Thomas Hettche: Das Besondere ist, dass er der Erste war, der die Liebe, die körperliche Liebe geschildert hat in der Moderne ohne Einkleidung. Seine Figuren, die Sonette handeln immer von Paaren, die sich lieben, seine Figuren kommen aus ohne antike Camouflage, sind keine Götter, es sind einfach Menschen, ein Mann und eine Frau immer, die sich lieben und die bei der Liebe sprechen. Und das hat einen enorm modernen Duktus und etwas sehr Menschliches, wie ich finde.
Sojitrawalla: Nun erscheinen im DuMont Verlag in einem sehr schönen, illustrierten, zweisprachigen Band Ihre Nachdichtungen von Pietro Aretinos Sonetten unter dem Titel Stellungen oder vom Anfang und Ende der Pornografie. Aretinos Verse erschienen zum ersten Mal 1525, wurden sofort verboten und verbrannt, waren dann beinahe 400 Jahre lang verschollen, tauchten 1929 wieder auf. Wie und wann haben sie selbst, Thomas Hettche, Aretinos Sonette entdeckt?
Hettche: Also ich war zum ersten Mal in Venedig, also zum ersten mal länger in Venedig, das war Anfang der 90er Jahre. Und habe dort gelebt im deutschen Studienzentrum und hatte Kontakt zu vor allem Wissenschaftlern, die da gearbeitet haben und mich mitgenommen haben in die Bibliothek des Ortes, die Biblioteca Marciana, neben dem Markusplatz gelegen, und ich habe dort in Handschriften geblättert und habe einige Sachen entdeckt, u.a. auch zum ersten Mal von Aretino gehört und dann da angefangen zu lesen und mich kundig zu machen, zu recherchieren, was dieser Mann gemacht hat und habe dann die Kurtisanengespräche von ihm gelesen und eben auch die sehr verschiedenen Ausgaben, die es gab von diesen Gedichten, die aber in der Regel im Deutschen nie den Originalausgaben gefolgt sind. Es ist da viel Fama dabei, viel Hörensagen, viel Nachdichtung von anderen Autoren, die man nicht kennt, wie oft bei pornografischen Texten, die ja so einen ganzen Vorhof des Geheimnisses mit sich bringen, und da wollte ich sozusagen, den Kern herausschälen, wollte die 16 Gedichte, die diesen Mann berühmt gemacht haben, im Deutschen nachdichten.
Sojitrawalla: In Ihrem Essay Vom Anfang und Ende der Pornografie, der in diesem Band enthalten ist, schreiben Sie, dass wir gerade das Ende der "erregenden Literatur" erleben. Wie kommen Sie zu diesem Befund?
Hettche: Man könnte sagen, dieser Befund ist seltsam, da in den letzten Jahren ja sehr viele Texte, die von Körpern und auch pornografisch von Körpern erzählen, große Konjunktur hatten, bei Lesern, bei der Kritik, man denke an Michel Houellebecq, Catherine Millet. Aber ich denke, dass sozusagen das Besondere der Pornografie, nämlich erregend zu sein und verboten und mit diesem Spiel zwischen Illustration der Lust und Findung von auch einer Sprache der Lust zu arbeiten, dass dieses Spiel von sehr wenigen Menschen noch mitgespielt wird. Denn die Pornografie hat längst ihr Feld verlassen und ist zur Bildpornografie geworden. Ich glaube, erregende Texte bilden längst nicht mehr den Korpus dieser Gattung von Literatur, die immer auch neben natürlich ganz viel Zweckliteratur sag ich mal, immer auch Bücher hervorgebracht hat, Romane hervorgebracht hat, die literarisch hoch stehend waren, die mehr waren als nur die Lektüre mit der einen Hand, wie es mal genannt worden ist.
Sojitrawalla: Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat einmal gesagt, "Porno ist Ficken. Und Erotik ist das vor dem Ficken". Worin liegt für Sie der Unterschied?
