561 Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 wurden heute vom Robert Koch-Institut gemeldet - deutlich weniger als am Freitag, als der Wert sich bei 1.400 Neuansteckungen bewegte. Dass die Zahlen zu Beginn der Woche immer etwas niedriger sind, liegt am Meldeverzug der Gesundheitsämter am Wochenende. Zählt man hingegen die Werte über den Zeitraum von sieben Tagen zusammen, dann wird deutlich, dass die Zahl der Neuinfektionen deutlich gestiegen ist. Dirk Brockmann, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Epidemiologe am Robert Koch-Institut erklärt, wie wir uns am besten vor einer zweiten Welle schützen können.
Zahl der Fälle hat zugenommen
Arndt Reuning: Herr Brockmann, die Zahlen der Neuinfektionen haben zugenommen, aber wir betrachten immer die absoluten Zahlen. Müsste man die nicht im Kontext sehen mit der Anzahl der Tests - denn die ist ja ebenfalls angestiegen?
Dirk Brockmann: Also generell: Sofern die Anzahl der Tests in etwa konstant bleibt, kann man schon auch die absoluten Zahlen anschauen. Aber Fakt ist, auch unabhängig davon, dass man mehr testet, dass die Anzahl der Fälle, also die Kurve, der Zeitverlauf, dass das zunimmt in den letzten Wochen, das hatte weniger etwas mit der Zunahme der Tests zu tun als mit der Tatsache, dass tatsächlich neue Fälle auftreten.
Reuning: Und beunruhigt Sie das als Epidemiologe, dass immer mehr von diesen neuen Fällen entdeckt werden?
Brockmann: Mich beunruhigt das schon stark, weil wir ja auch jetzt von, sagen wir mal, Mai bis Anfang Juli konstante Fallzahlen von um die 500 hatten. Mal abgesehen von diesem Meldeverzug und den wöchentlichen Schwankungen, die da so drin sind in den Zahlen, sieht man schon im Juli einen signifikanten Anstieg. Und der muss irgendwo herrühren, und darüber muss man sich als Modellierer - was wir ja sind, was wir machen - Gedanken machen: Woher kommt das eigentlich?
Fallzahlen am kritischen Wert machen Vorhersagen schwierig
Reuning: Sie berechnen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten mit mathematischen Modellen. Was sagen denn diese Modelle aus über die Richtung, in die sich die Epidemie in Deutschland in den nächsten Wochen bewegen könnte?
Brockmann: Das ist eine sehr gute Frage, vielleicht ein bisschen die Gretchenfrage für die Modellierer. Wenn man sich den Fallverlauf vom Anfang des Jahres bis jetzt anschaut, dann hat man einen klassischen epidemiologischen Peak gehabt und ein Abflauen der ganzen Sache. Dann hat sich über einen langen Zeitraum diese Pandemie gerade so an einem kritischen Wert eingependelt. Es ist nicht unter diesem Wert, dann würde die Epidemie einfach verschwinden, es ist aber auch nicht drüber, was zu einem exponentiellen Anstieg der Fallzahlen führen würden. Es pendelt sich genau an diesem kritischen Wert ein. Das ist so ein Gleichgewicht, aber ein instabiles Gleichgewicht.
Und in diesem Gleichgewicht können Modelle nur sehr schwer prognostizieren, was als Nächstes passiert. Was Modelle machen können, ist, verschiedene Szenarien, die passieren könnten, berechnen. Kommt es zum Beispiel zu einer zweiten Welle, also wieder zu einem exponentiell starken Anstieg und dann wieder zu einem Abflauen oder wird sich das wieder so einpendeln. Es gibt verschiedene Szenarien, die Modelle berechnen, die qualitativ sehr unterschiedlich sind. Aber welches dann eintrifft, können Modelle nicht sagen.
"Geduldig sein und weiter diszipliniert verhalten"
Reuning: Welche Maßnahmen müssten denn Ihrer Ansicht nach ergriffen werden, um die Neuinfektionen wieder einzudämmen?
Brockmann: Was offenbar sehr gut funktioniert, das hat jetzt die ganze Dynamik der letzten Monate gezeigt, ist, dass Ansteckungsrisiko durch Gesichtsschutz und diszipliniertes Verhalten in der Bevölkerung sehr stark eingedämmt werden kann. Das Beste, was wir machen können, ist, geduldig zu sein und uns immer noch weiter so diszipliniert zu verhalten und auch ganz individuell, jede Bürgerin und jeder Bürger, sich fragen: Kann ich jetzt schon lockern, obwohl ich vielleicht jemanden kenne, der erkrankt ist? Und die Fallzahl von 500 pro 80 Millionen Einwohner ist ja auch eine sehr geringe Fallzahl. Dennoch muss man sich immer wieder in den Kopf rufen, dass es sich um eine Pandemie handelt, also um eine globale Naturkatastrophe, und man sich dementsprechend diszipliniert verhält. Und dann kann man das tatsächlich auch in den Griff bekommen.
