Dirk Müller: Fast abgeschlagen liegt sie da, fast am Boden, die SPD in den jüngsten Umfragen, viele, viele Punkte hinter der Union jedenfalls. Darüber hinaus rückt der auserkorene Juniorpartner, die Grünen, wieder näher heran an die Traditionspartei der sozialen Gerechtigkeit. In ein paar Stunden will die Führungsriege der Sozialdemokraten ihr Regierungsprogramm für den Wahlkampf unter Dach und Fach bringen - ein Regierungsprogramm, das auch ganz viel ein Steinbrück-Programm sein muss, denn er soll die Wähler damit schließlich überzeugen. Eine Agenda 2020 möglicherweise, wie sie Gerhard Schröder gefordert hat. Das wird eine der entscheidenden Fragen sein. - Am Telefon ist nun Ralf Stegner, SPD-Chef von Schleswig-Holstein und bekennender Linker in seiner Partei. Guten Morgen!
Ralf Stegner: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Stegner, bevor das ganz politisch wird, eine Frage: Wie groß sind Sie?
Stegner: 1,78 Meter.
Müller: Dann hören wir mal, ob Sie damit gemeint sind, was Rainer Brüderle gestern gesagt hat.
O-Ton Rainer Brüderle: "Wir lassen uns nicht verbiegen! Wir haben seit Jahrzehnten für die Freiheit gekämpft! Wir haben Deutschland zusammen geprägt! Wir überlassen nicht diesen Futzis, diesen fehlprogrammierten Typen unser Land. Dafür kämpfen wir jeden Tag, jede Stunde bis zum 22. September. Auf in den Kampf!"
Müller: Auf in den Kampf! - Hat Ihnen das ein bisschen Angst gemacht?
Stegner: [lacht laut] Nein, nun wirklich nicht. Die FDP ist die Partei der großen Sprüche und bei vier Prozent in den Umfragen muss man ja auch ein bisschen lauter sein. Wenn das Zukunftsangebot der FDP Rösler und Brüderle heißt, also da muss man wirklich keine Angst vor haben, und wenn man die Regierungsbilanz ansieht von Schwarz-Gelb, schon gar nicht. Also insofern: Dass die laut tönen, das verstehe ich schon. Aber die Wiederwahl von Schwarz-Gelb ist weit, weit, weit entfernt. Überall, wo die antreten gemeinsam, werden sie abgewählt, und das wird auch bei der Bundestagswahl so sein.
Müller: Und mit den Futzis kann man umgehen in der Politik?
Stegner: Na ja, also wir haben ja auch einen Spitzenkandidaten, der durchaus sich manchmal kräftig ausdrückt, wenn ich an seine Bemerkung zu Berlusconi denke, wobei er da durchaus Recht hatte. Also insofern meine ich: Deutliche Sprache in der Politik schadet nicht.
Müller: Wie oft hat Peer Steinbrück denn nicht Recht?
Stegner: Na ja, inhaltlich habe ich durchaus an der einen oder anderen Stelle eine andere Meinung. Aber der Punkt ist schon, dass ich glaube, dass die Menschen am Ende honorieren, wenn man klar seine Meinung sagt, und wir werden das auch brauchen gegen Frau Merkel, die ja so ein bisschen versucht, die Bürger einzuschläfern, dass sie möglichst gar nicht zur Wahl gehen, sie klaut unsere Begriffe, und da müssen wir schon einen haben, der sagt, liebe Leute, wenn da Mindestlohn auf der Flasche draufsteht, wie bei der CDU auch, muss aber auch Mindestlohn drin sein wie bei uns, 8,50 Euro als Untergrenze, und nicht wie bei Frau Merkel 4,15 Euro für die ostdeutsche Friseurin. Das muss man deutlich machen, da muss man klare Kannte zeigen im Wahlkampf, das kann Peer Steinbrück gut und insofern passt er auch sehr gut in unsere Wahlkampfstrategie hinein.
Müller: Vertritt Ihr Spitzenkandidat Ihre Meinung in allen Fragen?