Hettche: Die Formulierung find ich nicht falsch. Ich konnte nie mit der Erotik sehr viel anfangen im Bezugsfeld der Literatur. Literatur, die sich sozusagen der Sache ganz zuwendet, hat mich immer mehr interessiert. Literatur, die wirklich auf die Erregung geht, die versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist nie dies etwas Weichgespülte, was der Begriff Erotik immer mitbedeutet. Zumal ja Literatur da spannend wird in diesem Bereich, wo sie wirklich mit Verboten zu tun hat, weil sie da Ausdruck ist auch von Zeitläuften, von dem Denken der Gesellschaft über Verbot und Moral, über das, was gezeigt werden darf und was nicht. Und Erotik ist immer die Literatur, die sich gerade noch das traut, was erlaubt ist. Pornografie war immer Literatur, die etwas anderes gesucht hat und versucht hat.
Sojitrawalla: Und was kommt denn Ihrer Meinung nach dem Ende der Pornografie? Ist für Sie eine Form der Neuen Prüderie denkbar?
Hettche: Nein, ich glaube an den Texten von Michel Houellebecq oder an den Romanen von Catherine Millet kann man sehen, dass die Schilderung des Körpers einen anderen Stellenwert bekommt. Sie ist bei beiden Autoren etwas ganz Pragmatisches, etwas fast Naturalistisches. Körper sind nicht mehr die Punkte der Aufladung mit Emotionen, sondern sind beinahe etwas Neutrales. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es in diesen neuen Texten, diesen neuen pornografischen Texten eher darum geht, den Körper zu retten, den Körper in einer naturalistischen Atmosphäre zu retten, statt ihn zu überhöhen. Das mag zu tun haben eben mit der großen Dominanz der Bildkörper, die uns umgibt und die unser Bild vom Körper bestimmen, dass Literatur ihren Bereich eher darin sieht, so was wie Natürlichkeit und Einfachheit in der Schilderung des Körperlichen zu liefern.
Sojitrawalla: Ich möchte noch mal kurz auf den Unterschied zwischen Pornografie und Erotik zurückkommen. Der Schriftsteller Leon de Winter sagt, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Pornografie und Erotik die Objektivierung der Lust sei. Für ihn geht es in der Pornografie um unpersönliche Leidenschaft, um blinde Geilheit, in der Erotik dagegen immer auch um den Gegenstand der Lust, die spezifische Frau, die begehrt wird. Sehen Sie das, Thomas Hettche, auch so oder sprechen nicht die Sonette von Aretino eigentlich dagegen?
Hettche: Leon de Winter ist vielleicht ein bisschen naiv an dem Punkt, weil genau das macht Erotik ja so langweilig, dass in erotischen Texten sozusagen schon klar ist wer, also wo sozusagen die Grenzen der einzelnen Figuren sind. Erotische Literatur wie sehr viele andere Genres der etwas betulichen Literatur stellen nie in Frage, wo eine Figur aufhört und wo sie anfängt. Aber der Text ist doch wirklich so, dass wir uns selber erfahren; jemand in einer Grenzsituation, gerade auch in der Liebe, dass wir uns oft durchaus nicht sicher sind, wo der eigene Körper endet, wo er beginnt, dass wir nicht sicher sind in der Liebe, wenn wir uns wirklich verlieren, wo das Ich endet und wo es anfängt. Und genau bei dieser Auflösung des Ichs denke ich beginnt Pornografie mehr zu sein als eben nur erregende Lektüre, weil sie lotet aus, wie wir uns in Grenzerfahrungen erleben, wie wir wir sind und wie wir das bejahen können, dass wir nicht mehr jemand sind. Und das zeigt gerade auch, denke ich, Aretino in seinen Sonetten, die natürlich handeln von einem Mann und einer Frau, die sozusagen gesichtslos bleiben, die eine Allgemeinheit sind. Aber sogleich merkt man dann doch, in der Art und Weise, wie diese beiden vielleicht immer identischen, vielleicht verschiedenen Paare miteinander reden, spürt man sozusagen den Subtext der Persönlichkeit und die Vorliebe und die Angst und die Zärtlichkeit des jeweils Einzelnen, und ich finde gerade dieses Changieren zwischen dem ganz Subjektiven und dem ganz Allgemeinen hat Literatur in allen Bereichen immer ausgezeichnet. Die Gewissheit, dass man eine Person ist, ist relativ langweilig.
Sojitrawalla: In seinem neuen Roman bezeichnet Philip Roth Sex auch als "Rache am Tod". Gilt das dann genauso für die Pornografie?
