Am Anfang steht die Frage: Warum dieses Buch zu dieser Zeit? Es habe mit einer "gewissen Verwunderung" darüber zu tun, dass die Annahme aus den 1990er Jahren von einem "Ausschleichen" der Ost-West-Unterschiede so nicht eingetroffen seien, sagt Steffen Mau. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall und somit nach einer - wie er meint - "historisch langen Frist" fand er es an der Zeit, diesem Phänomen soziologisch und biographisch nachzugehen. Die Ausgangslage dafür ist bestens, denn einerseits erforscht Steffen Mau als Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität ohnehin gesellschaftliche Transformationsprozesse. Andererseits stammt er aus der DDR, genauer gesagt aus dem Rostocker Stadtteil Lütten Klein. Auf den nimmt Steffen Mau immer wieder Bezug - ob er nun im ersten Teil des Buches "Leben in der DDR" illustriert oder in Teil zwei die "Transformationen" nach dem DDR-Zusammenbruch.
"Ja, Lütten Klein ist ein Neubaugebiet, wie man damals gesagt hat - heute würde man sagen `Plattenbau`- zwischen Rostock und Warnemünde. Ein sehr großes Ensemble von Neubaugebieten dort; fast 70 Prozent der Rostocker haben in solchen Wohnungen gelebt. Da bin ich aufgewachsen, 1968 geboren und von Anfang an da gelebt. Bis zu meinem 19. Lebensjahr durchgehend. Danach noch mal kurz. Das ist meine Heimat, mein Herkommen. Und dieses Privileg des Wissens darum, wie so ein Ort funktioniert, wie er auch damals funktioniert hat, das wollte ich jetzt auch mal soziologisch ausbeuten."
Es ist ihm gelungen. Steffen Mau erzählt genau so viel aus seinem und dem Erleben anderer Lütten Kleiner und unterlegt die Anekdoten - wo nötig - mit Zahlen, dass daraus ein vielschichtiges Sittengemälde entsteht, ohne den Leser mit Geschwätzigkeit, Larmoyanz oder Fakten zu erschlagen.
DDR konnte Aufstiegsversprechen nicht mehr einhalten
Besonders wohltuend: Wenn es persönlich wird, verschlägt es dem Makrosoziologen Steffen Mau die "Soziologensprache". Auf deren Gebrauch mag er freilich nicht vollständig verzichten. Dennoch bereitet es durchaus Vergnügen, den Mikrokosmos Lütten Klein zu verlassen und sich beim sezierenden Blick auf das, was Leben in der DDR und nach der Wende ausmachte, auf die höhere Abstraktionsebene mitnehmen zu lassen. So wie hier im Kapitel "Soziale Nivellierung und blockierte Mobilität":
"Ende der achtziger Jahre war die DDR eine mobilitätsblockierte Gesellschaft, in der nicht nur viele Arbeiterkinder erfahren mussten, dass das Aufstiegsversprechen uneingelöst blieb; auch viele Sprösslinge aus Akademikerhaushalten erkannten, dass sie im Flaschenhals zum Hochschulzugang stecken blieben. Die einst kräftigen Mobilitätsströme erlahmten zusehends, die in höhere Positionen aufgestiegene Gründergeneration lag wie eine Bleiplatte über denen, die nachfolgen sollten."
Damit kratzt Steffen Mau beträchtlich an dem Bild der DDR als zwar ideologiebehaftetes, aber bildungshungriges Land, das vor allem Mitgliedern der zunehmend großzügig definierten Arbeiterklasse alle Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Doch widerspricht sein Befund nicht der damaligen Alltagserfahrung? So mancher leistungsstarke Oberschüler gerade aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien mochte sich nämlich weder Abitur noch Studium antun, nur um irgendwann einmal als Angehöriger der "sozialistischen Intelligenz" ein Gehalt nach Hause zu tragen, über das die gleichaltrigen Fach- und Schichtarbeiter nur müde lächelten.
"Das ist alles nicht falsch. Aber die DDR ist eben das einzige industrialisierte Land der damaligen Zeit gewesen, das zwischen 1970 und 1989 die Zahl der Studierenden gedrosselt hat. Und zwar bezogen auf die einzelnen Jahrgänge sogar relativ stark. Das ist ein Grund neben der wirtschaftlichen und politischen Erschöpfung der DDR, dass so etwas wie eine Mobilitätsblockade entstand und letzten Endes auch einen Beitrag dafür geleistet hat, dass sie unterging, weil sie diese Aufstiegsaspiration, die sie in der Frühzeit sehr, sehr gut hat bedienen können, nun nicht mehr bedienen konnte."
Das Deutsch-Sein in DDR
Natürlich kann nicht alles neu sein, was Steffen Mau über das "Leben in der DDR" und im zweiten Teil über die "Transformationen" nach Zusammenbruch und Beitritt zur Bundesrepublik schreibt. Doch vor allem die Herleitung der einen oder anderen These liest sich außerordentlich spannend. Nicht jedem dürfte bewusst sein, dass die DDR einen deutlich unbefangeneren Umgang mit dem Deutsch-Sein entwickelte als die Bundesrepublik mit ihrer 68er-Bewegung. "Das Identitätskonzept der DDR war trotz des propagierten Internationalismus ein durch und durch nationales: Man war DDR-Deutscher, wohnhaft im ‚ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden‘".
Nicht jeder fühlte sich gemeint, als Kanzler Helmut Kohl unmittelbar nach dem Mauerfall die DDR-Bürger als "Landsleute" ansprach. Doch viele schon nach dem Motto "Deutschland, einig Vaterland". "Ich glaube, dass diese starke nationale Neigung sowohl in der DDR wie auch im Zuge der Wiedervereinigung durchaus Echoeffekte auf die heutige Zeit hat", sagt Steffen Mau und meint damit unter anderem die ausgeprägte Neigung vieler Ostdeutscher mit Wendeerfahrung, wenigstens das Deutsch-Sein als Teil ihrer Identität vor weiteren gravierenden Veränderungen zu bewahren. Etwa wenn kulturfremde Menschen in Größenordnungen in die eigene Lebenswelt migrieren. Mit einer Bewertung des AfD-Erfolges im Osten hält sich Steffen Mau zurück, das ist klug. Ebenso klug ist, dass er Verständnis für eine der Ursachen durchblicken lässt:
"Im gegenwärtigen politischen Diskurs haben die rechten Populisten […] ein Angebot in der Tasche, das kaum zu schlagen zu sein scheint, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet. Sie sagen: ‚Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen!‘ Die Liberalen, egal ob Marktliberale oder aufgeklärte Kosmopoliten, haben hingegen eine andere Botschaft: ‚Du musst dich ändern, um dich an eine sich wandelnde Welt anzupassen!‘ […] Das kann den Aufruf beinhalten, sich für den Markt zu optimieren, aber auch die Aufforderung, traditionelle Werte abzustreifen und sich auf eine diverser werdende Kultur einzulassen. In einer Teilgesellschaft wie der ostdeutschen, die in den zurückliegenden dreißig Jahren einen regelrechten Transformationsgalopp durchgemacht hat, trifft diese Botschaft auf Erschöpfung, auf eine Haltung des ‚Nicht schon wieder‘."
Steffen Mau: "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft",
Suhrkamp, 286 Seiten, 22 Euro.
Suhrkamp, 286 Seiten, 22 Euro.