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Steigende Grundschülerzahlen
"Wir stehen vor massiven Herausforderungen"

Die Grundschulen brauchen in den nächsten Jahren Tausende Lehrer zusätzlich. Darauf hätten die Bundesländer auch schon reagiert, sagte KMK-Generalsekretär Udo Michallik im Dlf. Der Bildungsforscher Hans Brügelmann befürchtet aber, dass es massive Auswirkungen auf das Lernangebot für die Kinder geben könnte.

Hans Brügelmann und Udo Michallik im Gespräch mit Thekla Jahn |
Ein Junge zeigt in Essen in der Maria-Kunigunda-Grundschule während einer Mathe-Übung auf.
Die Zahl der Grundschüler wird in den kommenden weiter stark steigen - und Lehrer fehlen (picture alliance / dpa / Marcel Kusch)
Thekla Jahn: Die Schülerzahlen steigen – und die Lehrer fehlen. So wie einstmals die Lehrerschwemme Dauerthema war, ist es jetzt der Lehrermangel. In allen Bundesländern fehlt bereits heute Personal, und es sieht nicht besser aus, wenn man ins kommende Jahrzehnt blickt. Die jüngste Studie der Bertelsmann Stiftung wirkt mit ihrem Ergebnis wie das täglich grüßende Murmeltier, nur dass es sich diesmal noch ein bisschen schlimmer darstellt als wir alle es ja ohnehin schon wussten.
Und wir haben nachgefragt bei der Kultusministerkonferenz. Den Generalsekretär Udo Michallik konnten wir vor der Sendung erreichen und mit ihm den Bildungsforscher Hans Brügelmann, der bis 2017 beim Grundschulverband für Qualitätsentwicklung zuständig war. Mit beiden habe ich über die Ergebnisse und Konsequenzen der jüngsten Zahlen zum Lehrermangel gesprochen. Schließlich sind das keine marginalen Zahlen, von denen wir da reden. Vielmehr fehlen fast 11.000 Lehrkräfte mehr als bisher von der Kultusministerkonferenz prognostiziert. Insgesamt sind es zum Schuljahr 2025/26 über 26.000 fehlende Lehrkräfte – eine ganze Kleinstadt. Was sagt Hans Brügelmann zu diesen Ergebnissen?
"Das ist eine dramatische Situation"
Hans Brügelmann: Ja, das ist eine dramatische Situation, und vor allem haben wir bisher nur über die Lehrkräfte geredet. Wir müssen auch über Räume reden. Das Problem ist ja, dass auch die Schulen voll sind und dass man von daher neben der Planung von Maßnahmen, um entsprechende Lehrkräfte zu gewinnen oder zu qualifizieren, auch sehr schnell zusätzlichen Schulraum schaffen muss.
Jahn: Herr Michallik ist auch bei uns. Herr Michallik, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz, wie konnte sich denn die Kultusministerkonferenz so verschätzen in ihren Prognosen? An jeder zweiten Grundschule wird es eine zusätzliche Klasse geben müssen, die in der Prognose der KMK nicht eingerechnet ist, ab 2025 zudem das, was Herr Brügelmann eben sagte, auch Räume fehlen, Material fehlt. Wie konnte das passieren?
Udo Michallik: Frau Jahn, es ist eigentlich gar nichts passiert, weil wir befinden uns hier in einem kleinen Statistikwettlauf, weil die KMK ihre Zahlen im vergangenen Jahr veröffentlicht und dabei die 13. Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes zur Grundlage gehabt. Das, was Bertelsmann jetzt gemacht hat, ist, die Zahlen der 14. Bevölkerungsprognose genommen. Auf der Basis wird auch die KMK jetzt im Herbst ihre aktuelle Prognose veröffentlichen. Also insofern haben wir uns da nicht verrechnet, sondern das liegt in der Natur von Prognosen, und insofern müssen wir uns nicht so an einem Statistikwettlauf festhalten. Das, was Herr Brügelmann ausgeführt hat, das ist natürlich richtig und wichtig zu beachten, aber auch dort haben in den letzten Jahren die Länder schon erhebliche Maßnahmen ergriffen. Wenn ich bloß in Erinnerung rufen darf, baut Berlin zum Beispiel mehr als 50 neue Schulen, also insofern zeigt sich schon, dass das, was wir in den vergangenen Jahren schon diskutiert haben, hier von den Ländern aufgenommen wird und sich in der Umsetzung befindet.