Stegner: Nein, das tut er natürlich nicht. Aber das tut in der SPD vermutlich niemand. Wir sind eine große Volkspartei mit unterschiedlichen Auffassungen und Details. Aber wer die SPD beobachtet hat in den letzten Monaten, der wird festgestellt haben, dass wir ein unheimlich großes Maß an Geschlossenheit entwickelt haben und dazu eine Strategie, die sagt, wir müssen über beide Flügel spielen, den linken und den rechten Flügel, und aufs gegnerische Tor schießen. Und das tun wir mit einem Programm, was eben für Fortschritt und Gerechtigkeit steht, und hinter dem steht Peer Steinbrück und ein Team aus Frauen und Männern, das wir auch brauchen, um zu gewinnen. Denn anders als die Union sind wir keine Einpersonenveranstaltung, und deswegen, glaube ich, ist es sehr zuversichtlich und auch berechtigt, wenn man sagt, noch ist das längst nicht entschieden, auch wenn die Umfragen noch besser werden können.
Müller: Viele, ganz viele, auch die Kanzlerin, loben die Agenda 2010, auch Hartz IV, nur Sie nicht. Warum?
Stegner: Also was die Agenda 2010 angeht, muss man sagen, waren ja die rot-grünen Sozialreformen in weiten Teilen richtig. Was nicht richtig gewesen ist, ist, dass wir die Entwertung von Arbeit zugelassen haben. Das haben wir korrigiert in den letzten Wochen, Leiharbeit einzudämmen, dafür zu sorgen, dass prekäre Beschäftigung wieder abgebaut wird, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können. Richtig ist aber, dass Reformen notwendig sind, und wir werden auch in den nächsten Jahren eine neue Reformanstrengung brauchen, zum Beispiel für Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel dafür, dass endlich Bildung Vorrang hat, dass wir aufhören mit dem Aussortieren. Zum Beispiel mit einer Familienpolitik, die nicht weiterhin die wohlhabenden Familien privilegiert, sondern dass jedes Kind dem Staat gleich viel wert ist, zum Beispiel mit einer modernen Integrationspolitik, die mit Menschen, die zu uns kommen, ordentlich umgeht, und vieles andere mehr. Eine solche Reformagenda wird nur eine sozialdemokratisch geführte Regierung gemeinsam mit den Grünen hinbekommen.
Müller: Herr Stegner, wenn Sie jetzt zum Beispiel Kündigungsschutz wieder ein bisschen rückgängig machen wollen, wenn Sie Leiharbeit, die Ausweitung der Leiharbeit als eine Folge unter anderem der Agenda 2010 wieder rückgängig machen, dann kann man insgesamt doch sagen, Sie machen die Agenda 2010 wieder rückgängig.
Stegner: Nein, das kann man nicht. Man kann nur sagen, dass wir den Teil, der in der Praxis gezeigt hat, dass er von Unternehmen zum Beispiel missbraucht worden ist, und den Teil, wo es Unwuchten gegeben hat, dass wir das korrigieren. Aber insgesamt geht es in eine Richtung, die eben zum Ausdruck bringt, dass die Mehrheit der Menschen mit ihren Alltagsproblemen ernst genommen wird. Wir müssen dafür sorgen, dass man Wohnen bezahlen kann, dass man den Strom bezahlen kann und dass wir voran kommen mit einem Land, das eben nicht auf Dumping und Billiglöhne setzt - damit kann man nämlich nicht konkurrenzfähig sein -, sondern das davon ausgeht, dass die, die den Reichtum erwirtschaften, den wir haben, auch was davon haben.
Und nebenbei bemerkt: unsere Sozialsysteme werden auch nur stabil sein, ob das Gesundheit, ob das Pflege, ob das Rente ist, wenn die Menschen ordentlich verdienen. Das ist die Basis dafür. Wir können also nicht zulassen, dass Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, und Sie sehen ja selbst: die Bundesregierung muss den Bericht schon schönen, um in der Öffentlichkeit nicht total blamiert dazustehen. Also ich glaube, da haben wir durchaus den richtigen Ansatz.
