RKI-Chef Lothar Wieler appellierte am Donnerstag (15.04.2021) angesichts deutlich steigender Infektionszahlen an die Länderchefs, schnell zu handeln und nicht auf die Bundesnotbremse zu warten, die – wenn überhaupt – frühestens nächste Woche eingreifen kann. Die Zahlen und Prognosen zur künftigen Entwicklung, die dem RKI-Chef Sorgen bereiten, basieren auf Computermodellen, mit denen der Physiker Dirk Brockmann fürs RKI seit Monaten das zu erwartende Infektionsgeschehen berechnet. Er forderte im Deutschlandfunk einen strengen Lockdown mit dem Ziel, die dritte Welle nicht nur zu brechen, sondern das Infektionsgeschehen deutlich unter eine Inzidenz von 100 und damit in Griff zu bekommen.
Notbremse hat das Ziel, "eine dritte Welle einzuknicken"
Ralf Krauter: Angenommen, wir würden die viel diskutierten Maßnahmen im Rahmen der Bundesnotbremse jetzt schnell und flächendeckend umsetzen, wie lange bräuchten wir, um das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen zu stoppen?
Dirk Brockmann: Na ja, die Notbremse ist ja erst mal dazu da, mit all ihren Einschränkungen eine dritte Welle einzuknicken, aber sie hat das Ziel halt einer Inzidenz von 100. Das ist ein recht hohes Ziel, das kann relativ früh erreicht werden, aber wir müssen auch bedenken, dass alle Maßnahmen, die jetzt wirken, ja eigentlich noch zwei Wochen dauern, bis die Wirksamkeit sich entfaltet, weil das Geschehen, was wir jetzt sehen, also was die Infektionszahlen angeht, ist ja schon zwei Wochen alt. Das heißt, man muss damit rechnen, dass es jetzt erst noch mal zwei Wochen hochgeht, und dann kann langsam die Wirkung zeigen. Das wird wahrscheinlich mindestens vier Wochen dauern.
Inzidenz 200 als Schwelle für Schulschließungen "viel zu hoch"
Krauter: Bis wir sozusagen das Ziel 100 wieder erreicht hätten, was aus Ihrer Sicht aber auch noch zu hoch ist. Wie weit müssen wir denn runterkommen mit der Sieben-Tage-Inzidenz, die ja aktuell bei 160 ist, wahrscheinlich in ein paar Tagen schon über 200?
Brockmann: Ja, diese Schwelle ist viel zu hoch. Die Regeln besagen ja, dass wenn die Schwelle überschritten wird, dass dann Maßnahmen durchgesetzt werden, und wenn sie aber unterschritten wird, dass es sich dann wieder eröffnet alles. So wird sich das auf einem sehr hohen Niveau einpendeln, und das ist ein sehr gefährliches Niveau. Wir müssen halt viel, viel niedriger in der Inzidenz [werden, Anm. d. Red.], und zwar in einen Bereich, dass die Infektionsketten besser rekonstruiert werden können und besser niedrig gehalten werden können. Das funktioniert in einer Niedriginzidenz viel besser, und insbesondere was Schulen angeht, da ist ja die Schwelle bei 200, das ist ein sehr hohes starkes Infektionsgeschehen, was natürlich dann den Infektionsdruck dann auch in die Familien und überall in die Bevölkerung reindrückt. Das heißt, diese Schwelle ist viel zu hoch.
Krauter: Das hat Lothar Wieler heute früh auch so gesagt, dass diese 200er-Schwelle für Schulen auf jeden Fall überdacht werden sollte. Er hat auch ein schönes Bild gebracht von einem Autofahrer, der auf einer kurvigen Straße unterwegs ist und sich einer 30er-Zone nähert, aber mit Tempo 100 unterwegs ist, und sagt, dann reicht selbst eine Notbremsung nicht mehr. Ist diese Zahl 30, die er da auch genannt hat, so zu verstehen, dass das immer noch aus epidemiologischer Sicht ein vernünftiger Grenzwert wäre, den man anstreben sollte?
