Krisenzeiten ziehen egomanische Welterklärer und religiös verbrämte Heilsverkünder magisch an. Demokratische Spielregeln sind ihnen in der Regel egal. Ihr Geschäft ist es, Aufmerksamkeit zu generieren und Angst zu schüren. Ein Phänomen, das zwar weltweit beobachtet werden kann. Aber ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt: Hier gibt es eine lange Tradition der spirituellen Verschwörungen bis zur heutigen „Querdenker“-Szene.
Eine Kontinuität, so der Kulturwissenschaftler und Journalist Steffen Greiner, die verdient, näher beleuchtet zu werden. In seinem Buch „Die Diktatur der Wahrheit“ spürt er diesen Kontinuitäten nach – von der Weimarer Republik bis zur heutigen Corona-Krise. In der Einleitung heißt es:
„Es gibt eine Geistesgeschichte sozialanarchistischer Strömungen von rechts. Sie manifestieren sich in den frühen Grünen und sie manifestieren sich in den zahlreichen antimodernistischen Tendenzen der historischen Hippies. Die verschiedenen Bewegungen der sogenannten Lebensreform des späten 19. Jahrhunderts sind hier offenbar der Nullpunkt, ein Konglomerat von Strömungen, die bis heute wirken, die sich um die Utopie des guten Lebens drehen, bei Vegetarismus und neue Mode beginnen, aber die Reinheit gleichzeitig dorthin drehen, wo sie bedrohlich wird, wo es darum geht, das Andere draußen zu halten.“
Der Esoteriker Hitler
Von diesem „Nullpunkt“ der sogenannten Lebensreformbewegungen des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts geht der Autor aus. Dabei nimmt er deren exponierte „Führer“-Figuren in den Blick, die sogenannten „Inflationsheiligen“. Sie predigten Naturverbundenheit, Zivilisationsferne, Reinheit der Lebensform, Erlösung durch Askese, gründeten Parteien, Bewegungen und Kommunen.
Aus dieser Ursuppe verschiedener „Lebensrefom“-Strömungen - und das macht für Greiner rückblickend die Brisanz aus - erhob sich schließlich ein überaus erfolgreicher Propagandist, Vegetarier und Reinheitsfanatiker namens Adolf Hitler. Es ist eben diese Katastrophe, so muss man das Buch des Kulturwissenschaftlers lesen, die fast zwangsläufig einen düsteren Schatten auf frühere wie heutige Bewegungen wirft, die sich in diffusen Gegenwelten einrichten und sich den gesellschaftlichen Spielregeln entziehen.
Wiedergänger der „Inflationsheiligen“
Was das Buch interessant macht, ist der Wechsel der Perspektiven und Zeitebenen. Greiner widmet sich zwar etwas zu ausführlich der einstigen Szene der „Inflationsheiligen“, durchbricht aber seine historischen Exkurse immer wieder, um Blick zu nehmen auf heutige Figuren und Hochburgen der aktuellen Querdenkerszene. Wie ein investigativer Reporter schildert Greiner, durchaus subjektiv, seine Touren durch Berliner Bezirke, nach Stuttgart oder Thüringen. Dabei entdeckt er – zum Beispiel ausgehend vom Wanderprediger Gusto Gräser, Mitbegründer der Reformsiedlung am Monte Verità, den einen oder anderen Wiedergänger:
„Auch Querdenken hat einen solchen Wanderer. Nein, nicht Attila Hildmann, der vor der Staatsmacht in die Türkei geflohen ist. Nein, dieser einfache Wanderer heißt Frank der Reisende, lebt vegetarisch, ohne Angst und von Liebe. Auf seiner Webseite fordert er Weltfrieden, Nahrung und Gesundheit für alle, die Heilung aller Wesen und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Er hat ein rechtsradikales Telegram-Netzwerk aus tausenden Gruppen aufgebaut, zu dem auch der Querdenker-Kanal gehört. Er ist mutmaßlicher Unterstützer eines rechten Terrornetzwerks und plant einen rechtsextremen Umsturz.“
Der Unterschied, so Greiner: Die Aktivitäten von Gräser, Haeusser und Co. seien zwar politisch gewesen, aber doch überwiegend kleinbürgerlich reformatorisch. Ihre Spuren zeigten sich in frühen Landkommunen, in den Anfängen des Bauhaus, im Denken Rudolf Steiners, der Gründung der Waldorfschulen, der alternativen Medizin und der auch damals schon vorhandenen Impfgegnerschaft.
Dagegen sei im heutigen Querdenker-Milieu eine „apokalyptisch-revolutionäre Geste“ anzutreffen. Eine Unterscheidung, die nicht so recht überzeugt. Mit apokalyptischen Visionen spielten die Predigten der „Inflationsheiligen“ angesichts der damaligen Wirtschaftskrise auch. Und umstürzlerische Ideen bewegten den einen oder anderen ebenfalls.
Problematische Traditionen
Greiners Hin- und Herschalten als Versuch, eine Epoche in der anderen zu spiegeln, führt leider, insbesondere, was die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, immer mal wieder zu problematischen Verkürzungen. So zitiert er indirekt den Rechtsextremismus-Forscher Andreas Speit, wenn er schreibt, die zweite Lebensreformphase umfasse die 68er- und die Alternativen Bewegungen zwischen 1960 und 1989, die Anti-Atom-Bewegung, die Proteste gegen den Vietnamkrieg und das Entstehen der Grünen.
Es ist ja richtig, dass Alternativ- und Protestbewegungen in der frühen Bundesrepublik so manches Mal Abgrenzungsprobleme hatten, zum Beispiel zu rechtslastigen Esoterikern. Aber was dann doch fehlt, ist eine differenzierte Betrachtung dieser Bewegungen in ihren Abgrenzungen von der NS-Zeit, aber auch von ihren nicht bewältigten Verstrickungen.
Aber vor allen Dingen fehlt der Versuch einer Antwort auf die im Vorspann des Buches gestellte Frage: „(…) welche Brüche sind es, die heute ähnliche Verunsicherung und Hochstimmung auszulösen vermag wie seinerzeit?“
Trotz dieser nicht unbedingt nebensächlichen Kritikpunkte ist Greiners Buch „Die Diktatur der Wahrheit“ mit seinen vielen ineinandergreifenden Erzählungen, Reflexionen und Beobachtungen ein lesenswerter Versuch, dem offensichtlich urdeutschen Phänomen spiritueller Querfronten näherzukommen.
Steffen Greiner: „Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern“
Tropen Verlag, Stuttgart. 272 Seiten, 20 Euro.
Tropen Verlag, Stuttgart. 272 Seiten, 20 Euro.