Müller: Reden wir doch noch einmal über dieses Thema Mindestlohn. Da gibt es immer noch Unterschiede. Aber immerhin: Union und FDP nähern sich insgesamt jedenfalls dieser Politik auch an. Reden wir über diesen berühmten Fall Ostdeutschland, eine Friseurin, drei Euro. Jetzt fordern Sie 8,50 Euro, 9,50 Euro, je nachdem, wie viel es wird. Kann das sein, dass ein so "hoher" Lohn, jedenfalls im Vergleich zum Ausgangsniveau, drei Euro, 8,50 Euro, 9,50 Euro, Arbeitsplätze gefährden wird?
Stegner: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen und von Mindestlöhnen zu reden, wo sie es gar nicht sind. Wo liegt denn eigentlich der Vorteil, wenn wir jemanden mit 3,50 Euro, vier Euro bezahlen und der Rest muss über Sozialtransfers kommen? Kein Mensch fährt nach Polen zum Haare schneiden, weil bei uns angeblich die Löhne zu hoch sind.
Müller: Dann freut sich der Unternehmer, der hat Geld gespart.
Stegner: Nein. Das mag so sein, aber soziale Marktwirtschaft heißt nicht, dass der Staat Dumpinglöhne subventioniert, sondern dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können, am besten übrigens auch Steuern und Beiträge bezahlen und nicht auf Sozialtransfers angewiesen sind. Das ist nicht nur gerechter, sondern das ist auch volkswirtschaftlich vernünftiger. Da ist die SPD die Partei der sozialen Marktwirtschaft und Schwarz-Gelb die Parteien von staatlicher Misswirtschaft, wenn sie Dumpinglöhne befürworten.
Müller: Also es gehen keine Arbeitsplätze verloren?
Stegner: Nein! Das zeigt doch der ganze europäische Vergleich. Überall gibt es Mindestlöhne und nirgendwo gehen da Arbeitsplätze verloren. Das ist Propaganda von Schwarz-Gelb und teilweise von Unternehmensverbänden und die muss man zurückweisen.
Müller: Steigt nicht überall die Arbeitslosigkeit im Rest Europas?
Stegner: Das ist richtig, weil es teilweise an Maßnahmen fehlt, die für Wachstum und Beschäftigung sind. Da ist übrigens auch die SPD besser als die Union, wenn Sie bedenken, was wir in der Großen Koalition durchgesetzt haben.
Frau Merkel will in Europa einen Kurs, der eben nicht in Wachstum investiert, und schon haben wir Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Spanien von über 50 Prozent. Also auch da gilt es, Impulse zu setzen für Wachstum und Beschäftigung. Das will nur die SPD oder Rot-Grün und insofern ist auch dieses notwendig, einen Wechsel nicht nur in Deutschland hinzukriegen, sondern wenn es geht auch anderswo.
Müller: Höhere Steuern für die Reichen, ist das für die SPD, auch für Peer Steinbrück ausgemachte Sache?
Stegner: Selbstverständlich! Wir brauchen einen höheren Spitzensteuersatz, wir brauchen eine höhere Belastung von den höchsten Vermögen, damit wir die nötigen Bildungsinvestitionen auch finanzieren können. Man kann den Bürgern doch nicht ein X für ein U vormachen. Die FDP sagt, wir müssen die Steuern nicht erhöhen; was kommt am Ende dabei heraus, dass es an Geld fehlt für Infrastruktur und für Bildung. Da sind wir ehrlicher vor der Wahl. Und nebenbei bemerkt: das können die, die ganz hohe Einkommen und Vermögen haben, sich auch leisten. Das ist nicht Neid, sondern das ist ein Stück sozialer Patriotismus, den wir in Deutschland dringend wieder brauchen.
Müller: Kann man, Herr Stegner, Wahlen gewinnen als Steuererhöhungspartei?
