In langer Schlange schieben sich die Autos zwischen den sanften Hügeln hindurch. Ihre Schweinwerfer leuchten in der einsetzenden Abenddämmerung. Der berühmte Steinkreis liegt auf einer flachen Erhebung, unberührt von der Hektik des Feierabendverkehrs und vom Getümmel der Besucher, die aus aller Welt nach Stonehenge gereist sind. Sie drängen sich hinter der Absperrung rund um die mysteriöse Anlage aus mächtigen, aufrecht stehenden Steinblöcken.
"Heute wird das Monument von den mächtigen Sarsensteinen dominiert, die oben durch quer liegende Decksteine verbunden sind. Diese Konstruktion wurde vor rund 4500 Jahren errichtet. Aber da hatte das Gelände bereits eine lange Geschichte."
Schon vor rund 5.000 Jahren hatten Steinzeitleute den kreisförmigen Graben und den kleinen Wall angelegt, die die Anlage noch heute umschließen, berichtet Dr. Nicola Snashall. Sie ist Archäologin beim National Trust, einer gemeinnützigen Organisation, die in Großbritannien viele Denkmäler betreut.
Obwohl Stonehenge schon seit Jahrhunderten Wissenschaftler und Gelehrte beschäftigt, gibt die Anlage in Südengland immer noch neue Erkenntnisse preis. Vor allem hier und auf den Orkney-Inseln, am entgegengesetzten, nördlichen Ende Großbritanniens, haben Forschungen der letzten Jahre das Bild der Jungsteinzeit gründlich verändert.
Zeit des Ackerbaus und Viehzucht
Die Jungsteinzeit, das Neolithikum, war die erste Epoche, in der Menschen Ackerbau und Viehzucht betrieben. Sie bauten in der Regel mit Holz. Man erkennt das sogar an Details des Steinkreises, erläutert Nicola Snashall.
"Wenn Sie die Steine genauer ansehen, auf denen keine Decksteine mehr liegen, erkennen Sie oben drauf einen kleinen, vorstehenden Knubbel – das ist ein Teil einer Verzapfung. Auf der anderen Seite, unter dem Boden des Decksteins, war dann ein entsprechendes Loch. Das ist verblüffend, denn diese Verzapfungen kennt man eigentlich aus dem Holzbau. Vielleicht haben die Erbauer eine Technik in Stein nachgeahmt, die sie normalerweise mit Holz verwendeten."
Archäologen kennen tatsächlich eine Fülle von Kreisbauten, die aus Holzpfosten bestanden: Obwohl das Holz längst zerfallen ist, können sie die Pfostenlöcher im Boden noch identifizieren. Die Forscher wissen auch, dass die Steinzeitmenschen in Häusern aus Holz wohnten. Warum also errichteten sie manche Kreisbauten aus Stein? In Stonehenge konnte man nicht einmal Stein abbauen. Die großen Sarsensteine, harte Sandsteinblöcke, mussten über mindestens 30 Kilometer herantransportiert werden. Die Blausteine, die im Inneren des Kreises aufgestellt waren, kamen sogar über 240 Kilometer weit aus Wales. Wieso machten sich die Menschen die Mühe, Steine von weither zu holen, zu behauen und aufzurichten, obwohl der Aufwand mit Holz viel geringer gewesen wäre?
Weil diese Anlage eine andere Funktion hatte als Kreise aus Holzpfosten, erklärt Dr. Josh Pollard, Archäologe an der Universität Southampton und führender Forscher im Stonehenge Riverside Projekt: Sie sollte dem Ahnenkult dienen.
"Stein ist dauerhaft. Damit wollen Menschen etwas Dauerhaftes schaffen, etwas, dass weit über ein einzelnes Leben hinaus Bestand hat. Und im Ahnenkult gilt die Welt der Vorfahren eben als dauerhaft, stabil, ewig."
200 verbrannte Individuen
Die Welt der Lebenden dagegen ist vergänglich – gerade für Menschen der Jungsteinzeit war das eine fast alltägliche Erfahrung: Die Kindersterblichkeit war hoch, die Lebenserwartung dürfte maximal bei 35 Jahren gelegen haben. Auch die Häuser aus hölzernem Flechtwerk und Reet-Dächern waren nicht sehr dauerhaft. Dass die Kreisanlagen aus Stein dagegen Bauten für die Vorfahren darstellten, bestätigen auch Grabungsfunde in Stonehenge.
"Wir haben dafür sehr konkrete Belege. Betrachten Sie nur die Menge menschlicher Knochen, die hier zutage gekommen ist: Einerseits Stücke von einzelnen, unverbrannten Knochen, insbesondere aber die große Menge an Leichenbrand. Man kann es nicht genau quantifizieren, aber wir haben wohl Überreste von mehr als 200 verbrannten Individuen, die in Stonehenge bestattet wurden. Vom Anfang des 4. Jahrtausends vor Christus bis zur Mitte des 3. Jahrtausends, als die größten Steine aufgerichtet wurden. Also eine sehr enge Beziehung zwischen den Toten und dem Monument."