"Wir müssen jetzt keinen neuen Aktionismus in Gang setzen"
Jahn: Aber erschrecken Sie nicht die Zahlen? Es fehlen Lehrkräfte mehr als von Ihnen angenommen. Also da muss ein riesiges Maßnahmenpaket her, um das noch aufzufangen.
Michallik: Ja, wir sind gerade noch dabei, die einzelnen Zahlen zu sortieren, die jetzt auch von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wurden. Was den Grundschulbereich betrifft, da hat die KMK mit der letzten Prognose 7.000 Lehrkräfte als zusätzlich definiert, und für den Grundschulbereich sehen wir bei der Bertelsmann-Analyse 10.994 Personen zusätzlich im Bedarf. Das ist eine Differenz von 3.900, aber ich will die Hörerinnen und Hörer gar nicht so mit Zahlenspielen quälen, sondern das Entscheidende ist, dass wir auch anhand alter Statistiken oder anderer Prognosen in den letzten zwei, drei Jahren ja wissen, dass wir in dem Bereich vor massiven Herausforderungen stehen. Insofern ist das nichts Neues, sondern hier haben sich die Länder auf den Weg gemacht mit Seiteneinsteigerprogrammen, mit Reaktivierung von Pensionären und mit der Steigerung der Zahl der Lehramtsstudierenden, Attraktivität des Berufes. Man schaue in die Länder hinein, wie eine Besoldungsanpassung im Grundschulbereich stattfindet. Also so ist eine ganze Kette von Maßnahmen, die ich Ihnen jetzt gerade aufgezählt habe, die schon greifen, ohne dass jetzt wir anhand der Bertelsmann-Studie neuen Aktionismus in Gang setzen müssen.
"Das wird massiven Einfluss auf das Lernangebot haben"
Jahn: Die Zahlen der fehlenden Lehrkräfte sind das eine, das, was sie bewirken, das ist das andere. Herr Brügelmann, viele tausend Lehrer in den Grundschulen zu wenig. Bedeutet das, dass eine ganze Schülergeneration darunter zu leiden hat? Also welche Folgen kann das für die Bildung, gerade die Basisbildung in der Grundschule haben?
Brügelmann: Na ja, das wird erhebliche Folgen haben. Sie müssen ja sehen, wir haben nicht nur das Problem, dass es sozusagen einen Basisbedarf gibt, sondern wir haben ja auch das Programm des Ganztagsschulausbaus. Wir haben den Anspruch der inklusiven Bildung. Das sind ebenfalls Maßnahmen, die personalintensiv sind, und, wie Sie zu Recht sagen, die Grundschule legt neben dem Kindergarten die Grundlagen für die Entwicklung der Kinder. Wenn dann neben dem Unterrichtsausfall, den wir sowieso haben wegen der hohen Arbeitsbelastung der Lehrerinnen und Lehrer, zusätzlich richtig ganze Stellen wegfallen oder fehlen, dann wird das massiven Einfluss darauf haben, welches Lernangebot die Kinder in der Schule erleben.
Jahn: Den Lehrermangel zu bekämpfen, das ist eine Herkulesaufgabe, das sagen manche, dazu müsste man die Bildungswelt aus den Angeln heben. Sehen Sie das auch so?
