SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz werde umso stärker ins Rampenlicht rücken, je stärker sich die Frage stelle, wer die beste Nachfolgerin oder der beste Nachfolger für Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) sein werde, sagte der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die Sozialdemokraten treffen sich am 9. Mai digital zu einem außerordentlichen Bundesparteitag, um Scholz als Kanzlerkandidat bestätigen und ihr Wahlprogram zu beschließen.
Die Kanzlerkandidatin der Grünen Annalena Barbock, Unionskandidat Armin Laschet sowie Olaf Scholz würden in den kommenden Monaten von den Medien so hart vermessen werden, dass sich die Frage, wer dies am besten könne, noch ganz anders stellen werde. "Im Mittelpunkt wird die Personalfrage stehen. Davon bin ich absolut überzeugt", sagte Weil. "Wer kann das eigentlich? Das wird sozusagen das unerklärte Wahlkampfmotto, und zwar für alle Kandidatinnen/Kandidaten sein."
Die SPD schaffe es gegenwärtig nicht, genügend Aufmerksamkeit auf ihre politischen Vorstellungen zu richten. Die SPD müsse das Thema eines handlungsfähigen Staates, eines Staates, der insbesondere auf die Gesundheit seiner Bevölkerung großen Wert lege, in den Vordergrund stellen. Außerdem sei die SPD immer die Partei der Arbeit gewesen. Mit dem Klimaschutz müsse ein Umbau - nicht ein Abbau unserer Industrie verbunden sein, sagte Weil.
Außerdem äußerte sich der niedersächsische Ministerpräsident unter anderem zur aktuellen Debatte über mehr Freiheiten für Geimpfte und Genesene und zu den Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche.
Das vollständige Interview:
Christoph Heinemann: Herr Weil, Sie sind Jahrgang 1958. Sie haben sich in der vergangenen Woche impfen lassen. Ist alles gutgegangen?
Stephan Weil: Ja, bestens. Ich hatte zwei Abende, wo mir abends ziemlich kühl war. Aber da hilft das gute alte Hausmittel der Wärmflasche. Und das war es. Das war es mir auch allemal wert.
Heinemann: Sie haben das Impfzentrum als Oase der guten Laune bezeichnet. Was war denn so lustig?
Weil: Na ja, ich habe jetzt inzwischen eine ganze Reihe von Impfzentren in unserem Land besucht. Und es ist in der Tat auffällig, dass dort überall gute Laune herrscht. Da kommen Menschen hin, die freuen sich richtig, dass sie so weit es geschafft haben. Dann werden sie geimpft und dann haben sie hinterher noch bessere Laune. Und, wenn man es permanent mit einer Kundschaft zu tun hat, die gute Laune verbreitet, dann gilt das am Ende auch für diejenigen, die dort ständig arbeiten. Und das steht derzeit halt durchaus in einem auffälligen Kontrast zu anderen Bereichen unserer Gesellschaft, wie wir wissen.
Sehnsucht nach "Ende des Alptraums"
Heinemann: Wollte ich Sie fragen. Apropos gute Laune, wie nehmen Sie die Stimmung im Lande wahr?
Weil: Ja, natürlich ganz anders im Allgemeinen. Und das ist ja auch gut verständlich. Wir sind jetzt, glaube, 15 Monate nach Beginn der Pandemie. Und viele von uns gehen nervlich am Stock, wenn ich das einmal so sagen darf. Viele Menschen haben auch größte Sorgen. Zum Beispiel, wenn ich an diejenigen denke, die in den Branchen Hotellerie, Gastronomie, Tourismus, Handel arbeiten. Also, dass wir insgesamt geradezu uns danach sehnen, dass dieser Alptraum ein Ende haben würde, das finde ich, das kann man jedem von uns nur nachsehen.
Heinemann: Sie sind ein wichtiger politisch Verantwortlicher. Inwiefern haben Sie zu der schlechten Stimmung beigetragen?