Stegner: Ich glaube, man kann Wahlen gewinnen mit Ehrlichkeit. Die meisten Menschen wissen, dass man das braucht, um in Bildung zu investieren, um in Familien, um in Verkehrsinfrastruktur zu investieren. Aber schauen Sie: Die Bundesregierung, die schmeißt Geld raus für dieses Betreuungsgeld, für die Kita-Fernhalte-Prämie. Dafür haben die Milliarden übrig. Das zeigt doch, dass das ein vorgeschobenes Argument ist. Ich glaube, wir müssen uns anders aufstellen, und die Bürger sind mit ehrlichen und klaren Argumenten vor der Wahl durchaus zu überzeugen.
Müller: Was erwarten wir bei der Rente mit 67? Machen Sie da mit, wenn die SPD übernehmen sollte?
Stegner: Nein. Wir können das Renteneintrittsalter nicht erhöhen, wenn mehr als die Hälfte der über 60-Jährigen gar keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, denn dann läuft das auf eine Rentenkürzung hinaus. Und schauen Sie: Die Union kommt mit einer Lebensleistungsrente, so nennt das Frau von der Leyen. Das ist ein schlechter Scherz, das ist kaum über der Sozialhilfegrenze.
Wir müssen dafür sorgen, dass einer ordentlichen Arbeit auch Respekt vor Lebensleistung in der Weise folgt, dass die Menschen eine ordentliche Rente bekommen, und das können wir auch finanzieren, wenn wir ordentliche Löhne haben. Da sehen Sie: es hängt alles miteinander zusammen. Gute Löhne, dem folgen auch ordentliche Renten, das haben die Menschen auch verdient. Das ist kein Almosen, eine ordentliche Rente, sondern das ist Respekt für Lebensleistung.
Müller: Dann haben sich Steinmeier und Müntefering deutlich geirrt?
Stegner: Nein! Wir haben in Teilen auch da festgestellt, dass es eben so ist, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sich so entwickelt hat, dass wir ganz viel prekäre Beschäftigung haben, und dem folgen dann Armutsrenten und das geht einfach nicht. Wir müssen dafür sorgen - und ich finde, das sollte die Eintrittsbedingung für die SPD in jede Regierung sein -, dass wir flächendeckende Mindestlöhne haben, dass prekäre Beschäftigung überwunden wird und dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. Das sind die drei Vorausbedingungen und dann funktionieren auch die Sozialsysteme und gerechter ist es auch.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Ralf Stegner, SPD-Chef von Schleswig-Holstein. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Stegner: Gerne! Tschüss, Herr Müller.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralf Stegner: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Stegner, bevor das ganz politisch wird, eine Frage: Wie groß sind Sie?
Stegner: 1,78 Meter.
Müller: Dann hören wir mal, ob Sie damit gemeint sind, was Rainer Brüderle gestern gesagt hat.
O-Ton Rainer Brüderle: "Wir lassen uns nicht verbiegen! Wir haben seit Jahrzehnten für die Freiheit gekämpft! Wir haben Deutschland zusammen geprägt! Wir überlassen nicht diesen Futzis, diesen fehlprogrammierten Typen unser Land. Dafür kämpfen wir jeden Tag, jede Stunde bis zum 22. September. Auf in den Kampf!"
Müller: Auf in den Kampf! - Hat Ihnen das ein bisschen Angst gemacht?
Stegner: [lacht laut] Nein, nun wirklich nicht. Die FDP ist die Partei der großen Sprüche und bei vier Prozent in den Umfragen muss man ja auch ein bisschen lauter sein. Wenn das Zukunftsangebot der FDP Rösler und Brüderle heißt, also da muss man wirklich keine Angst vor haben, und wenn man die Regierungsbilanz ansieht von Schwarz-Gelb, schon gar nicht. Also insofern: Dass die laut tönen, das verstehe ich schon. Aber die Wiederwahl von Schwarz-Gelb ist weit, weit, weit entfernt. Überall, wo die antreten gemeinsam, werden sie abgewählt, und das wird auch bei der Bundestagswahl so sein.
Müller: Und mit den Futzis kann man umgehen in der Politik?