Brügelmann: Na ja, die Bildungswelt nicht aus den Angeln heben, aber man muss sich sehr darum bemühen – Herr Michallik hat das ja angedeutet –, mit konkreten Maßnahmen jetzt diese Lücke zu füllen. Das kann nicht einfach bedeuten, irgendwelche Personen zu nehmen, sondern die müssen ja auch qualifiziert werden. Es ist ja nicht so, dass lesen, schreiben, rechnen, weil das die meisten Menschen im Alltag können, nun auch einfach zu vermitteln sei, sondern das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Das bedeutet, dass man tatsächlich für diese vielen Personen, die jetzt auf anderen Wegen in die Grundschule hineinkommen, zusätzliche Unterstützungsprogramme braucht, und man muss auch im Hinblick darauf, dass diese Menschen ja nicht einfach dann nach fünf oder zehn Jahren entlassen werden können, weil man sagt, wir brauchen euch jetzt nicht, dafür sorgen, dass sie eingefädelt werden können in die normalen Laufbahnen.
"Situation ist in unterschiedlichen Teilen Deutschlands grundverschieden"
Jahn: Was sagen Sie, Herr Michallik, den Eltern, was sagen Sie den Kindern später einmal, die Pech gehabt haben, weil nicht genug Lehrkräfte da waren, weil ihre Bildungsbiografie dann möglicherweise eine andere ist?
Michallik: Ich würde das noch gar nicht so dramatisieren, wie Sie es jetzt beschrieben haben, sondern wir reden jetzt über Prognosen, die in das Jahr 2025 hineinreichen. Wie ich ja deutlich gemacht habe, sind die Länder ja seit einigen Jahren schon dabei, adäquate Maßnahmen zu ergreifen, um hier letztendlich gegenzusteuern, um dann auch erfolgreiche Bildungskarrieren zu ermöglichen. Man kann das auch nicht landauf, landab so generalisieren. Wir wissen auch aus unseren Prognosen heraus, dass das in den unterschiedlichen Teilen Deutschlands die Situation auch grundverschieden ist. Ich darf bloß noch an die demografische Delle in den 90er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahren in den neuen Ländern erinnern, wo wir einen massiven Lehrerüberhang hatten und wo wir jetzt aufgrund der Situation, die wir damals hatten, eine hohe Quote von Kolleginnen und Kollegen haben, die aus dem Dienst ausscheiden. Da gegenzusteuern ist eine andere Situation, wo ich vor relativ kontinuierlichen Verhältnissen in den alten Bundesländern stehe. Das bedeutet, um es kurz zu machen, ein sehr differenziertes Herangehen letztendlich. Es dauert auch natürlich, bis die Maßnahmen greifen, ein wenig Zeit, aber wir gehen davon aus, dass wir hier auch erfolgreiche Bildungskarrieren ermöglichen und alles dafür tun, dass die dann auch erfolgreich zu Ende gebracht werden.
Jahn: Sie sagten, es ist noch viel Zeit, aber eigentlich, wir haben 2019. Bis zu 2025 ist nicht mehr wirklich viel Zeit, wenn man sich überlegt, ein Studium dauert mindestens vier Jahre, bis man dann das Referendariat hat. Also das wird ganz knapp, wenn gerade jetzt begonnen wird erst, dagegenzusteuern.
Michallik: Die Ausbildung ist ja nur die eine Seite. Die andere Seite, die ich dargestellt habe, mit anderen Maßnahmen wie Seiteneinsteiger-, Quereinsteigerprogrammen und die Maßnahmen, wie Herr Brügelmann richtig gesagt hat …
"Es gibt eine Abstimmung mit Füßen"
Jahn: Die müssen aber auch gebildet werden.
Michallik: [*] Auch das machen die Länder. Dort sind ja auch sehr intensive Maßnahmen im Gange, um auch die Kolleginnen und Kollegen auf das Niveau zu bringen, wie wir uns das auch vorstellen, was ein Lehrer haben soll. Wir werden – und das sehe ich auch ganz deutlich – uns jedes Jahr darüber wieder unterhalten und nachsteuern, aber das liegt anhand dieser Massivität der Zahlen in der Natur der Sache und auf dem Tisch. Das ist, glaube ich, eine Selbstverständlichkeit, über die man dann nicht mehr reden sollte.