Brockmann: Ja, eindeutig, weil stellen Sie sich vor, Sie haben ein Bundesland mit einer 30er-Inzidenz: Dann bedeutet das, dass es einige Landkreise und Gemeinden gibt, die vielleicht stärker betroffen sind, die vielleicht eine höhere Inzidenz haben von 60 oder 80, aber einige Gemeinden haben da eine Inzidenz, die deutlich geringer ist, sodass im Mittel etwa 30 da ist. Und das bedeutet, dass man regional schneller reagieren kann, dass man regional differenzierter reagieren kann. Und in den Bereichen, wo wirklich dann das Infektionsgeschehen im Griff ist, kann man dann auch mit einer sehr klaren Teststrategie wieder öffnen, also quasi die No-COVID-Regeln dann implementieren, und dann kann dieses niedrige Inzidenzniveau gehalten werden. Das geht bei einer 100er-Inzidenz gar nicht.
"Fallzahlen müssen in Niedriginzidenzniveau reingehen"
Krauter: Karl Lauterbach hat heute früh getwittert, die dritte Welle endet nicht durchs Impfen, nicht durchs Wetter, nur durch einen Lockdown. Sehen Sie das auch so?
Brockmann: Das sehe ich ganz genau so, und das ist auch nicht wirklich eine Meinung, die man haben kann, sondern das ist evidenzbasiert. Das heißt, das Impfen kann ja nur wirken, wenn ein substanzieller Teil der Bevölkerung geimpft ist und somit nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen kann. Da fallen schon mal alle Kinder und Jugendlichen momentan raus, weshalb auch dieser Wert von einer 200er-Inzidenz in den Schulen grotesk hoch ist, weil das bedeuten würde, dass in den Schulen und bei den Kindern und Jugendlichen das ganze Infektionsgeschehen stattfinden würde. Das ist das Erste. Und das Wetter wird nicht helfen. Dafür gibt es verschiedene Belege, dass für dieses Virus das eine geringere Rolle spielt. Es ist deshalb gefährlich, an das Wetter zu denken, weil das ja sozusagen die Hoffnung nährt, dass das Wetter einem hier irgendwie helfen wird und das ist einfach nicht der Fall. Deshalb müssen wir gemeinsam in der Bevölkerung diesem Virus die Stirn bieten, die Kontakte reduzieren, sodass dann die Welle nicht nur gebrochen wird, sondern die Fallzahlen schnell wieder in ein Niedriginzidenzniveau reingehen.
"Kontaktreduktion muss die Bevölkerung leisten"
Krauter: Was wären denn aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Sofortmaßnahmen, die wir jetzt quasi flächendeckend bundesweit schnell umsetzen müssen, um die genannten Ziele zu erreichen?
Brockmann: Die Kontaktreduktion muss ja die Bevölkerung leisten, das heißt, die Menschen müssen sich noch weiter einschränken, verzichten auf private Kontakte in Innenräume. Das müssen alle Bürgerinnen und Bürger leisten, und das bedeutet natürlich auch, dass man ganz klar kommunizieren muss, wieso sie das leisten müssen. Das heißt, jeder Mensch versteht ja, wenn die Inzidenz runtergeht durch einen Lockdown und wenn wir dann wieder lockern, dann geht es halt wieder hoch, und keiner versteht diese Jojo-Logik. Deshalb muss man ganz klar kommunizieren, was der Plan für die Zeit ist, wenn wir die Niedriginzidenz erreicht haben, wie man dann agiert – Stichwort Teststrategien in den Schulen, in den Betrieben. Und das ist das, was sozusagen die Regierung liefern muss als Gegenleistung für das Opfer der Bevölkerung, dass man einen klaren, einsichtigen, plausiblen und durchsichtigen Plan hat für die Zeit danach. Das ist eine ganz, ganz wichtige Sache.
Ausgangssperre habe in Irland und Portugal Wirkung gezeigt
Krauter: Kommunikation also ausschlaggebend, entscheidend in dieser Phase, aber das wird allein wahrscheinlich nicht reichen, oder?