Weil: Ach, keiner von uns ist fehlerfrei geblieben. Und keiner von uns geht ohne Schrammen aus der Pandemiebekämpfung heraus. Jeder von uns, soweit ich das beurteilen kann für die Kolleginnen und Kollegen und für mich, hat sich in den vergangenen Monaten persönlich die allergrößte Mühe gegeben, der Verantwortung gerecht zu werden. Und, wenn ich einmal auf den internationalen Vergleich schaue, also nicht nur auf das, was wir in Deutschland sicher in allen denkbaren Bereichen hätten noch besser machen können, kann ich sagen, im internationalen Vergleich schneidet Deutschland auch nach wie vor gut ab. Also, es ist eine durchaus gemischte Bilanz. Und persönlich habe ich schon länger die Hoffnung aufgegeben, man käme durch eine solche Pandemie als verantwortlicher Politiker fehlerfrei heraus.
"Wir sollten wirklich eine sehr genaue Pandemiebilanz miteinander ziehen"
Heinemann: Welche Fehler würden Sie sich selbst ankreiden?
Weil: Der größte Fehler war sicher am Anfang, dass wir als Deutschland insgesamt unvorbereitet in diese Pandemie hineingestolpert sind, obwohl, wie uns dann später bekannt wurde, seit 2012 ja durchaus entsprechende Fallbeispiele in den Schubladen gelegen haben. Dann kann man beispielsweise überhaupt nicht drumherum reden, dass die Bilanz in den Alten- und Pflegeheimen niederschmetternd ist. Die hohen Todeszahlen in diesem Bereich, die stechen eben auch international hervor. Ich habe in letzter Zeit viele Gespräche gehabt mit Familien, mit Kindern, mit Jugendlichen. Ich habe Schulen und Kindertagesstätten besucht. Und die Erfahrung gerade dieser Generation, die sind natürlich auch Anlass für – ich sage es offen – schlechtes Gewissen. Aber ohne, dass mir an dieser Stelle so richtig klar wäre, wie wir es hätten besser machen können. Es gibt ganz vieles, was wir aus der Pandemie werden lernen können. Und ich glaube, wir sollten wirklich eine sehr genaue Pandemiebilanz miteinander ziehen und die richtigen Lehren ziehen.
Heinemann: Schlechtes Gewissen. Woran, Herr Ministerpräsident, erinnern Sie die drei Wörter "unnötig, aber unschädlich"?
Weil: Nun, das ist meine Bewertung gewesen der Bundesnotbremse. So weit reicht mein Gedächtnis doch noch zurück. Und das gilt für Niedersachsen tatsächlich. Denn wir haben zu denjenigen Ländern gehört, die die Beschlüsse der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentinnen/Ministerpräsidenten ernst genommen und umgesetzt haben. Und da ja weitestgehend die Bundesnotbremse genau diese Beschlüsse dann ins Gesetz geschrieben hat, war es bei uns im Land auch keine große Veränderung.
Heinemann: Warum sind Sie der Bundesregierung und damit auch dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz in den Rücken gefallen?
Weil: An welcher Stelle sollte das der Fall gewesen sein?
Heinemann: Na, mit der Bemerkung "unnötig, aber unschädlich", wenn ein Ministerpräsident das so bewertet.
Weil: Nun, was die Situation in Niedersachsen angeht, ist es tatsächlich so. Das ist, wenn Sie so wollen, eher ein Ausschnitt gewesen einer Haltung, die ich immer wieder wiederholt habe. Wenn alle Länder alle Beschlüsse, die wir miteinander gefasst haben, anschließend auch gemeinsam umgesetzt hätten, dann hätten wir uns viel Ärger erspart. Dann wäre gemeinsam unser Ansehen wahrscheinlich ein größeres. Und der Bundesgesetzgeber hätte wahrscheinlich auch nicht ein solches Gesetz gemacht.
Heinemann: Haben sie aber nicht. Warum nicht?
Weil: Von "Sie" kann man da, wie gesagt, nicht reden, denn Niedersachsen zählt zu den Ländern, die sich immer bemüht haben …
Heinemann: Sie – kleingeschrieben, die Länder, Pardon.
Weil: Ja. Das müssen Sie dann unterschiedliche Akteure fragen. Ich habe das immer für unvernünftig gehalten, weil es ja auch für uns 16 dann anschließend das Leben schwerer gemacht hat. Wenn der eine Nachbar die Baumärkte aufmacht, dann geht es auf der anderen Seite der Grenze natürlich sofort um die Frage: Warum macht ihr das nicht auch? Ich habe mich immer um ein hohes Maß an Disziplin an dieser Stelle bemüht. Und ich glaube, es wäre für uns als Gruppe auch klüger gewesen.