Stegner: Na ja, also wir haben ja auch einen Spitzenkandidaten, der durchaus sich manchmal kräftig ausdrückt, wenn ich an seine Bemerkung zu Berlusconi denke, wobei er da durchaus Recht hatte. Also insofern meine ich: Deutliche Sprache in der Politik schadet nicht.
Müller: Wie oft hat Peer Steinbrück denn nicht Recht?
Stegner: Na ja, inhaltlich habe ich durchaus an der einen oder anderen Stelle eine andere Meinung. Aber der Punkt ist schon, dass ich glaube, dass die Menschen am Ende honorieren, wenn man klar seine Meinung sagt, und wir werden das auch brauchen gegen Frau Merkel, die ja so ein bisschen versucht, die Bürger einzuschläfern, dass sie möglichst gar nicht zur Wahl gehen, sie klaut unsere Begriffe, und da müssen wir schon einen haben, der sagt, liebe Leute, wenn da Mindestlohn auf der Flasche draufsteht, wie bei der CDU auch, muss aber auch Mindestlohn drin sein wie bei uns, 8,50 Euro als Untergrenze, und nicht wie bei Frau Merkel 4,15 Euro für die ostdeutsche Friseurin. Das muss man deutlich machen, da muss man klare Kannte zeigen im Wahlkampf, das kann Peer Steinbrück gut und insofern passt er auch sehr gut in unsere Wahlkampfstrategie hinein.
Müller: Vertritt Ihr Spitzenkandidat Ihre Meinung in allen Fragen?
Stegner: Nein, das tut er natürlich nicht. Aber das tut in der SPD vermutlich niemand. Wir sind eine große Volkspartei mit unterschiedlichen Auffassungen und Details. Aber wer die SPD beobachtet hat in den letzten Monaten, der wird festgestellt haben, dass wir ein unheimlich großes Maß an Geschlossenheit entwickelt haben und dazu eine Strategie, die sagt, wir müssen über beide Flügel spielen, den linken und den rechten Flügel, und aufs gegnerische Tor schießen. Und das tun wir mit einem Programm, was eben für Fortschritt und Gerechtigkeit steht, und hinter dem steht Peer Steinbrück und ein Team aus Frauen und Männern, das wir auch brauchen, um zu gewinnen. Denn anders als die Union sind wir keine Einpersonenveranstaltung, und deswegen, glaube ich, ist es sehr zuversichtlich und auch berechtigt, wenn man sagt, noch ist das längst nicht entschieden, auch wenn die Umfragen noch besser werden können.
Müller: Viele, ganz viele, auch die Kanzlerin, loben die Agenda 2010, auch Hartz IV, nur Sie nicht. Warum?
Stegner: Also was die Agenda 2010 angeht, muss man sagen, waren ja die rot-grünen Sozialreformen in weiten Teilen richtig. Was nicht richtig gewesen ist, ist, dass wir die Entwertung von Arbeit zugelassen haben. Das haben wir korrigiert in den letzten Wochen, Leiharbeit einzudämmen, dafür zu sorgen, dass prekäre Beschäftigung wieder abgebaut wird, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können. Richtig ist aber, dass Reformen notwendig sind, und wir werden auch in den nächsten Jahren eine neue Reformanstrengung brauchen, zum Beispiel für Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel dafür, dass endlich Bildung Vorrang hat, dass wir aufhören mit dem Aussortieren. Zum Beispiel mit einer Familienpolitik, die nicht weiterhin die wohlhabenden Familien privilegiert, sondern dass jedes Kind dem Staat gleich viel wert ist, zum Beispiel mit einer modernen Integrationspolitik, die mit Menschen, die zu uns kommen, ordentlich umgeht, und vieles andere mehr. Eine solche Reformagenda wird nur eine sozialdemokratisch geführte Regierung gemeinsam mit den Grünen hinbekommen.
