Jeder trägt eine Maske, die Ärztinnen vor dem öffentlichen Gesundheitszentrum in Madrids Stadtteil Puente de Vallecas ebenso wie die Gäste eines Straßencafés davor. Trotzdem ist die Hauptstadt der Coronahotspot Spaniens und Puente de Vallecas mit mehr als 1.000 positiv Getesteten in den letzten 14 Tagen pro 100.000 Einwohner eines der Viertel mit der höchsten Neuerkrankungsrate im ganzen Land. Rentner Javier sucht nach Erklärungen:
"Hier leben viele Einwanderer, meist sind ihre Wohnungen sehr klein. Wie sollen die Quarantäne machen, wenn sie infiziert sind? Viele arbeiten ohne Vertrag. Die müssen ja weiter irgendwie Geld verdienen. So breitet sich das Virus weiter aus. Da kann man noch so viele Masken tragen."
Mehr als zwei Drittel der Tests positiv
In Villaverde, Usera und Carabanchel sei es auch nicht viel besser, unterbricht ihn sein Freund Paco, also in den übrigen, klassischen Arbeiterstadtteilen. Patrica Estevan nickt. Sie ist Hausärztin im Ärztezentrum und spricht von einer explosiven Mischung im Viertel:
"Hier kommen viele Umstände zusammen. Hier leben Reinigungskräfte, Köchinnen, Pfleger, die fast alle in überfüllten U-Bahnen und Bussen zur Arbeit fahren. Oft leben mehrere Familien zusammen. Diese Leute haben keine Möglichkeit, sich zu isolieren."
So geraten die Infektionen außer Kontrolle. 100 Anwohner testet ihr Ärztezentrum täglich, sagt sie. Hat jemand ein positives Ergebnis, werden seine engeren Kontakte auch getestet. 75 Prozent der Tests sind zuletzt positiv ausgefallen. Normalerweise müssten sich positiv Getestete und ihre Kontaktpersonen isolieren, doch die Angst, den Job zu verlieren, ist groß. Manche Patienten bitten darum, von einer Krankschreibung abzusehen:
"Ich sage ihnen: ‚Ja, das ist schlimm. Aber sage Deinem Chef doch, dass Dir das nach einem positiven Befund nicht noch mal passieren kann.‘ Größere Probleme haben Menschen, die Kontakte zu positiven Fällen hatten, bei denen der Test aber negativ ausfällt. Die müssen trotzdem zwei Wochen zu Hause bleiben. Gestern hatte ich einen Patienten, dem erst vor drei Wochen dasselbe passiert ist. Dem sagt sein Chef: ‚Schon wieder?‘"
Kritik an der Arbeit der Behörden
Hinzu kommt: Viele positiv Getestete berichten, dass sie niemand nach Kontaktpersonen fragt. Für solche Lücken in der Kontaktnachverfolgung macht Hausärztin Estevan die Madrider Regionalregierung verantwortlich. Denn in Spanien sind die Regionen für das Gesundheitssystem zuständig:
"Wir haben schon im Juli gemerkt, dass es nicht gut läuft. Wir hatten sehr wenige Fälle, einen pro Woche vielleicht, aber niemand kümmerte sich um die Nachverfolgung der Kontakte dieser Patienten. In diesen beiden Stadtteilen waren gerade mal vier Personen mit der Kontaktnachverfolgung beschäftigt."
144 Angestellte waren im Juli in der gesamten Region Madrid für die Kontaktnachverfolgung zuständig, also für sechseinhalb Millionen Einwohner. Inzwischen will die konservative Regionalregierung 1000 weitere sogenannte "tracer" einstellen, doch Estevan glaubt, dass es dafür längst zu spät ist:
"Das ist doch nur noch eine Frage der Zeit. Reine Mathematik. Das ist eine Kurve, und der Anstieg ist immer steiler. Jetzt hilft nur noch ein harter Lockdown für ganz Madrid. Drei Wochen, und dann sehen wir weiter."
Personalmangel, ausgebliebende Präventivmaßnahmen, auch die viel zu frühe Öffnung von Kneipen und Nachtklubs – die Liste der Verfehlungen, die die Hausärzte der Madrider Regionalregierung vorwerfen, ist lang. Sie haben darum für Ende des Monats einen Streik angekündigt. Die Regionalregierung hat unterdessen private Treffen auf höchstens zehn Personen begrenzt und fordert von der spanischen Zentralregierung, dass auch die Reisenden auf den Flughäfen auf das Coronavirus getestet werden.
Anmerkung der Redaktion:
Im Vorspann des Textes haben wir eine Zahlenangabe korrigiert.