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Steigender Meeresspiegel
"Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit geworden"

Wissenschaftler warnen in einer neuen Studie davor, dass der globale mittlere Anstieg des Meeresspiegels bis zum Jahr 2100 über einen Meter betragen könnte. Besonders die Instabilität der großen Eismassen auf Grönland und der Antarktis könnten dazu beitragen, sagte Stefan Rahmstorf, Co-Autor der Studie, im Dlf.

Stefan Rahmstorf im Gespräch mit Jule Reimer |
Eisberg bei Nacht in der Antarktis
Wenn die Eismengen in der Antarktis (Bild) und in Grönland alle schmelzen, könnte der Meeresspiegel rasant steigen, sagte Stefan Rahmstorf. (imago stock&people)
Mitten in die Debatte, wie die Wirtschaft in Europa am besten wieder angekurbelt werden kann, platzt heute eine Veröffentlichung von 100 Klimawissenschaftlern, die sich auf sie Entwicklung der Meere spezialisiert haben. Sie warnen: Der Meeresspiegel könnte weltweit bis zum Jahr 2100 im Mittel über einen Meter ansteigen, wenn die Staaten dieser Welt weiterhin so viel Kohle, Öl und Gas wie bisher verbrennen und den Treibhausgas-Ausstoß nicht mindern. Das sind noch schärfere Prognosen als die des Weltklimarats IPCC, der zuletzt auch schon seine Warnungen angehoben hatte.
Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ist Co-Autor der Studie. Er sagt, trotz der Coronakrise dürfe keine Zeit verloren werden.
Jule Reimer: Herr Rahmstorf, ich habe mal auf unseren Webseiten geblättert. Bei uns hieß es noch vor einigen Monaten, zum Beispiel für den Inselstaat Vanuatu, bis zum Ende des Jahrhunderts gibt es wahrscheinlich einen Anstieg des Meeresspiegels um 60 Zentimeter. Wieso kommen Sie jetzt zu deutlich drastischeren Werten?
Stefan Rahmstorf: Was wir gemacht haben, ist eine Expertenbefragung. Das heißt, wir haben alle Wissenschaftler, die sich mit dem Meeresspiegelanstieg beschäftigen und mehr als sechs Fachpublikationen in den letzten Jahren zu diesem Thema veröffentlicht haben, angeschrieben und um ihre Einschätzungen für den Meeresspiegelanstieg unter verschiedenen Emissionsszenarien gebeten. Und es stellt sich einfach heraus, dass die Mehrzahl der Fach-Community, der Spezialisten für Meeresspiegelanstieg die Lage etwas pessimistischer einschätzt als der Weltklimarat IPCC.
Das hat uns auch insofern nicht überrascht. Wir haben vor sieben Jahren schon mal eine solche Expertenbefragung durchgeführt, da war das auch so. Und es ist bekannt, dass der Weltklimarat keineswegs übertreibt oder alarmistisch ist, sondern im Gegenteil sehr konservativ ist in seinem Konsensverfahren und sich deswegen bei Klimaauswirkungen auch schon mehrfach nach oben korrigieren musste.
Überschwemmungen in Kurigram in Bangladesch.
Steigender Meeresspiegel - Viel mehr Menschen bedroht als gedacht
In einer aktuellen Studie zu den Folgen des Klimawandels kommen US-Forscher zu einem alarmierenden Befund: Der zu erwartende Anstieg der Meeresspiegel bedroht weltweit viel mehr Küstenbewohner als bisher angenommen. Schon heute leben über 100 Millionen Menschen unterhalb der Hochwasser-Linie.
Große Eismengen könnten Meeresspiegel anheben
Reimer: Wie kommen Sie jetzt zu diesen ganzen Schlüssen? Was hat sich verändert in Ihren Betrachtungen oder Feststellungen?
Rahmstorf: Wir haben die Experten auch gefragt, was ihre Einschätzungen wesentlich geprägt hat, und es sind insbesondere neue Studien über die Instabilität der großen Eismassen auf Grönland und der Antarktis. Wir müssen ja wissen: Diese Eismengen, die wir dort noch haben, reichen aus, um den globalen Meeresspiegel 65 Meter anzuheben, wenn die alle schmelzen würden. Das heißt aber konkret, dass wir uns nicht mal erlauben können, nur wenige Prozent des Kontinentaleises zu verlieren.
Reimer: Trifft dieser Anstieg alle Küstenstaaten dieser Welt gleich, Hamburg genauso wie Sidney und San Francisco?
Rahmstorf: Es trifft natürlich die tief liegenden Küstengebiete und die Menschen, die dort leben. Es gibt eine auch relativ neue Studie, die zeigt, dass etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung, also 770 Millionen Menschen, weniger als fünf Meter über der Hochwasserlinie leben, und die sind dann natürlich von einem solchen Meeresspiegelanstieg besonders betroffen.
Dazu kommen auch noch gewisse regionale Unterschiede im Ausmaß des Anstiegs. Wenn die Antarktis zum Beispiel viel Eis verliert, dann steigt – das ist vielleicht jetzt für den Laien paradox – insbesondere auf der Nordhalbkugel der Meeresspiegel stark an, weil die Wassermassen im Ozean sich dann stärker von der Antarktis wegbewegen, weil auch die Massenanziehung des riesigen Eisschildes dort nachlässt. Das ist nur ein Beispiel für regionale Unterschiede.
Reimer: Sie haben gesagt, die Spielräume sind enger geworden. Wir haben ja das Pariser Klimaabkommen mit dem Bekenntnis, die Erwärmung auf zwei Grad Celsius, besser 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Stehen wir mit diesem Fahrplan noch gut da? Die UN-Klimakonferenz für dieses Jahr, die wurde ja Corona-bedingt auf kommendes Jahr verschoben.
Rahmstorf: Als kleine Korrektur: Im Pariser Abkommen steht "deutlich unter zwei Grad" und nicht etwa auf zwei Grad.
Reimer: Entschuldigung! Besser 1,5 Grad.
Rahmstorf: Sonst hätten viele Staaten nicht zugestimmt. Dazu müssten die Emissionen in den nächsten zehn Jahren weltweit halbiert werden. Das ist einfach inzwischen ein Wettlauf gegen die Zeit geworden, weil viele Jahrzehnte zu zögerlich oder gar nicht gehandelt worden ist. Weltweit steigen die Emissionen ja sogar weiter an. Wir haben da schlichtweg keine Zeit zu verlieren. Wir können auch nicht wegen der Coronakrise uns erlauben, jetzt hier auch nur ein Jahr zu verlieren.
"Selbstverpflichtungen der Staaten reicht nicht aus"
Reimer: Die bisherigen Ankündigungen der Staaten zu Einsparungen reichen ja auch nicht, wenn ich das richtig in Erinnerung habe?
Rahmstorf: Völlig richtig. Es gibt ja diese Selbstverpflichtungen der Staaten im Rahmen des Pariser Abkommens und die reichen keineswegs auch nicht annähernd aus, um die globale Erwärmung wirklich unter und geschweige denn deutlich unter zwei Grad zu halten, sondern damit steuern wir eher auf drei Grad zu. Das heißt, es muss jetzt hier dringend nachgebessert werden.
Reimer: Was würden Sie der Bundesregierung empfehlen, wenn die Sie fragen?
Rahmstorf: Jetzt, wo sehr viele staatliche Gelder in die Hand genommen werden, um die Wirtschaft zu stützen, wäre es natürlich völlig abwegig, damit klimaschädliche fossile Industrien wieder hochzupäppeln, die wir uns einfach wegen der Klimakrise nicht mehr leisten können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.