Bundesnotbremse und Niedersachsen
Heinemann: Bundesnotbremse – die Zahl der Infektionen und der Inzidenzwert sinken. Gibt der Erfolg der Bundesregierung nicht Recht?
Weil: Wiederum nur für Niedersachsen kann ich sagen, dass wir die Stabilisierung der dritten Welle bereits vor der Bundesnotbremse hatten, und dass ich deswegen auch ja eigentlich sehr sicher bin, dass die Bundesnotbremse an der Entwicklung bei uns im Land nur einen sehr geringen, wenn überhaupt einen Anteil hat. Aber wir waren auch von Anfang an mit niedrigeren Zahlen dabei. Und viel sagten, bei uns ist der Unterschied auch nicht sonderlich groß gewesen. Und deswegen ist vielleicht diese Aussage für Niedersachsen durchaus in anderen Ländern anders zu treffen.
Heinemann: Herr Ministerpräsident, das Bundesverfassungsgericht hat die Eilanträge gegen die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen vorläufig abgelehnt. Die endgültige Entscheidung über die sogenannte Bundesnotbremse steht jetzt noch aus. Sie sind Jurist. Mit welcher Entscheidung rechnen Sie?
Weil: Ach, als Jurist weiß ich: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Und deswegen werde ich mich mit Prognosen fein hüten.
Heinemann: Aber ist das schon ein Fingerzeig?
Weil: Na ja, das heißt erst mal, dass im Allgemeinen das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, eine solche Maßnahme kann ein geeignetes Mittel in der Pandemiebekämpfung sein. Und dann hat es auf dieser Grundlage ja gefragt: Entsteht jetzt eigentlich durch die weitere Anwendung des Gesetzes ein deutlich überwiegender Schaden? Hat das verneint. Und das finde ich durchaus plausibel. Das Problem an dieser Stelle ist eher ein anderes. Und da bin ich dann eines Tages gespannt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache. Wir haben nämlich auch bei uns in Niedersachsen, auch in den anderen Ländern, immer strikt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vor Verhängung einer Ausgangsbeschränkung gefragt: Haben wir nicht auch noch ein anderes Mittel zur Verfügung, das mutmaßlich den gleichen Effekt erzielen kann? Das ist jetzt mit dem Bundesinfektionsschutzgesetz, mit der Bundesnotbremse anders. Da gibt es einen Automatismus.
Und das heißt umgekehrt dann auch, es gibt geradezu ein Abwägungsverbot. Ab 100 ist automatisch Ausgangsbeschränkung verhängt. Ich sage Ihnen mal ein praktisches Beispiel, wenn wir die Zeit haben, auf welche Probleme man dann stoßen kann. Wir haben in Niedersachsen derzeit einen ganz großen Landkreis. Der ist bis jetzt eigentlich völlig unauffällig durch die Pandemie gekommen. Der ist sehr lang. Der hat etwa 100 km vom Süden bis in den Norden. Und an einer Stelle dieses Landkreises haben wir jetzt einen großen Ausbruch bei Erntehelfern in einem Spargelbetrieb. Dieser große Ausbruch sorgt dafür, dass der Inzidenzwert des gesamten Landkreises über 100 liegt und deswegen der gesamte Landkreis jetzt eine Ausgangsbeschränkung hat, obwohl es sich um ein sehr punktuelles Geschehen handelt. Und an der Stelle wird deutlich, dass auch der gewählte Automatismus, ja, schon mit einer Reihe von Fragezeichen versehen ist.
Heinemann: Welche Alternative bestünde zu dem Automatismus?
Weil: Na ja, zum Beispiel hätte man darüber nachdenken können, ob den Hauptverwaltungsbeamten, also auf gut Deutsch den Landräten in den meisten Fällen, ob nicht den Landräten der Spielraum eröffnet wird, bei abweichenden Sachverhalten auch abweichende Regelungen zu treffen. Das hätte ich durchaus vernünftig gefunden.
Heinemann: Herr Ministerpräsident, Kontaktverbote, Ausgangssperren für Geimpfte und Genesene wurden jetzt plötzlich sehr schnell aufgehoben am Ende dieser Woche. Warum diese Eile?