Hettche: Unbedingt. Meine beiden Protagonisten in diesen Sonetten stelle ich mir immer gerne vor als zwei Artisten, die ihre Saltos schlagen und zwar das Bett unter sich haben, aber kein Netz, was sie sozusagen vor dem darunter lauernden Tod schützt. (...) Ich glaube, Liebe hat immer damit zu tun, dass man sich vom Tod abstößt.
Sojitrawalla: In einem Brief stellt Aretino selbst einmal die wohl rhetorische Frage "Was ist Schlimmes dabei, einen Mann zu sehen, der eine Frau besteigt?" Ich würde die Frage ganz gern an Sie weitergeben. Was ist Schlimmes daran?
Hettche: Für Aretino war diese Frage sehr wichtig, weil er auch in seinem anderen wichtigen Buch, den Kurtisanengesprächen, sagt er einmal, es käme darauf an, die Sachen beim Namen zu nennen, man solle eben keine Metaphern finden, sondern die Liebe mit den alltagssprachlichen Begriffen bezeichnen, was er in diesen Gedichten auch tut, was damals aber eine Neuerung war. Damals, wo man sich um eine hohe Sprache im Italienischen auch bemüht hat, in Latein noch geschrieben hat oder aber sich an Petrarca orientiert hat in einer sehr metaphernreichen, verkleidenden Sprache. Dagegen steht Aretino mit seiner sehr einfachen Sprache, die versucht, die Liebe beim Wort zu nehmen.
Sojitrawalla: Was ist eigentlich Sinn und Zweck von Pornografie. Also, ist es Aufklärung, Anregung, Sublimation oder alles auf einmal?
Hettche: Also Pornografie ist dazu da, zu erregen. Das ist ihre Bestimmung. In diesem Bereich ist sie entstanden, und dafür hatte man ihr einen Raum eingeräumt in den Kellern der Inquisition und unter den Ladentischen der Buchhändler, aber davon abgehoben ist sie eben auch eine Auseinandersetzung der Literatur oder der Gesellschaft mit der Frage, wie wir mit Liebe umgehen. (...) Das heißt Pornografie spiegelt immer ihre Zeit und ist damit Ausdruck von großer Menschlichkeit.
Sojitrawalla: Und wann ist Pornografie eigentlich Kunst für Sie, Thomas Hettche, und wann auf keinen Fall?
Hettche: Ich glaube, das Tolle bei ihr ist, dass sie per se erstmal überhaupt nicht Kunst sein muss, nicht sein will und deshalb genau diese Frage so schwierig zu beantworten ist.
Sojitrawalla: Nun erscheinen im DuMont Verlag in einem sehr schönen, illustrierten, zweisprachigen Band Ihre Nachdichtungen von Pietro Aretinos Sonetten unter dem Titel Stellungen oder vom Anfang und Ende der Pornografie. Aretinos Verse erschienen zum ersten Mal 1525, wurden sofort verboten und verbrannt, waren dann beinahe 400 Jahre lang verschollen, tauchten 1929 wieder auf. Wie und wann haben sie selbst, Thomas Hettche, Aretinos Sonette entdeckt?
Hettche: Also ich war zum ersten Mal in Venedig, also zum ersten mal länger in Venedig, das war Anfang der 90er Jahre. Und habe dort gelebt im deutschen Studienzentrum und hatte Kontakt zu vor allem Wissenschaftlern, die da gearbeitet haben und mich mitgenommen haben in die Bibliothek des Ortes, die Biblioteca Marciana, neben dem Markusplatz gelegen, und ich habe dort in Handschriften geblättert und habe einige Sachen entdeckt, u.a. auch zum ersten Mal von Aretino gehört und dann da angefangen zu lesen und mich kundig zu machen, zu recherchieren, was dieser Mann gemacht hat und habe dann die Kurtisanengespräche von ihm gelesen und eben auch die sehr verschiedenen Ausgaben, die es gab von diesen Gedichten, die aber in der Regel im Deutschen nie den Originalausgaben gefolgt sind. Es ist da viel Fama dabei, viel Hörensagen, viel Nachdichtung von anderen Autoren, die man nicht kennt, wie oft bei pornografischen Texten, die ja so einen ganzen Vorhof des Geheimnisses mit sich bringen, und da wollte ich sozusagen, den Kern herausschälen, wollte die 16 Gedichte, die diesen Mann berühmt gemacht haben, im Deutschen nachdichten.