Pollard und seine Kollegen im groß angelegten Stonehenge Riverside Projekt, das in den letzten Jahren eine Fülle neuer Erkenntnisse brachte, sehen die Steinkreise als Häuser für die Ahnen an, Kreisanlagen aus Holz dagegen als Bauten für die Lebenden: Eine Art gemeinschaftlicher Festsäle, in denen Gelage und Versammlungen stattfanden. Die Kreisform war vom Grundriss der Wohnhäuser abgeleitet, vermuten die Wissenschaftler, nur der Durchmesser war drastisch vergrößert.
"Wir haben ein paar Spuren von zeitgenössischen Häusern gefunden, insbesondere in Durrington Walls, zwei bis drei Kilometer östlich von Stonehenge. Sie hatten Wände aus Flechtwerk und einen Herd in der Mitte. Auch anderswo sind solche kurzlebigen Bauten belegt."
Holz war knapp
Die Entdeckung in Durrington Walls war eine große Überraschung: Die ersten Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe von Stonehenge! Sie sind rund 4.500 Jahre alt, stammen also aus der Zeit, als die mächtigen Sarsensteine aufgerichtet wurden: Vermutlich haben Arbeiter darin gewohnt, die an diesem letzten, größten Ausbau des Steinkreises beteiligt waren.
Wie die runden kleinen Gebäude – Durchmesser vier bis fünf Meter – im Detail aussahen, zeigen Beispiele vom fernen Nordende Großbritanniens: Schon vor Jahrzehnten sind sie auf den schottischen Orkney-Inseln ausgegraben worden. Nirgendwo sonst in Europa existieren so gut erhaltene Wohnbauten aus der Jungsteinzeit, denn auf den flachen, windumtosten Inseln hat man mit Stein gebaut: Dort wuchsen kaum Bäume und Holz war knapp.
"Wenn Sie dort eines der Häuser betreten, stoßen Sie links auf eine große Steinkiste und Sie wenden sich nach rechts. Die Herdstelle liegt dann in der Mitte, der Hausaltar oder die Anrichte steht vor Ihnen an der Stirnwand, rechts finden Sie meist ein größeres Bett, links ein kleineres."
Und so sieht es in jedem Haus in Skara Brae aus, berichtet Julie Gibson, County-Archäologin in Kirkwall, dem Hauptort der Orkneys. Dank der fruchtbaren Böden und der leicht zu verarbeitenden Stein-Vorkommen waren die Inseln vor rund 5.000 Jahren ein wohlhabendes kulturelles Zentrum, von dem viele Impulse ausgingen.
Die Geister der Vorfahren
Die Bauform der Wohnhäuser hat sich offenbar von dort aus über ganz Britannien verbreitet. Auch die typischen neolithischen Kreisanlagen stehen auf den Orkneys: In Ermangelung von Holz wurden alle aus Stein gebaut, aber sie scheinen ebenfalls unterschiedliche Funktionen gehabt zu haben – wie die Holz- und Steinkreise an anderen Orten der Britischen Inseln. So brachten Ausgrabungen im Steinkreis von Brodgar keinerlei Funde zutage, in der Mitte der Steine von Stenness hingegen fand sich eine Herdstelle, im umgebenden Graben stießen Archäologen auf zahlreiche Rinderknochen. Nick Card, der dort die aktuellen Ausgrabungen leitet, fasst die Schlussfolgerungen zusammen:
"Mein Kollege Mike Parker Pearson hat die Theorie aufgestellt, dass Stonehenge der Ort war, an dem die Geister der Vorfahren nach ihrem Tod lebten, während Durrington Walls das Land der Lebenden darstellte. Und das passt auch auf Orkney: Wir haben Belege für große Feiern bei den Steinen von Stenness – das Land der Lebenden – und der Steinkreis von Brodgar war das Land der Toten, wo die Geister residierten."
Der Ahnenkult liefert auch eine Erklärung dafür, warum die Architektur vieler Steinkreise auf den Gang von Sonne oder Mond ausgerichtet ist. Die Gestirne wirken wie ein Inbegriff der Ewigkeit: Sonne und Mond gehen jeden Tag auf und unter, sie ziehen immer im gleichen Rhythmus über den Himmel, über Tage, Monate und Jahre. Sie scheinen zeitlos und unvergänglich - wie die Welt der Ahnen.
Ahnenkult
Steinzeitmenschen setzten Himmelserscheinungen häufig in Beziehung zu den Toten. Auf den Orkneys zum Beispiel fällt das Licht der aufgehenden Sonne zur Wintersonnenwende durch einen langen Gang in die Grabkammer von Maes Howe. Und im Steinkreis von Stonehenge ist die Architektur ebenfalls an der Sonnenwende orientiert, weiß Nicola Snashall:
"Wenn wir hier rübergehen, kann ich es Ihnen zeigen."
An einem Durchgang durch den Ring aus Wall und Graben sieht man eine gerade Linie in die Wiesen hinein laufen: Die "Stonehenge Avenue", zwei Gräben mit niedrigen Wällen daneben.
"Wenn wir im Neolithikum hier am Mittsommertag gestanden hätten, hätten wir die Sonne gerade vor uns aufgehen sehen."
