Stephan Wackwitz entwirft in "Die Bilder meiner Mutter" das Bild seiner 1920 geborenen Mutter, von deren zeichnerischem Talent die im Buch abgebildeten Bilder einen Eindruck vermitteln. Während durch die Beschreibungen das Bild seiner im Vordergrund stehenden Mutter allmählich Konturen annimmt, fällt der Blick von Wackwitz auch auf die zeithistorischen Hintergründe. Seine Mutter wurde in der Zeit des Nationalsozialismus groß und sie gehörte zu den Frauen, die nach dem Krieg an der Seite ihrer Wirtschaftswunder vollbringenden Männer in die junge Bundesrepublik hineinwuchsen. Für die Teilhabe an dem Wunder aber bezahlte die Mutter von Wackwitz einen Preis, der – nach der Ansicht ihres Sohnes – zu hoch war. Margot Wackwitz war vor ihrem Nazivater auf die Berliner Lette-Schule geflohen, wo sie zur Modezeichnerin ausgebildet wurde. Doch die Chance, sich im Nachkriegsdeutschland als Künstlerin zu etablieren, nutzte sie nicht – stattdessen begnügte sie sich mit der Rolle einer Angestellten an der Seite ihres Mannes.
"Meine Mutter hatte zu Beginn der sechziger Jahre darauf verzichtet, für die Kunst und die Mode zu leben, und auch in ihrer eigenen modischen Selbstdarstellung war sie seit Beginn der Siebziger eingerückt in eine provinzielle Goetheinstitutsleitersgattinnenwohlanständigkeit und middle-age-Verspießerung. Ihr um der Liebe willen lang und stumm ertragenes Unglück nahm jetzt Rache an ihrer Tochter. Meine Mutter begann sich querzustellen gegen die Lifestyle-Modernisierung der sechziger und Siebzigerjahre. Sie verwandelte sich, noch einmal, zeitweilig in ihren Vater."
Das Leben der beiden Eheleute nahm einen anderen Verlauf als erhofft
Ausgelöst wurde die Suche nach Erinnerungsbildern durch den Tod der Mutter im Jahr 1990. In den letzten beiden Lebensjahren führte Margot Wackwitz Tagebuch. Sie vertraute ihre Notizen zwei in goldenes Kunstleder gebundenen Brigitte-Kalendern an, die ihrem Sohn für die Rekonstruktion zur Verfügung standen und aus denen er in seinem Buch zitiert.
"Die Notate in ihrer schönen, girlandenartigen und sehr gut lesbaren Schrift beginnen am 1. Januar 1989. [...] Die letzte, schon sehr zittrige Eintragung stammt vom 24. August 1990: Der schlimmste Tag meiner Krankheit. Wie kurz vor dem Zusammenbruch. Unser wunderschöner Schrank. Ich kann kaum atmen. Draußen schrecklich heiß. [...] An diesem Sommertag im Jahr 1990 hatte sie noch eine Woche zu leben."
Wenige Jahre bevor seine Mutter starb, war der Vater von Stephan Wackwitz pensioniert worden. Kurze Zeit später fuhren die Eltern mit einem neuen Auto in die Ferien und hatten einen Unfall. Während dem Vater nicht viel passierte, kam seine Frau in einen Gipspanzer, aus dem sie erst nach Monaten befreit wurde. Kurz darauf diagnostizierten die Ärzte Brustkrebs bei ihr. Das Leben der beiden Eheleute nahm nach dem Krieg einen anderen Verlauf, als sie es erhofft hatten. Die Mutter war nicht die Künstlerin geworden, die sie vielleicht hätte werden können – Wackwitz verweist an einigen Stellen auf den Werdegang von Andy Warhol – und der Vater hatte nicht promoviert, obwohl es ursprünglich seine Absicht war. Sie führten ein anderes, aber sie führten ihr eigenes Leben; ein Leben, in das sie hineingewachsen waren, und das sie angenommen hatten. Dabei war ihnen offensichtlich im Leben gelungen, was sie in der Kunst und in der Wissenschaft nicht in der Lage waren zu leisten. Während sie mit der Bilanz ihres Leben kaum ein Problem hatten, trauert ihr Sohn den vergebenen Chancen seiner Eltern, und speziell denen seiner Mutter, sehr viel mehr nach.
