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Steinbrück: Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist "reiner Sprengstoff"

Die sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa seien nicht ausreichend, kritisiert SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück. Er würde zur Finanzierung von Maßnahmen eine Finanztransaktionssteuer einführen. Doch die Bundesregierung zeige sich dabei sehr zögerlich.

Peer Steinbrück im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Seit fast zwei Jahren ein offizieller Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa, Priorität bei vielen EU-Gipfeln wie auch zuletzt, zumindest das alles rhetorisch. Doch bislang ist bei den Millionen Jungen ohne Job kaum Hilfe angekommen. Das soll sich bald ändern. Fünf Tage nach dem jüngsten Brüsseler Spitzentreffen kommen zahlreiche Staats- und Regierungschefs nach Berlin, wollen darüber beraten, was der eine vom anderen lernen kann, welche Maßnahmen werden wann und wie auf den Weg gebracht. Sechs Milliarden Euro an Nothilfe will die EU in den Hilfsfonds einzahlen. Fünfeinhalb Millionen Menschen unter 25 Jahren sind arbeitslos in Europa.

    Auch die Gewerkschaften wie auch die Sozialdemokraten beraten heute darüber, wie mehr junge Menschen in Jobs kommen können – eine Art Gegengipfel. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist bei uns am Telefon. Guten Morgen!

    Peer Steinbrück: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Steinbrück, hat das etwas mit Occupy zu tun?

    Steinbrück: Nein! Aber ich finde, dass Jugendliche selber sich zu Wort melden sollen, und deshalb komme ich nachher mit 150 Jugendlichen aus unterschiedlichen europäischen Ländern zusammen, um nicht nur ihre Erfahrungen, auch ihre Enttäuschungen zu debattieren, sondern wie auch Druck gemacht werden kann auf deutlich verstärkte Anstrengungen, dieses riesige Problem der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.

    Müller: Sind jetzt alle irgendwie erst aufgewacht?

    Steinbrück: Nein, weite Teile sozialdemokratischer, sozialistischer Parteien in Europa nicht, auch die SPD nicht, auch der DGB nicht. Aber diese Bundesregierung ist fern jeder Polemik, denn wir haben bereits vor einem Jahr einen europäischen Rat gehabt, der einen Pakt für Wachstum beschlossen hat, und nichts ist geschehen, und wir haben im Februar eine Sitzung gehabt unter Teilnahme von Frau Merkel, wo eine Jugendgarantie ausgesprochen worden ist, und seit einem halben Jahr warten wir auf Konsequenzen. Jetzt plötzlich wacht man auf.

    Müller: Trotzdem fragen ja viele, was hat Angela Merkel damit zu tun. In Deutschland sieht die Situation besser aus als in den meisten Ländern. Warum jetzt deutsche Verantwortung?

    Steinbrück: …, weil das reiner Sprengstoff ist. Wenn in Spanien oder in Griechenland die Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent ist, wenn es vor Ausbruch der Bankenkrise kein Land gab, das eine Jugendarbeitslosigkeit unter 25 Prozent hatte, was schon schlimm genug ist, aber jetzt haben wir 17 Länder über 25 Prozent, teilweise über 50 Prozent, dann kippt diese ökonomische Krise langsam in eine Krise für die politische und die gesellschaftliche Stabilität in diesen Ländern, und das kann Deutschland nicht egal sein.

    Müller: Und die Deutschen, die Bundesregierung sind Schuld?

    Steinbrück: Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, nur belegen zu können, auch mit Blick auf das, was die Kommission inzwischen geäußert hat, dass man mal wieder zu spät, zu zaghaft, zu ungefähr gehandelt hat. Ich darf daran erinnern: Wir haben genau vor einem Jahr, Ende Juni 2012, einen europäischen Rat gehabt, der einen Pakt für Wachstum beschlossen hat. Nichts ist seitdem geschehen. Das heißt, diese folgenlosen Gipfel, diese folgenlosen Sitzungen, die führen nicht nur zu Frustration bei den Jugendlichen, die sich angucken, dass Politik einfach nicht handlungsfähig ist, sondern sie erschüttert und destabilisiert Europa.

    Müller: Aber Sie haben doch auch die Sparauflagen, die Rettungspakete, die im Bundestag debattiert wurden, zur Abstimmung standen, alle auch im Namen der SPD mitgetragen?

    Steinbrück: Aus einer europäischen Gesamtverantwortung und immer mit dem Zusatz, dass Sparen alleine nicht reicht. Die Spardosis, die wir den anderen Ländern über den Kopf schlagen, ist inzwischen tödlich. Sie geraten in eine Spiralbewegung nach unten. Die SPD hat immer Wert darauf gelegt, dass sich eine notwendige Konsolidierung der Haushalte kombiniert mit wirtschaftlichen Impulsen, mit der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in diesen Ländern, und genau diese Komponente fehlt.