Sojitrawalla: In Ihrem Essay Vom Anfang und Ende der Pornografie, der in diesem Band enthalten ist, schreiben Sie, dass wir gerade das Ende der "erregenden Literatur" erleben. Wie kommen Sie zu diesem Befund?
Hettche: Man könnte sagen, dieser Befund ist seltsam, da in den letzten Jahren ja sehr viele Texte, die von Körpern und auch pornografisch von Körpern erzählen, große Konjunktur hatten, bei Lesern, bei der Kritik, man denke an Michel Houellebecq, Catherine Millet. Aber ich denke, dass sozusagen das Besondere der Pornografie, nämlich erregend zu sein und verboten und mit diesem Spiel zwischen Illustration der Lust und Findung von auch einer Sprache der Lust zu arbeiten, dass dieses Spiel von sehr wenigen Menschen noch mitgespielt wird. Denn die Pornografie hat längst ihr Feld verlassen und ist zur Bildpornografie geworden. Ich glaube, erregende Texte bilden längst nicht mehr den Korpus dieser Gattung von Literatur, die immer auch neben natürlich ganz viel Zweckliteratur sag ich mal, immer auch Bücher hervorgebracht hat, Romane hervorgebracht hat, die literarisch hoch stehend waren, die mehr waren als nur die Lektüre mit der einen Hand, wie es mal genannt worden ist.
Sojitrawalla: Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat einmal gesagt, "Porno ist Ficken. Und Erotik ist das vor dem Ficken". Worin liegt für Sie der Unterschied?
Hettche: Die Formulierung find ich nicht falsch. Ich konnte nie mit der Erotik sehr viel anfangen im Bezugsfeld der Literatur. Literatur, die sich sozusagen der Sache ganz zuwendet, hat mich immer mehr interessiert. Literatur, die wirklich auf die Erregung geht, die versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist nie dies etwas Weichgespülte, was der Begriff Erotik immer mitbedeutet. Zumal ja Literatur da spannend wird in diesem Bereich, wo sie wirklich mit Verboten zu tun hat, weil sie da Ausdruck ist auch von Zeitläuften, von dem Denken der Gesellschaft über Verbot und Moral, über das, was gezeigt werden darf und was nicht. Und Erotik ist immer die Literatur, die sich gerade noch das traut, was erlaubt ist. Pornografie war immer Literatur, die etwas anderes gesucht hat und versucht hat.
Sojitrawalla: Und was kommt denn Ihrer Meinung nach dem Ende der Pornografie? Ist für Sie eine Form der Neuen Prüderie denkbar?
Hettche: Nein, ich glaube an den Texten von Michel Houellebecq oder an den Romanen von Catherine Millet kann man sehen, dass die Schilderung des Körpers einen anderen Stellenwert bekommt. Sie ist bei beiden Autoren etwas ganz Pragmatisches, etwas fast Naturalistisches. Körper sind nicht mehr die Punkte der Aufladung mit Emotionen, sondern sind beinahe etwas Neutrales. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es in diesen neuen Texten, diesen neuen pornografischen Texten eher darum geht, den Körper zu retten, den Körper in einer naturalistischen Atmosphäre zu retten, statt ihn zu überhöhen. Das mag zu tun haben eben mit der großen Dominanz der Bildkörper, die uns umgibt und die unser Bild vom Körper bestimmen, dass Literatur ihren Bereich eher darin sieht, so was wie Natürlichkeit und Einfachheit in der Schilderung des Körperlichen zu liefern.
Sojitrawalla: Ich möchte noch mal kurz auf den Unterschied zwischen Pornografie und Erotik zurückkommen. Der Schriftsteller Leon de Winter sagt, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Pornografie und Erotik die Objektivierung der Lust sei. Für ihn geht es in der Pornografie um unpersönliche Leidenschaft, um blinde Geilheit, in der Erotik dagegen immer auch um den Gegenstand der Lust, die spezifische Frau, die begehrt wird. Sehen Sie das, Thomas Hettche, auch so oder sprechen nicht die Sonette von Aretino eigentlich dagegen?