Weil: Ich glaube, da gibt es durchaus einen Zusammenhang mit Ihrer vorherigen Frage. Denn die Bundesregierung hat insbesondere auf der Basis von entsprechenden Fragen des Bundesverfassungsgerichts den Entscheidungsprozess noch einmal deutlich beschleunigt. Das ist natürlich auch dann im Rahmen eines solchen Prozesses durchaus eine relevante Fragestellung. Ich habe auch weniger etwas mit der Frage, ob Geimpfte jetzt künftig von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen freigestellt sind. Ich glaube nur, dass das Problem insgesamt in den nächsten Monaten uns in vielen Fällen noch sehr viel Kopfzerbrechen bereiten wird, und dass wir deswegen dringend eine vertiefte Diskussion des Themas brauchen: Wie können wir eigentlich das Verhältnis von Geimpften, Genesenen zu den anderen Teilen der Gesellschaft gut in Balance bringen?
Schleswig-Holstein in der Pandemie ein Vorbild?
Heinemann: Kommen wir gleich noch zu. Noch mal kurz die Frage: Wieso muss Karlsruhe die Bundesregierung zur Rückgabe der Freiheit treiben?
Weil: Das ist jetzt eine sehr überspitzte Formulierung. Denn dieses Thema Rückgabe von Freiheit das muss sich ja auch einordnen in ein Pandemiegeschehen insgesamt. Und bis vor Kurzem, da waren die allermeisten von uns wahrscheinlich der Auffassung, dass das ein solches Thema ist, das die ganze Gesellschaft hart trifft, dass wir der Auffassung gewesen wären, jetzt müssen wir erst mal dieses Problem in den Griff bekommen. Aber sei es drum, das Thema liegt auf dem Tisch und es muss beantwortet werden.
Heinemann: Schleswig-Holstein öffnet Hotels, Gaststätten und Freizeitparks für Geimpfte, Genesene und Getestete. Ist Ministerpräsident Daniel Günther für Sie ein Vorbild?
Weil: Nein, höchstens … erstens ist er ein sehr geschätzter Kollege, mit dem ich sehr gut auskomme. Aber ich möchte ganz gerne insbesondere auch die niedrigen Inzidenzwerte aus Schleswig-Holstein gerne so schnell wie möglich auch in Niedersachsen sehen. Also, das wäre mir eine Freude.
Heinemann: Also, schon ein bisschen Vorbild?
Weil: Na ja, vielleicht weniger der Kollege, aber gerne möchte ich mir für Niedersachsen das Vorbild der Inzidenzentwicklung in Schleswig-Holstein nehmen. Das gilt wahrscheinlich für alle anderen Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen in Deutschland.
Heinemann: Herr Weil, warum wäre es so schwierig, wenn vollständig Geimpfte Restaurants oder Hotels besuchen dürften, aber andere noch nicht?
Weil: Das ist ein Problem, weil die anderen ja nicht irgendwie sich vorwerfen lassen müssten, sie hätten dieses oder jenes nicht richtig gemacht. Sondern sie sind schlichtweg noch nicht dran. Und das ist sicherlich für einen überschaubaren Zeitpunkt und bei einer kleinen Gruppe, so, wie es jetzt derzeit der Fall ist bei vollständig Geimpften, das sind ja, na, sagen wir mal, etwa sieben, acht Prozent der Gesellschaft, ist das auch kein ganz großes Problem.
Aber diese Gruppe wird in den nächsten Wochen und Monaten sehr, sehr groß werden. Und dann haben wir wahrscheinlich irgendwann die Situation, dann darf die eine Hälfte der Gesellschaft vieles, was die andere Hälfte der Gesellschaft womöglich nicht darf.
Heinemann: Noch nicht darf.
Weil: Noch nicht darf, aber eben nicht darf. Also, man kann ganz überspitzt mal das Beispiel bilden, wie es denn sein mag, wenn an den Restaurants überall das Schild hängt: nur für Geimpfte. Das sollten wir vermeiden. Da gibt es hoffentlich auch Wege dazu. Aber darüber muss in Ruhe geredet werden. Ich sehe jedenfalls das nicht als eine Neiddiskussion. Sondern es geht, glaube ich, eher um ein Gefühl von Gerechtigkeit von Menschen, die auch gerne geimpft werden möchten.
Heinemann: Das hieße ja, lieber Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse als eine Unterscheidung. Kann man so mit Rechten, mit Grundrechten umgehen?