Und man muss natürlich, was die Testungen angeht, sehr geschickt vorgehen. Wir haben ja viel gelernt in den letzten Monaten über dieses Virus und über Bedingungen, in denen halt Menschen viele andere Menschen anstecken können. Das weiß man jetzt genau oder sehr viel besser als vor drei, vier Monaten, deshalb kann man jetzt gezielt auf diese Cluster-Ansteckungen gehen und versuchen, da die Fälle zu rekonstruieren. Das ist sehr viel effizienter, als mit der Gießkanne zu testen.
"Informiertes Testen ist offenbar sehr viel effizienter"
Reuning: Das heißt, wir müssen nicht unbedingt mehr testen, sondern cleverer testen?
Brockmann: Ja, Cleverness ist sowieso immer die beste Waffe gegen so etwas. Und die Cleverness hier liegt in der wissenschaftlichen Evidenz, die darunterliegt, dass man halt viel besser versteht, dass halt, wenn man jetzt nur die Reproduktionszahl anguckt, die gibt einem einen ganz, ganz groben Mittelwert. Aber wir wissen viel besser, dass in speziellen Situation, in Räumen, wenn viele Menschen laut reden und sich sehr nahe kommen, dass es dann zu hohen Ansteckungszahlen kommt. Und dann muss man tatsächlich testen und dann rekonstruieren, wer ist ausgesetzt worden. Dann muss man diese Person testen.
Informiertes Testen ist offenbar sehr viel effizienter - in anderen Ländern hat man das ja schon sehr früh erkannt, in Japan zum Beispiel. Das ist sozusagen das, was wir gelernt haben: Cleveres Testen und diszipliniertes Verhalten, dann muss es nicht zu einer zweiten Welle kommen.
Feiern in Innenräumen erhöhen das Infektionsrisiko
Reuning: In diesem Zusammenhang hat Bundesminister Spahn heute in einer Videopressekonferenz gewarnt vor großen Feiern, vor Familienfeiern, aber auch vor anderen Großveranstaltungen mit Alkohol. Könnte oder müsste man genau da ansetzen, teilen Sie diese Einschätzung?
Brockmann: Die teile ich, diese Einschätzung. Bei Feiern, Sie müssen sich das so vorstellen, da sind viele Menschen zusammen, die trinken was, dann geht die Disziplin runter, dann wird auch laut gesprochen, was auch ein Faktor ist, wie laut man in den Raum spricht. Wir wissen immer mehr darüber, dass Aerosole eine Rolle spielen. Sie können das mit dem Rauchen vergleichen, Zigarettenrauch ist auch ein Aerosol. Und man weiß ja aus der täglichen Erfahrung, wenn ich draußen im Café sitze und da rauchen Leute, dann riecht man das vielleicht und es stört einen, aber wenn das Gleiche in einem Innenraum passiert, ist die Situation ungleich intensiver. Diese Szenarien sind tatsächlich Dinge, die das Risiko einer Infektion erhöhen, das Risiko, dass eine infizierte Person sehr viele andere infiziert, ist einfach deutlich höher, als wenn man an der frischen Luft ist und Abstand hält und vielleicht auch noch Gesichtsschutz trägt.
Bei Urlaubern ist eher das Verhalten als die Region entscheidend
Reuning: Wie sehen Sie denn die Rolle der Urlaubsheimkehrer: Treiben die das Infektionsgeschehen in Deutschland an?
Brockmann: Das ist quantitativ sehr schwer zu erfassen. Tendenziell sind da zwei Faktoren zu berücksichtigen. Wenn man jetzt nur das Reisen an sich betrachtet, dann ist das irrelevant, wenn Menschen von einer Region, in der eine bestimmte Fallzahlstatistik ist, in eine andere Region reisen, wo in etwa das gleiche Vorkommen, die gleiche Inzidenz oder Fälle pro Tag stattfinden. Das macht dann ja nichts. Aber nun ist ja Urlaub auch immer mit Dingen verbunden, dass man am Strand ist oder in engen Räumen oder feiert oder ausgelassen ist. Das heißt, das ist nicht unbedingt Reiserückkehrer aus Regionen, in denen das Infektionsgeschehen zehnmal stärker ist oder doppelt oder dreifach höher, sondern sie kommen aus Kontexten, in denen einfach Infektionen stärker stattfinden. Das kann einen großen Einfluss haben, in der Tat.
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