Müller: Herr Stegner, wenn Sie jetzt zum Beispiel Kündigungsschutz wieder ein bisschen rückgängig machen wollen, wenn Sie Leiharbeit, die Ausweitung der Leiharbeit als eine Folge unter anderem der Agenda 2010 wieder rückgängig machen, dann kann man insgesamt doch sagen, Sie machen die Agenda 2010 wieder rückgängig.
Stegner: Nein, das kann man nicht. Man kann nur sagen, dass wir den Teil, der in der Praxis gezeigt hat, dass er von Unternehmen zum Beispiel missbraucht worden ist, und den Teil, wo es Unwuchten gegeben hat, dass wir das korrigieren. Aber insgesamt geht es in eine Richtung, die eben zum Ausdruck bringt, dass die Mehrheit der Menschen mit ihren Alltagsproblemen ernst genommen wird. Wir müssen dafür sorgen, dass man Wohnen bezahlen kann, dass man den Strom bezahlen kann und dass wir voran kommen mit einem Land, das eben nicht auf Dumping und Billiglöhne setzt - damit kann man nämlich nicht konkurrenzfähig sein -, sondern das davon ausgeht, dass die, die den Reichtum erwirtschaften, den wir haben, auch was davon haben.
Und nebenbei bemerkt: unsere Sozialsysteme werden auch nur stabil sein, ob das Gesundheit, ob das Pflege, ob das Rente ist, wenn die Menschen ordentlich verdienen. Das ist die Basis dafür. Wir können also nicht zulassen, dass Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, und Sie sehen ja selbst: die Bundesregierung muss den Bericht schon schönen, um in der Öffentlichkeit nicht total blamiert dazustehen. Also ich glaube, da haben wir durchaus den richtigen Ansatz.
Müller: Reden wir doch noch einmal über dieses Thema Mindestlohn. Da gibt es immer noch Unterschiede. Aber immerhin: Union und FDP nähern sich insgesamt jedenfalls dieser Politik auch an. Reden wir über diesen berühmten Fall Ostdeutschland, eine Friseurin, drei Euro. Jetzt fordern Sie 8,50 Euro, 9,50 Euro, je nachdem, wie viel es wird. Kann das sein, dass ein so "hoher" Lohn, jedenfalls im Vergleich zum Ausgangsniveau, drei Euro, 8,50 Euro, 9,50 Euro, Arbeitsplätze gefährden wird?
Stegner: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen und von Mindestlöhnen zu reden, wo sie es gar nicht sind. Wo liegt denn eigentlich der Vorteil, wenn wir jemanden mit 3,50 Euro, vier Euro bezahlen und der Rest muss über Sozialtransfers kommen? Kein Mensch fährt nach Polen zum Haare schneiden, weil bei uns angeblich die Löhne zu hoch sind.
Müller: Dann freut sich der Unternehmer, der hat Geld gespart.
Stegner: Nein. Das mag so sein, aber soziale Marktwirtschaft heißt nicht, dass der Staat Dumpinglöhne subventioniert, sondern dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können, am besten übrigens auch Steuern und Beiträge bezahlen und nicht auf Sozialtransfers angewiesen sind. Das ist nicht nur gerechter, sondern das ist auch volkswirtschaftlich vernünftiger. Da ist die SPD die Partei der sozialen Marktwirtschaft und Schwarz-Gelb die Parteien von staatlicher Misswirtschaft, wenn sie Dumpinglöhne befürworten.
Müller: Also es gehen keine Arbeitsplätze verloren?
Stegner: Nein! Das zeigt doch der ganze europäische Vergleich. Überall gibt es Mindestlöhne und nirgendwo gehen da Arbeitsplätze verloren. Das ist Propaganda von Schwarz-Gelb und teilweise von Unternehmensverbänden und die muss man zurückweisen.
Müller: Steigt nicht überall die Arbeitslosigkeit im Rest Europas?
Stegner: Das ist richtig, weil es teilweise an Maßnahmen fehlt, die für Wachstum und Beschäftigung sind. Da ist übrigens auch die SPD besser als die Union, wenn Sie bedenken, was wir in der Großen Koalition durchgesetzt haben.
