, eine besonders gute Organisation hat da vor Ort stattgefunden. Es wurde per Akklamation ein Kreisstreikkomitee gewählt auf der Kundgebung am 17. Juni am Vormittag auf dem Platz der Jugend.
Die Herausgeber Paul Werner Wagner und Stefanie Wahl. Das Buch, ein Sammelband verschiedener Autoren, will ein Beitrag sein, die Chronik- und Forschungslücken des Aufstandes außerhalb Ost-Berlins zu schließen. Etwas unvermittelt erscheint der Untertitel: "Der 17. Juni 1953 und die Deutschlandpolitik". Zusammenhänge zwischen dem Aufstand allgemein und der deutschen Frage zu suchen, mag Sinn machen, das Spezielle zwischen dem "Bitterfelder Aufstand" und der Deutschland-Politik erschließt sich aber nicht. Es ist eine Schwäche des Buches, doch dazu später.
Bitterfeld – der Name steht neben Umweltzerstörung durch chemische Industrie auch für die Vereinnahmung der Literatur durch die SED. 1959 legten Schriftsteller in Bitterfeld ein Bekenntnis zum DDR-Sozialismus ab. Es spricht einiges dafür, dass die Wahl des Ortes Bitterfeld damals und die anschließende Rhetorik vom "Bitterfelder Weg" eine Reaktion der SED auf den Aufstand in Bitterfeld von 1953 war, auf das Protestpotential der Arbeiter in der Region. Denn in Bitterfeld war der Aufstand mit am weitesten gegangen – bis zur zeitweisen Machtübernahme.
Olaf Freier skizziert die Ereignisse anhand von Unterlagen der Volkspolizei, der SED und des MfS für drei Betriebe in Bitterfeld und dem nur fünf Kilometer entfernten Wolfen. Der Aufstand entwickelte sich in gleichen Formen: Die Arbeiter legten die Arbeit nieder, versammelten sich, zogen zu den anderen Betrieben und schließlich ins Stadtzentrum. Die Wolfener marschierten ins größere Bitterfeld, wo sie sich mit den dortigen Kollegen vereinigten. Am späten Vormittag kam es auf dem Platz der Jugend in Bitterfeld zu einer Kundgebung mit etwa 30.000 Leuten, etwa soviel, wie Bitterfeld Einwohner hatte. Die Forderungen waren ein regelrechtes Programm aus sozialen, politischen, demokratischen und nationalen Forderungen. Sie reichten von: "Ende der Norm- und Preiserhöhungen", über: "Rücktritt der Ulbricht-Regierung", "Meinungs- und Pressefreiheit " bis zu: "Wahl einer gesamtdeutschen Regierung". Es wurde ein überörtliches Streikkomitee gewählt, das anschließend das Rathaus besetzte und die politische Macht in der Stadt übernahm.
Und dieses Kreisstreikkomitee hat dann den Bürgermeister abgesetzt, hat die Polizei abgesetzt, hat das Gericht besetzt und auch die Stasi-Zentrale vor Ort in Bitterfeld. Und das alles ist abgelaufen ohne Gewalttaten, ohne Verbrechen, ohne Verletzte, ohne Tote.
Das Streikkomitee beriet im Rathaus in öffentlicher Sitzung über das weitere Vorgehen. In der Stadt bestand einige Stunden lang eine Art Doppelherrschaft zwischen Aufständischen und sowjetischer Besatzungsmacht, die erst am Nachmittag eingriff. Interessant waren auch die Vorgänge im Gefängnis. Einige Demonstranten bildeten zusammen mit einem Staatsanwalt und einem Volkspolizisten eine Kommission, die die Häftlingsakten prüfte, ehe sie die Zellentüren für die meisten Inhaftierten öffnete. Diese Darstellung aus Akten der Volkspolizei deckt sich mit den Angaben von Aufständischen sowie sowjetischen Quellen. Die Gefangenenbefreiung war sowohl der Höhepunkt des Aufstandes als auch sein Wendepunkt. Die Stadt und die Betriebe waren allerdings erst nachts gegen 22 Uhr unter Kontrolle der Besatzungsmacht. In den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Widerständen: Unterrichtsboykotte durch Schüler oder Sitzstreiks durch Arbeiter. Und als am 13. Juli der Ausnahmezustand aufgehoben wurde, kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen.