Brockmann: Nein, das reicht nicht. Das heißt, ganz klar müssen Kontakte reduziert werden. Nun ist es so, dass alle ja schon ganz stark ihre Kontakte einschränken, und das muss halt noch mehr geschehen. Das heißt, es muss versucht werden, alles das zu reduzieren, was intensive Kontakte in Innenräumen betrifft. Die Ausgangssperre ist ein Werkzeug dazu, weil verschiedene wissenschaftliche Studien zeigen, dass abends, also in der Freizeit, sich jetzt alle im Lockdown die Menschen halt noch treffen, immer mal eine Ausnahme machen, sich mit engen Freunden treffen und dass dann halt enge, lange, intensive Kontakte entstehen. Das ist eine Maßnahme. Und selbst wenn man denkt, dass diese Maßnahme gegebenenfalls nicht wirksam ist, in anderen Szenarien, wo im Ausland –zum Beispiel Portugal ist ein Beispiel, Irland ist ein Beispiel –, wo Lockdown-Maßnahmen so gestaltet worden sind, dass auch eine Ausgangssperre dabei war, hat das gewirkt. Das heißt, wir müssen nicht so lange diskutieren, was jetzt besonders wirksam ist und was nicht, sondern wir müssen jetzt schnell reagieren, schnell alles rausholen, was wir haben zum Kontaktreduzieren.
"Impfen wird uns nicht über die nächsten zwei Monate retten"
Krauter: Was notwendig ist, liegt eigentlich schon lange, seit Wochen, wenn nicht seit Monaten auf dem Tisch, also Kontaktreduktion, Maskenpflicht in Großraumbüros, clevere Schulöffnung wenn überhaupt, also nur mit Wechselunterricht und Maskenpflicht, kontrolliert durch Teststrategien. Lassen Sie uns mal ein bisschen nach vorne schauen: Wann könnte es denn eigentlich sein, dass wir eine Impfquote erreicht haben, die uns hilft, das Infektionsgeschehen zu entspannen?
Brockmann: Bei der jetzigen Impfrate, die hat ja ein bisschen angezogen jetzt und wir haben jetzt auch mehr Impfstoff, aber der Impfstoff ist halt noch der limitierende Faktor. Wir müssen halt sehen, dass wir auf jeden Fall noch den Mai, wenn nicht den Juni benötigen, damit die Impfquote so hoch ist, dass sie substanziell auf das Infektionsgeschehen einen Einfluss hat. Auch da können wir wieder ins Ausland schauen. Schauen Sie nach Großbritannien, da waren schon vor Wochen 50 Prozent der Bevölkerung geimpft, und dennoch war das ganze Land noch in einem Lockdown, weil dieser Lockdown viel zu spät eingesetzt hat. Und in Israel ist es gerade ähnlich, da lockert es sich jetzt so langsam, weil eben auch sehr breit in den Altersschichten der Bevölkerung geimpft wird. Das heißt, wir können jetzt nicht erwarten, dass uns das Impfen in irgendeiner Weise über die nächsten zwei Monate rettet.
Sterberate entspricht derzeit "einem Flugzeugabsturz pro Tag"
Krauter: Die meisten Neuerkrankungen gibt es ja derzeit bei den 15- bis 49-Jährigen, das war im Prinzip zu erwarten, weil die Älteren ja zunehmend durch Impfungen geschützt sind, aber welche Folgen hat das für die Strategie zur Bekämpfung der Pandemie? Müssen wir die jetzt irgendwie anpassen?
Brockmann: Na ja, das ist ja erst mal so eine Konsequenz und auch eine sehr besorgniserregende Konsequenz, weil halt bei den jüngeren Menschen auch natürlich extrem starke Krankheitsverläufe stattfinden können, das heißt, auch Menschen in diesen Altersgruppen sterben an COVID. Die Sterberate geht wieder hoch, wir haben jetzt so circa 300 Tote jeden Tag, das ist immer noch ein Flugzeugabsturz pro Tag, so muss man das rechnen, und das wächst in diesen Altersgruppen. Das ist also sehr, sehr besorgniserregend, dass es in die jüngeren Altersklassen geht, und da gibt es ja natürlich dann auch eine Long-COVID, etwas, was halt immer wieder betont wird, aber offenbar nicht stark genug betont wird. Das heißt, die Leute gehen in die Intensivstation rein, kommen da lebendig auch wieder raus, aber nie wieder so, wie es vorher gewesen ist, und haben oftmals monatelang damit noch zu kämpfen, mit den Folgen. Gerade bei jüngeren Menschen, die zum Beispiel auch Familien haben und Kinder, ist das extrem dramatisch. Und irgendwann wird es dann auch bei den Kindern sehr ernst, denn momentan ist ja das Prinzip bei einer 200er-Inzidenz in den Schulen, dass quasi auf Durchseuchung bei den Kindern und Jugendlichen gesetzt wird, und das kann halt total nach hinten losgehen.
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