    Müller: Jetzt kennen Sie sich als früherer Finanzminister ja bestens mit den Finanzen, mit dem Geld aus. Wenn Sie sagen, wir müssen einerseits sparen, wir brauchen Strukturreformen, auf der anderen Seite müssen wir auch Geld in die Hand nehmen, woher würden Sie das Geld nehmen?

    Steinbrück: Ich würde so schnell wie möglich eine Finanztransaktionssteuer einführen, will sagen eine Umsatzbesteuerung auf Finanzgeschäfte, und einen Teil des Aufkommens sofort investieren in Programme zur Verringerung und Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit.

    Müller: Aber das will die Bundesregierung doch auch.

    Steinbrück: Nein. Sie ist mal wieder sehr zögerlich dabei. Wir kriegen zunehmend Signale aus Brüssel, dass die Umsetzung und Verwirklichung einer solchen Finanztransaktionssteuer sich weiter hinzögert. Im Übrigen: Wir haben ein europäisches Budget, wo Sie sich vorstellen müssen, dass 370 Milliarden Euro für die Landwirtschaft und für den ländlichen Raum ausgegeben werden sollen, und nur sechs Milliarden für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Wissen Sie, was diese sechs Milliarden bedeuten? Für jeden arbeitslosen Jugendlichen in den nächsten zwei Jahren pro Monat 41 Euro zur Förderung. Daran kann man sehen, dass diese Summe absurd niedrig ist.

    Müller: Kommen wir noch einmal, Peer Steinbrück, auf die Finanzierung zurück. Sie sagen, man kann das finanzieren. Sie schließen neue Schulden, neue Kredite dafür aus?

    Steinbrück: Nein. Es gibt Mittel in den europäischen Strukturfonds, die muss man alle zusammenbinden, die muss man alle bündeln. Die Mittel, die normalerweise, auch wenn sie nicht ausgegeben werden, an die Mitgliedsstaaten zurückfließen, die dürfen nicht zurückfließen, die müssen gezielt ausgegeben werden zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Insofern gibt es Mittel aus den europäischen Strukturfonds und aus dem Kohäsionsfonds. Wir sind der Auffassung, dass in den nächsten zwei Jahren ungefähr 20 bis 21 Milliarden Euro dringend erforderlich sind.

    Müller: Und die eine Komponente ist die Finanztransaktionssteuer, das haben Sie gerade gesagt.

    Steinbrück: Ja.

    Müller: Die würden Sie im Alleingang machen?

    Steinbrück: Wieso im Alleingang? Es sind elf Länder, die grundsätzlich sich bereit erklären.

    Müller: Aber es geht ja offenbar nicht voran. Das ist ja nicht nur die deutsche Schuld?

    Steinbrück: Ja, dann muss man Druck machen! Dann muss man in Brüssel Druck machen, mit der Kommission zusammen, und nicht weiter auf Verzögerung spielen, wie das im Augenblick der Fall ist.

    Müller: 20 Milliarden, 22 Milliarden werden teilweise genannt, auch von der Arbeitsministerin von der Leyen (CDU), die da sagt, das ist insgesamt im Topf, unter anderem auch mit dem Geld, was Europa locker machen könnte. Würde das reichen?

    Steinbrück: Na ja! Im Augenblick haben wir nur eine Beschlusslage, Herr Müller, von sechs Milliarden, die die Kanzlerin auf dem letzten europäischen Rat Donnerstag/Freitag hochgehalten hat. Einen Tag später kommt Frau von der Leyen und sagt, das sei nicht ausreichend. Das ist ja ein merkwürdiges Doppelpass-Spiel. Warum beschließt man denn nicht gleich die Summe, die Frau von der Leyen für richtig erachtet?

    Müller: …, weil Sie das nicht alleine beschließen kann. Das wissen Sie ja auch.

    Steinbrück: Na ja! Aber die Bundesrepublik Deutschland, repräsentiert durch ihre Kanzlerin, hätte doch auf diesem Europäischen Rat sagen können, Leute, die sechs Milliarden reichen vorne und hinten nicht aus.

    Müller: Jetzt haben wir jahrelang in der Finanz- und Wirtschaftskrise darüber diskutiert, dass viel Geld in diese Staaten fließt, nach Portugal, nach Spanien, nach Griechenland, nach Italien, wo auch immer hin, auch Zypern. Aber keiner weiß so recht, was damit vor Ort passiert. Woher soll das Vertrauen der Bürger kommen, in dieses Land, in diese Länder zu investieren?

    Steinbrück: Entschuldigen Sie! Das ist doch ein Vorurteil. Das, was bisher über die letzten acht, neun Jahre seit der Mitgliedschaft von Spanien, von Irland, auch von Portugal und von Griechenland da hingeflossen ist, hat doch Infrastruktur verbessert. Jeder der Andalusien in Spanien besucht weiß, wie die Infrastruktur da in Gang gekommen ist, in Irland auch. Das, was Sie meinen sind eher die Mittel zur Stabilisierung der Banken in diesen Ländern. Darüber kann man streiten, ob das richtig gewesen ist.

