Bereits im Juni hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen sozialen Pflichtdienst angeregt, was damals vor allem als Vorschlag für junge Menschen verstanden wurde. Obwohl die Idee größtenteils auf Ablehnung stößt, hält Steinmeier daran fest und bekräftigte nun, eine verpflichtender sozialer Dienst auch für Ältere könne ein Weg zu mehr Miteinander in der Gesellschaft sein.
Worum geht es bei Steinmeiers Vorschlag?
Frank-Walter Steinmeier sorgt sich um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Sein Vorschlag: Jeder soll einen sozialen Pflichtdienst absolvieren - in sozialen Einrichtungen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr. In der ARD erklärte er, es gehe darum, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen - über die "eigenen Blasen", den eigenen Tellerrand hinaus.
"Wir müssen neue Wege finden, um Entfremdung entgegenzuwirken", bekräftigte der Bundespräsident am 8. November bei einer Veranstaltung im Schloss Bellevue. "Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Frauen und Männer mindestens einmal in ihrem Leben für eine gewisse Zeit aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz anderer Menschen widmen."
Das müsse nicht unbedingt ein ganzes Jahr dauern, sagte Steinmeier. Die Pflichtzeit könne auch kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte verteilt werden - und sie soll für alle gelten, nicht nur für junge Leute. Sie soll zudem anders gestaltet sein als die bestehenden Freiwilligendienste, auch anders als der Wehrdienst.
Welche Reaktionen gibt es?
Aus der Politik kommt zu wenig Unterstützung, um die Idee mit der Mehrheit der Ampelkoalition Gesetz werden zu lassen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich skeptisch und wies auf verfassungsrechtliche Schranken hin: Das Grundgesetz verbietet Zwangsdienste. Die FDP ist strikt dagegen und die Grünen wollen stattdessen Freiwilligendienste stärken. Auch kirchliche Jugendverbände haben sich dagegen ausgesprochen.
Nach den Freiheitseinschränkungen durch Corona halten es zudem viele Jugendliche für falsch, einen Zwangsdienst einzuführen und damit Menschen erneut Freiheiten zu nehmen. Zudem werden Stimmen laut, die auf die bestehenden Möglichkeiten hinweisen, sich für die Gesellschaft zu engagieren, zum Beispiel das FSJ, das Freiwillige Soziale Jahr, das zunächst gestärkt werden solle.
Zukunftsforscher Daniel Dettling vom Think Tank "Zukunftsinstitut" findet im Podcast "Mal angenommen" zwar viele Argumente für Steinmeiers Idee: Die Gesellschaft könnte näher zusammenrücken, wenn junge Menschen sichtbar einen Dienst machten und sich engagierten. Aber er sagt auch: "Das ist nicht das Idealbild einer freien, liberalen, demokratischen Gesellschaft, dass man einen solchen Zwangsdienst machen muss." Er befürchtet, dass der Pflichtdienst missbraucht werden kann – beispielsweise in Bereichen, in denen ohnehin schon Fachkräftemangel herrscht.
Das Thema ist dennoch in gewisser Weise populär - auch wenn man die Genese anschaut. Die Erfinderin dieser sozialen Pflichtzeit ist eigentlich Annegret Kramp-Karrenbauer - in ihrer Zeit als CDU-Generalsekretärin. Damals hatte sie die Idee für ein "Gesellschaftsjahr". Die CDU hat sich noch Ende September dieses Jahres für ein verpflichtendes Dienstjahr ausgesprochen, ein Gesellschaftsjahr für alle.
Und laut einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung gibt es eine Mehrheit dafür, den Vorschlag des Bundespräsidenten zu unterstützen: Rund zwei Drittel der Befragten (64 Prozent) würden der Einführung einer flexibel gestaltbaren Pflichtzeit unabhängig vom Alter zustimmen.
Warum ist Steinmeier dieses Anliegen aktuell so wichtig?
Es ist ein politisches Projekt, das sich der Bundespräsident auf die Fahnen geschrieben hat, um die gesellschaftliche Teilung zu überwinden. Damit hat er ein Thema für seine zweite Amtszeit gefunden. Bundespräsidenten brauchen in der zweiten Amtszeit nochmal ein neues Thema, sie müssen sich noch mal fast neu erfinden. Das war für viele Bundespräsidenten schwierig.
Für Frank-Walter Steinmeier war es insbesondere deshalb schwierig, weil er in der Außenpolitik selber in die Kritik geraten ist. Hier hat er ein Thema, mit dem er auch an das Leitthema seiner ersten Amtszeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Brückbauen, anknüpfen kann.
Quellen: Frank Kapellan, Stephan Detjen, Bertelsmann-Stiftung, og