Weil: Na ja, Ihrer These, der würde ich gerne mit Nachdruck widersprechen. Ich glaube, dass der relativ beste Weg darin besteht, dass wir auch nicht geimpften Bürgern eine Alternative bieten, wie man tatsächlich auch mehr Möglichkeiten nutzen kann. Insbesondere über tagesaktuelle und dann hoffentlich auch zuverlässige Tests in Verbindung mit anderen Rahmenbedingungen. Das ist jedenfalls der Weg, den wir in Niedersachsen gehen. Wir wollen versuchen, vieles wieder möglich zu machen. Aber wir müssen immer strikt darauf achten, dass auch negative aktuelle Tests die Grundlage sind, übrigens auch in Verbindung insbesondere mit der Maske.
Heinemann: Herr Weil, was wird für Menschen gelten, die sich nicht impfen lassen wollen?
Weil: In Deutschland haben wir keinen Impfzwang. Ich glaube nur, dass auf Sicht auf lange Zeit viele Angebote, seien sie öffentlich, seien sie privat, dann schon darauf achten werden, ob damit auch Risiken verbunden sein können. Und dass man sicherlich, wenn unsere ganze Gesellschaft die Möglichkeit hat, geimpft zu werden, dann auch das eine oder das andere schlichtweg davon abhängig macht, dass entsprechende Impfnachweise da sind. Noch einmal. Für mich ist eigentlich der Gesichtspunkt entscheidend: Gibt es eigentlich Alternativen für Bürgerinnen und Bürger, die sie auch imstande setzen kann, solche Angebote dann wahrzunehmen? Wenn Bürger dann ein entsprechendes Wahlrecht haben, dann ist das meines Erachtens vollkommen in Ordnung.
Aktuelle Tests als Alternative für Ungeimpfte
Heinemann: Das heißt, die würden dann doch draußen bleiben, vor den Restaurants?
Weil: Nein, sie müssten es nicht. Denn sie könnten sich impfen lassen. Ganz abgesehen davon, dass ich auch in diesem Fall glaube, dass es sinnvoll ist, wenn wir über die Alternative von aktuell negativen Tests auch dann vieles möglich machen.
Heinemann: Migrantinnen und Migranten sind besonders häufig von Corona betroffen. Was folgt daraus?
Weil: Man muss, glaube ich, es nicht nur auf den kulturellen Hintergrund ziehen, sondern vor allen Dingen auch auf die konkreten Lebenslagen. Denn in unserer Gesellschaft ist es leider nicht wegzudiskutieren, dass gerade Menschen mit Migrationshintergrund häufig auch zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen gehören, unter beengteren Verhältnissen leben. Und deswegen ist es schon plausibel, dass es in dieser Hinsicht auch durchaus höhere Infektionsrisiken gibt. Ja, das entspricht, glaube ich, auch einem Bild, das durchaus in der Praxis da ist.
Heinemann: Das Problem ist ja ein mangelnder Informationsstand. Ist das eine Bringschuld oder eine Holschuld?
Weil: Ach, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es beides. Man muss auch wirklich zur Kenntnis nehmen, dass es viele Bereiche gibt, in denen es wirklich gut funktioniert. Und Niedersachsen ist ein ausgesprochen vielfältiges Land. Also, das gilt für die Zusammensetzung der Gesellschaft ebenso wie für beispielsweise Wohnverhältnisse auf dem Land, in der Stadt etc. Und wir können eben, wenn wir auf die bisherige Pandemie zurückschauen, nicht feststellen, dass es gewissermaßen ein Thema nur von Menschen mit Migrationshintergrund wäre. Die Pandemie zieht sich durch die unterschiedlichsten Teile unserer Gesellschaft.
Heinemann: Fachleute der Kinder- und Jugendpsychotherapie warnen, es gibt Kinder und Jugendliche, die seit November keine Schule mehr von innen gesehen haben. Mit welchen Folgen der Pandemie für die junge Generation rechnen Sie?