Jahn: Sie hatten einen Aspekt noch angesprochen: die Länder, müssten nicht auch länderübergreifend Maßnahmen besser vereinheitlicht vernetzt werden? Denn Lehrer fehlen überall in Deutschland.
Michallik: Ja, aber in unterschiedlicher Größenordnung. Das habe ich versucht deutlich zu machen.
Jahn: Aber die einen werben die anderen ab.
Michallik: Das Abwerben liegt vor allen Dingen darin, und das bedingt dann auch eine gegenseitige Information der Länder, wo unterschiedliche Bedingungen dann letztendlich greifen, wie eine Anhebung der Besoldung im Grundschulbereich, dass das eine Land oder viele Länder das machen, das andere Land nicht, da entsteht natürlich irgendwo auch eine Abstimmung mit Füßen, die sich dann aber auch in Grenzen hält. Also insofern versuchen da dann die Länder auch, mit den Bedingungen, mit den Voraussetzungen für das Lehramt, für die Attraktivität des Berufes gleichzuziehen, damit solche Wanderungsbewegungen, wie Sie sie jetzt dargestellt haben, dann unterbleiben und die Lehrerinnen und Lehrer dort dann auch zum Einsatz kommen, wo sie ausgebildet sind, wo sie ihre Tätigkeit machen möchten.
"Verbesserungen geschehen immer nur unter Druck"
Jahn: In diesem Jahr feiert die Grundschule ihr 100-jähriges Jubiläum. Herr Brügelmann, sind das düstere Zukunftsperspektiven in diesem Jubiläumsjahr, und wie sehen Sie Möglichkeiten, da wieder die düsteren Wolken zur Seite zu schieben?
Brügelmann: Ich sehe das Problem etwas grundsätzlicher, denn wir haben 2016 bereits ein Gutachten von Herrn Klemm [** ] veröffentlicht als Grundschulverband, in dem wir die generelle Unterfinanzierung der Grundschule im Vergleich zum Sekundarbereich oder auch im Vergleich zu anderen Ländern, die wirtschaftlich ähnlich stark sind wie die Bundesrepublik Deutschland, dargestellt haben. Es zeigt sich, dass solche Verbesserungen, wie sie jetzt angedeutet werden, in der Besoldung vielleicht dann auch mal in der Unterrichtsverpflichtung, dass die immer nur unter Druck geschehen, wie das aktuell jetzt der Fall ist, und dann dazu führen, dass das Ganze noch mal doppelt erschwert wird, weil man braucht mehr Lehrerinnen und Lehrer, man versucht, mit besserem Gehalt welche zu werben, man hat dann das Problem, dass die einzelnen Bundesländer das in unterschiedlichem Maße nur können, die Finanzsituation ist sehr verschieden.
Das führt dann zu dem, was Herr Michallik die Abstimmung mit den Füßen genannt hat, die ich problematischer sehe als er, weil es tatsächlich gerade bei den Stadtstaaten etwa sehr einfach ist für Lehrerinnen und Lehrer, im Umfeld sich eine Stelle zu suchen. Damit haben wir eine Situation, die tatsächlich für die Entwicklung der Grundschule, was pädagogische Reformen betrifft, außerordentlich schwierig ist, denn dafür braucht man mehr qualifiziertes Personal, und das brauchen wir jetzt, um überhaupt erst mal Basisversorgung zu sichern. Das macht es schwer, dass die Grundschule ihren Weg gehen kann. Sie haben recht, 100 Jahre waren eine Erfolgsgeschichte, aber die Grundschule steht gerade angesichts der aktuellen Situation in der gesellschaftlichen Entwicklung, also auseinanderstrebende Kräfte oder wenn Sie sich angucken die Entmischung der Stadtteile, vor besonderen Aufgaben. Da ist es außerordentlich schwierig, dem jetzt gerecht zu werden.

[* Anm. d. Red.] An dieser Stelle haben wir den Namen unseres Gesprächspartners korrigiert.
[** Anm. d. Red.] An dieser Stelle haben wir den Namen des Gutachters korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.