"Niemand in ihrer Umgebung, auch mein gutwilliger, liebevoller und vernünftiger Vater nicht, hätte etwas damit anfangen können, wenn sie damals gesagt hätte, was heute im Idealfall eine Frau sagen würde und was uns als das Richtige vorkäme. Nämlich etwa: Wir haben einen Fehler gemacht. Ich halte dieses Leben nicht aus. Unsere Kinder leiden darunter. Ich bin eine Künstlerin, und ich möchte als Künstlerin leben. Ich will hier raus."
Der Sohn liebäugelte mit Eltern, die mehr erreicht hatten
Diese Sätze legt Wackwitz seiner Mutter in den Mund, wodurch ein Bild entsteht, das sich der Sohn von seiner Mutter macht. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass der Autor – ausgehend von dieser Annahme – die Bildnisse seiner Mutter grundiert. Immer wieder schlägt die Ansicht durch, seine Mutter wäre gescheitert. Doch während er vom Scheitern spricht – der Vater gescheitert in seiner akademischen Karriere und die Mutter gescheitert als Künstlerin – fällt die Lebensbilanz der Eltern sehr viel positiver aus. Wer unterliegt hier einer Täuschung? Dies ist eine der interessanten Fragen, die Wackwitz in seinem Buch aufwirft. Als die beiden Kinder aus dem Haus waren, lebten die Eltern nicht etwa trübsinnig dahin und aneinander vorbei, sondern Wackwitz erwähnt, dass sie in der Zweisamkeit einen neuen Lebensinhalt fanden.
"Wenn ich in der kleinen Dachwohnung bei München, in die meine Eltern (ohne meine Schwester) inzwischen umgezogen waren, mich in den Weihnachtsferien oder für ein Wochenende einquartierte, schliefen meine Eltern lang und frühstückten im Bett. Sie lasen plötzlich zeitgenössische amerikanische Romane. Abends gab es Wein und französische Käsesorten, von denen ich noch nie etwas gehört hatte und die mein Vater auf dem Münchner Viktualienmarkt einkaufte. Und meine Eltern ließen sich durch den Kopf gehen, wohin sie sich versetzen lassen sollten [...]. Die Welt öffnete sich für meine Eltern."
Der Sohn allerdings trägt seinen Eltern ein wenig nach, dass sie nur das geschafft haben. Als Heranwachsender liebäugelte er mit Eltern, die mehr erreicht hatten – eine schwäbische Honoratiorenfamilie, das wäre es gewesen. Solche Familien hatte er kennengelernt, und er hatte die Kinder beneidet, die in solchen Familien groß wurden. Seine Eltern hingegen realisierten nicht, was er sich für sie ausgedacht hatte, sondern sie verfolgten ihren eigenen Lebensplan. Es hat den Anschein, als hätte Wackwitz dieses Eltern-Wunschbild nicht vergessen können. Ob es sich dabei um ein Wahrnehmungsproblem handelt, das nur er hat, diese Frage wird an einer Stelle seines Erinnerungsbuches aufgeworfen:
Der Leser vermag, eigene Familienbilder in Erinnerung zu rufen
"Meine Mutter hatte zu Beginn der sechziger Jahre 'das Beste vergessen'. Aber wo war denn, nach allen gängigen Maßstäben betrachtet, das Problem? Mein Vater hatte eine allgemein geachtete Arbeit. Wir hatten eine geräumige Wohnung. Ein gebrauchtes Auto wurde angeschafft. Wir fuhren in den Urlaub nach Tirol. Warum waren wir bei all dem in Wirklichkeit so unglücklich? Es musste an uns liegen. Oder empfand in Wirklichkeit nur ich das alles so? Dann musste es an mir liegen."
Neben dem Mutterbild entwirft Stephan Wackwitz in "Die Bilder meiner Mutter" auch ein Familien- und ein Epochenbild, wobei er sich zahlreicher Vergleiche aus der bildenden Kunst und der Literatur bedient. Es entsteht aber bei der Suche nach Motiven für diese Bilder auch ein Selbstbild des Autors. Reizvoll ist an diesem Bilderkaleidoskop, dass sich Stephan Wackwitz stets als ein aufmerksamer Analytiker der gesellschaftlichen Hintergründe erweist, die er bei der Fokussierung auf die Familiengeschichte nie aus den Augen verliert. Darüber hinaus vermag dieses Buch beim Leser eigene Familienbilder in Erinnerung zu rufen, die sich problemlos neben die von Wackwitz’ entworfenen Bilder stellen lassen, was die Lektüre des Buches interessant macht und kurzweilig werden lässt.
Stephan Wackwitz: "Die Bilder meiner Mutter"
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2015, 232 Seiten, 19,99 Euro.
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2015, 232 Seiten, 19,99 Euro.