Weil: Ja, ich habe das vorhin schon mal angesprochen. Das ist ein Thema, das ich ausgesprochen ernst nehme. Ich bin über die gesamte Pandemie hinweg immer, soweit es möglich war, auch regelmäßig in Schulen gewesen. Und da höre ich zum Beispiel eigentlich mit großer Regelmäßigkeit, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler auch zum Beispiel eine längere Phase von Distanzunterricht durchaus gut verkraften kann. Aber das sind vor allen Dingen solche, die zu Hause gefördert werden oder auch eine eigene hohe Motivation mitbringen. Und bei denjenigen, wo das aus familiären Gründen eben nicht der Fall ist, da machen sich Lehrerinnen und Lehrer große Sorgen. Ich höre, dass vor allen Dingen die kleinen Kinder mit dem Fehlen sozialer Kontakte wirklich schwer zu kämpfen haben, bis hin dazu, dass es geradezu zu Wesensveränderungen führt, wie dann Eltern völlig verzweifelt feststellen. Und deswegen sollten wir, wenn wir uns fragen, was lernt uns das jetzt, nicht nur uns überlegen, wie können sie möglichst schnell bestimmte Lernrückstände aufholen. Sondern ich glaube, viele Kinder, viele Jugendliche haben vor allen Dingen auch ein Nachholbedürfnis in sozialen Kontakten. Und das völlig zu Recht.
Ansteckung im sozialen Umfeld statt in der Schule?
Heinemann: Die "Bild"-Zeitung zitierte am 26. April den Berliner Kinderarzt Dr. Martin Karsten, der sagt: Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist noch immer nicht geklärt, ob Kinder eine relevante Rolle bei der Verbreitung des Virus spielen. Und trotzdem werden ab einer bestimmten Zahl, einer Inzidenzzahl, die Schulen geschlossen. Worauf stützen Sie genau Ihre Schulpolitik?
Weil: Na ja, wir sehen natürlich schon aus den Infektionen, dass gerade in der dritten Welle Kinder und Jugendliche häufiger mitbetroffen sind als das beispielsweise in den ersten beiden Wellen der Fall gewesen ist. Das ist ja …
Heinemann: Sind denn Schülerinnen und Schüler Pandemietreiber? Entschuldigung, dass ich da unterbreche. Sind die wirklich Pandemietreiber? Kann man das so sagen?
Weil: Es gibt Forschungen, die sagen das. Über alles gesehen kann ich sie jedenfalls für unser Land nicht bestätigen. Schülerinnen und Schüler würde ich übrigens gerne mal aufgreifen wollen. Was wir wissen, ist, dass die Sicherungssysteme in den Schulen gut funktionieren, und dass in den Schulen die Infektionen, wenn sie denn da sind, typischerweise nicht weitergetragen werden, zum Glück. Aber umgekehrt, es gibt nun einmal auch Kinder und Jugendliche, die infizieren sich in ihrem sozialen Umfeld und dann bringen sie die Infektion mit in die Schule. Und deswegen wird man da weiter sehr vorsichtig sein müssen.
Heinemann: Wie kann der Lernstoff aufgeholt werden?
Weil: Das ist ein Thema, von dem ich, wie gesagt, persönlich glaube, es ist das vergleichsweise geringere gegenüber den Defiziten im sozialen Bereich, die über die Monate entstanden sind. Und da gibt es die unterschiedlichsten Handlungsansätze. In Niedersachsen zum Beispiel haben Lehrerinnen und Lehrer schon weitgehend die Möglichkeit, sich jetzt auch auf das zu konzentrieren, was wirklich essenziell ist an Lernfortschritt. Wir haben auch das Angebot gemacht, dass diejenigen, die sich unsicher fühlen, auch ein Schuljahr wiederholen können. Wir werden insbesondere auch in den Ferien über entsprechende Angebote auch gerne möglich machen, dass Rückstände aufgeholt werden. Und wir hoffen, dass wir mit Unterstützung des Bundes dann auch an den Schulen, und zwar dauerhaft insoweit auch verstärkt durch Individualberatung helfen können, die Bildungsrückstände aufzuholen. Da bin ich eigentlich auch guten Mutes.
Heinemann: Wann werden die Schulen durchgeimpft, also Schülerinnen und Schüler und auch das Lehrpersonal?
Weil: Ja, was das Lehrpersonal angeht, da sind wir gerade dabei. Und man kann sagen, täglich mehr. Das merkt man auch bei den Besuchen in den Schulen. Das ist schon ein großes Stück Sicherheit für Lehrkräfte. Und was die Schülerschaft angeht, ist es einfach ein Problem des verfügbaren Impfstoffs. Biontech/Pfizer haben jetzt als erste einen Impfstoff entwickelt immerhin, wenn ich es recht erinnere, für Jugendliche ab zwölf Jahren. Aber die ganzen jüngeren Jahrgänge, für die ist nach wie vor kein passender Impfstoff derzeit verfügbar. Und ich hoffe, dass sich das möglichst schnell ändert.