In den wenigen zugänglichen sowjetischen Quellen, z.B. der Militärkommandantur des Kreises Bitterfeld, werden die Ereignisse im Großen und Ganzen genau so geschildert. Unterschiede gibt es z.B. über die Anzahl der Streikenden. Sie ist in den sowjetischen Quellen niedriger als in den offiziellen DDR-Quellen. Auch die Kommandantur wurde von den Streiks überrascht. Sie wies zunächst nur an zu beobachten, aber nicht einzugreifen. Anweisungen zu schießen, finden sich in den Unterlagen nicht. Erst am folgenden Tag wurden vereinzelt Schüsse in die Luft abgegeben. In Bitterfeld gab es insgesamt zwei Tote: ein Mitglied der Streikleitung nahm sich im Gefängnis das Leben; ein Streikteilnehmer wurde eine Woche nach dem Aufstand auf der Flucht erschossen. Berichte über die zur Zeit in Forschungskreisen neu diskutierte Frage nach standrechtlichen Hinrichtungen sowjetischer Soldaten wegen Befehlsverweigerung fänden sich in den sowjetischen Quellen nicht, schreibt der Autor, der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch. Karlsch bezeichnet die sowjetischen Quellen allgemein als sachlich. Allerdings finden sich in ihnen auch Aussagen, wie die des Militärkommandanten von Bitterfeld, Makoveev, der den Aufstand, genau wie die SED, als "von westlichen Geheimdiensten organisierten Putsch" bezeichnete und den Streiks jeglichen politischen Charakter absprach. Autor Karlsch meint, die Analysen der sowjetischen Offiziere würden solche Auslegungen aber ad absurdum führen. Oder auch nicht, kann man entgegenhalten. Vielleicht zeigen sie, dass auch die sowjetischen Quellen tendenziös sein können und hinterfragt werden müssen. Zumal manche russischen Historiker bis heute die 17. Juni-Ereignisse kleinreden. Insgesamt ist die Quellenlage noch eher dürftig. Die zentralen Akten der sowjetischen Besatzungsmacht sind bisher nicht vollständig offen.
Protokollanten der Geschehnisse waren nur diejenigen, gegen die sich der Aufstand richtete und die ihn einen "faschistischen Putschversuch" nannten. Der Aufstand selber hatte keine Chronisten. Die Akteure hielten das Geschehen damals nicht schriftlich fest, schließlich hatten sie zu tun. Viele Aufständische sind bis heute nicht bekannt oder vergessen. Personen, die in einer dramatischen historischen Situation plötzlich eine herausragende Rolle zu spielen begannen und zu Streikführern oder Sprecher des Aufstandes wurden.
Und das alles ist abgelaufen ohne Gewalttaten, ohne Verbrechen, ohne Verletzte, ohne Tote in Bitterfeld. Zu dieser besonderen Qualität, muss man sagen, haben hauptsächlich die Leute beigetragen, die in dem Kreis-Streikkomitee waren.
Leiter des Kreis-Streikkomitees z.B. war Paul Othma, auf den die Geschichts-forschung erst in den 90er Jahren nach dem Ende der DDR stieß. Als Anführer des Aufstandes erhielt Othma die höchste Strafe und saß 11 ½ Jahre in Haft. Er starb 1969. Erst 2002 wurde er rehabilitiert.
Stefanie Wahl hat für die Publikation nach noch lebenden Aufständischen gesucht. Nicht alle wollten über die damaligen Ereignisse reden. Gefunden hat sie u.a. den heute 86-jährigen Wilhelm Fiebelkorn. Er war damals Lehrer in Bitterfeld und wurde zum Sprecher des Kreis-Streikkomitees. Fiebelkorn formulierte die berühmt-gewordenen Telegramme an die DDR-Regierung und die sowjetische Führung in der DDR, die auf eine Pazifizierung der Besatzungsmacht zielten. Auf Fiebelkorns Festnahme waren nach der Niederschlagung 50.000 Mark ausgesetzt. Ihm gelang die Flucht nach West-Berlin.