Zur Wintersonnenwende musste man in die entgegengesetzte Richtung blicken: Dann sah man, wie die Sonne zwischen zwei mächtigen Blöcken des inneren Steinkreises unterging.
"Den Menschen damals muss das wie die Achse des Universums erschienen sein. Für Bauern, die darauf angewiesen waren, dass die Sonne wiederkam und ihr Getreide reifen ließ, muss dies ein magischer Ort gewesen sein."
Und mehr noch. Ausgrabungen haben kürzlich ein verblüffendes Phänomen an den Tag gebracht: Genau unter den Gräben und Wällen der Stonehenge Avenue verlaufen Gletscherspuren im Boden, entstanden am Ende der letzten Eiszeit.
"Durch reinen Zufall folgen diese Gletscherspuren genau der Achse zwischen dem Sonnenuntergang zur Wintersonnenwende und dem Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende. Für die Vorzeit-Menschen, die hier her kamen, muss dieser Ort wirklich sehr speziell gewesen sein."
Außergewöhnliches Kult-Zentrum
Stonehenge war ein außergewöhnliches Kult-Zentrum. Die gesamte Umgebung ist im Lauf von mehr als einem Jahrtausend zu einer Ritual-Landschaft geformt worden.
"Weiter draußen in der Landschaft, jenseits der Avenue, liegt ein anderes Monument der Vorzeit, das noch älter ist als die Kreisanlage. Es zieht sich vom Gipfel der Hügelkette rechts den ganzen Weg hinüber bis zur Hügelkette links, man nennt es den Stonehenge-Cursus."
Der "Cursus" diente vermutlich als eine Art Prozessionsstraße. Gut drei Kilometer weit verlief er über Hügel und durch Täler.
"Eines der merkwürdigen Dinge daran ist, dass er etwa auf halber Strecke höchstwahrscheinlich durch einen Fluss führte. Man planschte auf seinem Weg sogar im Wasser! Das ist wirklich wie eine Reise durch die Landschaft."
Manche Wissenschaftler meinen, dass diese rituelle Aneignung der Landschaft mit dem Kern des Neolithikums zusammenhängt: Indem die Menschen begannen, regelmäßig zu säen und zu ernten, Jahr für Jahr, eigneten sie sich das Land an. Daher zogen sie auch quer durch die Landschaft, um die übernatürlichen Kräfte zu verehren, die ihnen fruchtbare Böden, Licht und Wärme schenkten, ihre Lebensgrundlage.
Stonehenge mag das komplexeste Heiligtum der Jungsteinzeit sein – doch es bezeugt zugleich den Untergang der neolithischen Kulturen. Die letzte, größte Ausbaustufe, der Kreis mit den mächtigen Sarsensteinen, entstand vor etwa 4.500 Jahren in einem gewaltigen Arbeitseinsatz. Experimente haben ergeben: Um einen Steinblock zu einer gleichmäßigen Stele zu behauen, waren zehn Leute zehn Jahre lang beschäftigt. Zur selben Zeit brachten Reisende aus Mitteleuropa bereits Äxte aus Kupfer und Schmuck aus Gold mit auf die Britischen Inseln. Die Ära der Metallverarbeitung brach an – und mit der neuen Technologie entstanden neue Werte, ein neuer Glaube, ein anderes Sozialsystem. Die alte, lange bewährte Ordnung der Steinzeitmenschen war infrage gestellt. Joshua Pollard:
"Es wirkt so, als ob die Menschen auf die Veränderung, die neuen Kulturen, die neuen gesellschaftlichen Werte reagierten, indem sie einen letzten dramatischen Versuch unternähmen, die alte Ordnung wiederherzustellen. Sie steckten unheimlich viel Energie in den Bau von Monumenten, die größer waren als alles, was man je gesehen hatte."
Monumentalen Statuen
Die neuesten Ausgrabungen auf den Orkney-Inseln deuten auf dasselbe Phänomen hin: In den Häusern am Ness von Brodgar, einem großen Versammlungszentrum, muss etwa in dieser Phase ein riesiges Festmahl stattgefunden haben. Hunderte Rinder wurden dafür geschlachtet, ein Großteil der Herden. Und dann begannen die Menschen, ihre kunstvollen Bauten zu zerstören – freiwillig, ohne Kämpfe. Wussten die Steinzeitleute, dass ihre Welt untergehen würde? Zelebrierten sie den Abschied mit einem letzten sinnlosen, aber spektakulären Aufbäumen?
Viele britische Archäologen glauben daran. Joshua Pollard verweist auf ein Beispiel aus einer anderen Kultur. In dieser Lage, sagt er-
"Neigen die Menschen dazu, das, was sie schon immer gemacht haben, weiter zu tun – aber in einem völlig übertriebenen Maß. Man kann das auf den Osterinseln sehen: Als die Ureinwohner in Kontakt mit Europäern kommen, beginnen sie, ihre monumentalen Statuen noch viel größer zu bauen. Die größte Statue, die je hergestellt wurde, ist wohl eine der Allerletzten."