    Müller: Aber die Verwaltungen funktionieren ja offenbar auch nicht vernünftig.

    Steinbrück: Na ja, da würde ich Unterschiede machen. Ich gebe zu, dass in Griechenland eine deutliche Verbesserung der Administration und der Fähigkeit und Möglichkeit erforderlich ist, das Geld vernünftig zu verteilen. Aber ich zweifele nicht daran, dass Spanien, dass Irland, dass Portugal, dass Italien durchaus mit zusätzlichen Mitteln ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern können.

    Müller: 8:21 Uhr, Sie hören den Deutschlandfunk und Peer Steinbrück, der SPD-Kanzlerkandidat. – Herr Steinbrück wenn Sie bei uns schon am Telefon sind, ein Themenschnitt: Die amerikanische Spionage, die Internet-Überwachung. Empörung überall, vor allem auch in Deutschland, vor allem auch bei der Opposition. Woher wissen Sie, dass die Kanzlerin mehr weiß?

    Steinbrück: Gar nicht! Nur die Kanzlerin hat mit Herrn Obama kürzlich ein Gespräch gehabt, wo es um den Datenaustausch und die Datenbereitstellung von großen Internet-Giganten an eine amerikanische Sicherheitsbehörde ging, und die Fragestellung ist, ob über all die letzten Treffen und das Zusammenwirken mit den Amerikanern die Bundesregierung (auf welchem Wege auch immer) durchaus einen Anhaltspunkt dafür gehabt hat, dass auch in Deutschland direkt Spionage oder Abhörtätigkeiten der NSA stattfinden, möglicherweise mit einer Billigung auch von hiesigen Stellen. Und das zu recherchieren und aufzuklären ist, glaube ich, im Sinn der Sache im Augenblick und erforderlich.

    Müller: Also das ist von Ihnen, um das klarzustellen, nur eine bloße Vermutung, dass die Kanzlerin mehr weiß als sie sagt?

    Steinbrück: Ich habe festgestellt, dass über 48 Stunden lang die Bundeskanzlerin sich nicht mit einem Kommentar und einer Bewertung an die Öffentlichkeit bewegt hat und klargestellt hat, wie sie dazu steht. Der Regierungssprecher hat das am Montag oder gestern gemacht und offenbar deutlich gemacht, dass die Bundeskanzlerin nicht informiert war. Damit hat es jedenfalls in der Ableitung des Regierungssprechers eine Stellungnahme gegeben.

    Müller: Wissen nicht alle Kanzler immer mehr als sie sagen?

    Steinbrück: Na ja, man muss wissen, wie man mit den Daten und mit den Informationen umgeht, die man bekommt, auch über nachrichtendienstliche Dienstleistungen, die es gibt. Nur die Abhörung von Freunden wie eines Partners, der Bundesrepublik Deutschland, von EU-Repräsentanten oder Repräsentationen oder Vertretungen in den USA, die angebliche Verwanzung auch des Ratsgebäudes in Brüssel, das sind schon sehr weitreichende, wie ich finde, ziemlich entsetzliche und bedrückende Aktivitäten, die dort die NSA aus den USA entwickelt hat.

    Müller: Jetzt haben ja viele Politiker überrascht getan. Sie waren jahrelang Mitglied auch der Bundesregierung in der Großen Koalition. Haben Sie damals auch davon gewusst und geahnt?

    Steinbrück: Nein! Ich war ja nicht Mitglied des Gremiums, das auch informiert wird von Geheimdienstaktivitäten oder von den deutschen Nachrichtendiensten. Insofern war ich nie beteiligt an dem Austausch oder an der Information der Erhebungen beziehungsweise der Aktivitäten der Nachrichtendienste.

    Müller: Und darüber ist auch nie gesprochen worden? Ein Finanzminister wird da nicht informiert am Kabinettstisch?

    Steinbrück: Nein. Ist das nun der Versuch, den Finanzminister, egal wie er heißt, da reinzumängeln von Ihnen, oder was soll das?

    Müller: Nein! Es ist nur die Frage, weil viele ja sagen, dass vieles schon bekannt war. Wir haben mit Graham Watson eben gesprochen im Europäischen Parlament. Der sagt, vor zehn Jahren haben wir schon Informationen bekommen, dass es großflächig angelegte Abhörsysteme gibt. Jetzt ist die Frage an Sie: Wussten Sie das?

    Steinbrück: Nein, natürlich nicht! Woher denn? Ich bin doch nicht Mitglied der Gremien, die informiert werden von Geheimdiensten.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Steinbrück: Ja, Herr Müller!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.