Frau Merkel will in Europa einen Kurs, der eben nicht in Wachstum investiert, und schon haben wir Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Spanien von über 50 Prozent. Also auch da gilt es, Impulse zu setzen für Wachstum und Beschäftigung. Das will nur die SPD oder Rot-Grün und insofern ist auch dieses notwendig, einen Wechsel nicht nur in Deutschland hinzukriegen, sondern wenn es geht auch anderswo.
Müller: Höhere Steuern für die Reichen, ist das für die SPD, auch für Peer Steinbrück ausgemachte Sache?
Stegner: Selbstverständlich! Wir brauchen einen höheren Spitzensteuersatz, wir brauchen eine höhere Belastung von den höchsten Vermögen, damit wir die nötigen Bildungsinvestitionen auch finanzieren können. Man kann den Bürgern doch nicht ein X für ein U vormachen. Die FDP sagt, wir müssen die Steuern nicht erhöhen; was kommt am Ende dabei heraus, dass es an Geld fehlt für Infrastruktur und für Bildung. Da sind wir ehrlicher vor der Wahl. Und nebenbei bemerkt: das können die, die ganz hohe Einkommen und Vermögen haben, sich auch leisten. Das ist nicht Neid, sondern das ist ein Stück sozialer Patriotismus, den wir in Deutschland dringend wieder brauchen.
Müller: Kann man, Herr Stegner, Wahlen gewinnen als Steuererhöhungspartei?
Stegner: Ich glaube, man kann Wahlen gewinnen mit Ehrlichkeit. Die meisten Menschen wissen, dass man das braucht, um in Bildung zu investieren, um in Familien, um in Verkehrsinfrastruktur zu investieren. Aber schauen Sie: Die Bundesregierung, die schmeißt Geld raus für dieses Betreuungsgeld, für die Kita-Fernhalte-Prämie. Dafür haben die Milliarden übrig. Das zeigt doch, dass das ein vorgeschobenes Argument ist. Ich glaube, wir müssen uns anders aufstellen, und die Bürger sind mit ehrlichen und klaren Argumenten vor der Wahl durchaus zu überzeugen.
Müller: Was erwarten wir bei der Rente mit 67? Machen Sie da mit, wenn die SPD übernehmen sollte?
Stegner: Nein. Wir können das Renteneintrittsalter nicht erhöhen, wenn mehr als die Hälfte der über 60-Jährigen gar keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, denn dann läuft das auf eine Rentenkürzung hinaus. Und schauen Sie: Die Union kommt mit einer Lebensleistungsrente, so nennt das Frau von der Leyen. Das ist ein schlechter Scherz, das ist kaum über der Sozialhilfegrenze.
Wir müssen dafür sorgen, dass einer ordentlichen Arbeit auch Respekt vor Lebensleistung in der Weise folgt, dass die Menschen eine ordentliche Rente bekommen, und das können wir auch finanzieren, wenn wir ordentliche Löhne haben. Da sehen Sie: es hängt alles miteinander zusammen. Gute Löhne, dem folgen auch ordentliche Renten, das haben die Menschen auch verdient. Das ist kein Almosen, eine ordentliche Rente, sondern das ist Respekt für Lebensleistung.
Müller: Dann haben sich Steinmeier und Müntefering deutlich geirrt?
Stegner: Nein! Wir haben in Teilen auch da festgestellt, dass es eben so ist, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sich so entwickelt hat, dass wir ganz viel prekäre Beschäftigung haben, und dem folgen dann Armutsrenten und das geht einfach nicht. Wir müssen dafür sorgen - und ich finde, das sollte die Eintrittsbedingung für die SPD in jede Regierung sein -, dass wir flächendeckende Mindestlöhne haben, dass prekäre Beschäftigung überwunden wird und dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. Das sind die drei Vorausbedingungen und dann funktionieren auch die Sozialsysteme und gerechter ist es auch.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Ralf Stegner, SPD-Chef von Schleswig-Holstein. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Stegner: Gerne! Tschüss, Herr Müller.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.