Hettche: Leon de Winter ist vielleicht ein bisschen naiv an dem Punkt, weil genau das macht Erotik ja so langweilig, dass in erotischen Texten sozusagen schon klar ist wer, also wo sozusagen die Grenzen der einzelnen Figuren sind. Erotische Literatur wie sehr viele andere Genres der etwas betulichen Literatur stellen nie in Frage, wo eine Figur aufhört und wo sie anfängt. Aber der Text ist doch wirklich so, dass wir uns selber erfahren; jemand in einer Grenzsituation, gerade auch in der Liebe, dass wir uns oft durchaus nicht sicher sind, wo der eigene Körper endet, wo er beginnt, dass wir nicht sicher sind in der Liebe, wenn wir uns wirklich verlieren, wo das Ich endet und wo es anfängt. Und genau bei dieser Auflösung des Ichs denke ich beginnt Pornografie mehr zu sein als eben nur erregende Lektüre, weil sie lotet aus, wie wir uns in Grenzerfahrungen erleben, wie wir wir sind und wie wir das bejahen können, dass wir nicht mehr jemand sind. Und das zeigt gerade auch, denke ich, Aretino in seinen Sonetten, die natürlich handeln von einem Mann und einer Frau, die sozusagen gesichtslos bleiben, die eine Allgemeinheit sind. Aber sogleich merkt man dann doch, in der Art und Weise, wie diese beiden vielleicht immer identischen, vielleicht verschiedenen Paare miteinander reden, spürt man sozusagen den Subtext der Persönlichkeit und die Vorliebe und die Angst und die Zärtlichkeit des jeweils Einzelnen, und ich finde gerade dieses Changieren zwischen dem ganz Subjektiven und dem ganz Allgemeinen hat Literatur in allen Bereichen immer ausgezeichnet. Die Gewissheit, dass man eine Person ist, ist relativ langweilig.
Sojitrawalla: In seinem neuen Roman bezeichnet Philip Roth Sex auch als "Rache am Tod". Gilt das dann genauso für die Pornografie?
Hettche: Unbedingt. Meine beiden Protagonisten in diesen Sonetten stelle ich mir immer gerne vor als zwei Artisten, die ihre Saltos schlagen und zwar das Bett unter sich haben, aber kein Netz, was sie sozusagen vor dem darunter lauernden Tod schützt. (...) Ich glaube, Liebe hat immer damit zu tun, dass man sich vom Tod abstößt.
Sojitrawalla: In einem Brief stellt Aretino selbst einmal die wohl rhetorische Frage "Was ist Schlimmes dabei, einen Mann zu sehen, der eine Frau besteigt?" Ich würde die Frage ganz gern an Sie weitergeben. Was ist Schlimmes daran?
Hettche: Für Aretino war diese Frage sehr wichtig, weil er auch in seinem anderen wichtigen Buch, den Kurtisanengesprächen, sagt er einmal, es käme darauf an, die Sachen beim Namen zu nennen, man solle eben keine Metaphern finden, sondern die Liebe mit den alltagssprachlichen Begriffen bezeichnen, was er in diesen Gedichten auch tut, was damals aber eine Neuerung war. Damals, wo man sich um eine hohe Sprache im Italienischen auch bemüht hat, in Latein noch geschrieben hat oder aber sich an Petrarca orientiert hat in einer sehr metaphernreichen, verkleidenden Sprache. Dagegen steht Aretino mit seiner sehr einfachen Sprache, die versucht, die Liebe beim Wort zu nehmen.
Sojitrawalla: Was ist eigentlich Sinn und Zweck von Pornografie. Also, ist es Aufklärung, Anregung, Sublimation oder alles auf einmal?
Hettche: Also Pornografie ist dazu da, zu erregen. Das ist ihre Bestimmung. In diesem Bereich ist sie entstanden, und dafür hatte man ihr einen Raum eingeräumt in den Kellern der Inquisition und unter den Ladentischen der Buchhändler, aber davon abgehoben ist sie eben auch eine Auseinandersetzung der Literatur oder der Gesellschaft mit der Frage, wie wir mit Liebe umgehen. (...) Das heißt Pornografie spiegelt immer ihre Zeit und ist damit Ausdruck von großer Menschlichkeit.
Sojitrawalla: Und wann ist Pornografie eigentlich Kunst für Sie, Thomas Hettche, und wann auf keinen Fall?
Hettche: Ich glaube, das Tolle bei ihr ist, dass sie per se erstmal überhaupt nicht Kunst sein muss, nicht sein will und deshalb genau diese Frage so schwierig zu beantworten ist.