Auf ein bemerkenswertes Detail im Zusammenhang zwischen Aufstand und Fluchtbewegung in die Bundesrepublik weist Frank Hoffmann in seinem Aufsatz hin. Während die Fluchtbewegung, die im März 1953 ihren Höhepunkt hatte, nach der Niederschlagung des Aufstandes kurioserweise allgemein stark zurückging, nahm der Anteil der Arbeiter an den Flüchtlingen stark zu, von etwa 46 Prozent auf etwa 70 Prozent. In Flucht oder Aufstand sieht Hoffmann zwei alternative Handlungsoptionen des Widerstandes gegen die SED-Diktatur; nebenbei eine Parallele zu den Ereignissen von 1989. Gleichzeitig liefert er ein Argument zum Streit über die Frage: "Arbeiteraufstand oder Volksaufstand?" Wenn nach dem Aufstand hauptsächlich Arbeiter flüchteten, war es dann nicht eher ein Arbeiteraufstand ? Den Bitterfelder Aufstandsführer Wilhelm Fiebelkorn kennt bis heute so gut wie niemand. Denn auch im Westen bekamen die geflohenen Aufständischen keine eigene Stimme in der Öffentlichkeit. – Stefanie Wahl:
In der DDR ohnehin gab es ja dieses verordnete Schweigen, was die private Erinnerung, die subjektive Erinnerung betrifft, aber auch in der Bundesrepublik ist ihnen sehr, sehr wenig Raum gegeben worden zu sprechen, ,(oder sie sind nie gefragt worden danach, nach ihren eigenen Erlebnissen an diesem Tag. Es hat ihn gegeben, er ist instrumentalisiert worden, er ist von verschiedenen politischen Richtungen bespiegelt und besprochen worden, es gab kein Tabu, kein Schweigediktum, aber trotzdem hat es niemanden interessiert. Oder bspw. von einer Zeitung: Die Jahrestage wurden ja begangen in der Bundesrepublik, es ist nie jemand gekommen und hat gesagt: Wie war das eigentlich? Warum sind Sie auf diesen Wagen gestiegen? Warum haben Sie gesprochen?
Aller Rhetorik vom Freiheitskampf im Osten zum Trotz, hielt sich auch im Westen das Interesse an einem Aufstand in der DDR, der die sich gerade etablierende Nachkriegsordnung berührte, in Grenzen. Was blieb, war der Versuch der Vereinnahmung des Aufstandes, seine politische Instrumentalisierung, oder auch seine "staatliche Indienstnahme", wie der Sozialhistoriker Wolfgang Kraushaar die Einrichtung des 17. Juni zum offiziellen Gedenk- und Feiertag in der Bundesrepublik bezeichnet. Kraushaar befasst sich mit den politischen Implikationen und Deutungsveränderungen dieses "Tages der deutschen Einheit" im Laufe der Zeit, Neues kann er allerdings nicht präsentieren. Ähnlich im Aufsatz über den Vergleich der Darstellung des Aufstandes in den Schulbüchern beider deutscher Staaten. Ein weiterer Text des Sammelbandes untersucht die Behandlung des Aufstandes in der DDR-Literatur. Hier fehlt der Vergleich mit dem Westen – und es fehlt ein wesentliches Buch vollkommen: "Die Liebe der toten Männer" von Gerhard Zwerenz. Ein wahrhafter Revolutionsroman über den 17. Juni, den Zwerenz in der DDR begann und dann nach seiner Flucht in der Bundesrepublik beendete und veröffentlichte. Dass so ein Werk selbst von der Forschung übersehen wird, spricht nicht gerade für ihre Qualität. Der Anspruch, den Zusammenhang zwischen Bitterfelder Aufstand und Deutschlandpolitik darzustellen, wie es der Untertitel des Sammelbandes signalisiert, wird auch mit diesen Aufsätzen nicht eingelöst. Sie erscheinen eher beliebig und willkürlich.
Zu den Beliebigkeiten des Buches gehört schließlich die Einleitung von Erich Loest, der den 17. Juni nicht in Bitterfeld, sondern in Berlin und als SED-Mitglied erlebte. Wenn Loest darin unter anderem schreibt, das Ostbüro der SPD habe in der DDR gezündelt, oder: die Arbeiter hätten vor dem Platzregen an jenem Tag gekniffen, weil sie in Hauseingänge flüchteten, anstatt weiterzudemonstrieren, oder: wenn er Einflüsse westlicher Geheimdienste auf das Geschehen sieht, dann sind das immer noch Spurenelemente der einstigen offiziellen SED-Version des Aufstandes. Ein ärgerlicher Text, der umso fragwürdiger erscheint, als die Herausgeber die Publikation gegen die ihrer Meinung nach immer noch lebendige Legende vom "Putschversuch" verstehen, wie Paul Werner Wagner erklärt:
Also es gibt vor Ort noch ne ganze Reihe von Menschen, die ganz massiv an diese SED-Lüge glauben, dass es ein faschistischer Putsch war und dass die Streikführer Faschisten waren.
Eine solche Sicht ist nun allerdings selbst etwas fragwürdig.
Der Bitterfelder Aufstand. Der 17. Juni und die Deutschlandpolitik. Ereignisse - Zeitzeugen - Analysen. Herausgegeben von Stefanie Wahl und Paul Werner Wagner im Leipziger Forum Verlag, 280 Seiten für 18 EUR.