"Scholz wird immer stärker ins Rampenlicht rücken"
Heinemann: 2021 ist das Jahr der Bundestagswahl. Bisher dreht sich die Aufmerksamkeit um Annalena Baerbock und Armin Laschet. Wo ist Olaf Scholz?
Weil: Na, ich gehe davon aus, Olaf Scholz wird immer stärker ins Rampenlicht rücken, je stärker die Frage sich stellt: Wer ist der beste Nachfolger/die beste Nachfolgerin für Angela Merkel? Über einen langen Zeitraum hat das eher einen geringeren Teil der Bevölkerung interessiert. Vielleicht auch deswegen, weil man es noch nicht wahrhaben wollte, dass nach einer so langen Amtszeit sich nun mal auch diese Amtszeit dem Ende nähert. Dann gab es die ja geradezu wie ein Shakespeare-Stück inszenierte Auseinandersetzung innerhalb der Union. Und sehr professionell dazu im Vergleich die Entwicklung bei den Grünen und insbesondere auch die Präsentation der Kanzlerkandidatin. Und dass hinter all dem die Arbeit des Vizekanzlers und Bundesfinanzministers ein wenig unspektakulär gewirkt hat, das ist mir persönlich erklärlich.
Aber umgekehrt bin ich überzeugt davon, in den nächsten Monaten werden diese drei Kandidatinnen/Kandidaten so hart vermessen werden, insbesondere von den Medien, dass die Frage, wer kann das eigentlich am besten, sich noch ganz anders stellen wird. Und darum bin ich sehr zuversichtlich. Olaf Scholz hat die Kragenweite für dieses schwierigste Amt, das wir in Deutschland haben.
Heinemann: Wenn wir bei Shakespeare bleiben und uns die Umfragewerte anschauen, dann müsste man bei der SPD sagen: viel Lärm um nichts.
Weil: Da würde ich mir vielleicht eher mehr Lärm wünschen. Denn ein Teil dessen, was wir in den Umfragen sehen, ist vielleicht auch, dass wir im Moment es nicht schaffen, genügend Aufmerksamkeit auf das zu richten, wie unsere politischen Vorstellungen sind. Aber noch einmal: Der interessante Teil der Bundestagswahlen der liegt erst noch vor uns. Und der wird diesmal besonders interessant sein, weil ja die Karten in der deutschen Politik tatsächlich völlig neu gemischt werden.
Heinemann: Mit welchen Themen kommt die SPD aus der Deckung?
Weil: Ich glaube, dass die SPD sehr stark und im Grunde genommen auch als Lehre aus Corona das Thema eines handlungsfähigen Staates, eines Staates, der insbesondere auf die Gesundheit seiner Bevölkerung großen Wert legen muss, nach vorne stellen wird und auch sollte. Zweiter Gesichtspunkt: Die SPD ist immer die Partei der Arbeit gewesen. Klimaschutz ist ein absolut dominierendes Thema der nächsten Jahre. Aber wir müssen auch großen Wert darauf legen, dass damit ein Umbau und nicht ein Abbau unserer Industrie verbunden ist. Das ist ein gewaltiges und schwieriges Vorhaben, ein solcher Umbau unserer Industrie und der Volkswirtschaft insgesamt. Und ich glaube, das ist ein Thema, das der SPD sehr gut zu Gesicht steht.
Heinemann: Der Wahlkampf ist aber keine Oase der guten Laune.
Weil: Das hängt immer von seinem Verlauf ab, nach meinen Erfahrungen.
Heinemann: Wann beginnt die heiße Phase? Womit rechnen Sie?
Weil: Das wird mehr oder weniger mit dem Ende der Sommerferien, glaube ich, der Fall sein. Das ist natürlich in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. Aber ich gehe mal davon aus, der September, der wird dann die heiße Phase sein.
Heinemann: Und steht im Mittelpunkt dann die Ökologie oder Corona?
Weil: Im Mittelpunkt wird die Personalfrage stehen. Davon bin ich absolut überzeugt. Ich sagte ja schon: Wer kann das eigentlich? Das wird sozusagen das unerklärte Wahlkampfmotto, und zwar für alle Kandidatinnen/Kandidaten sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.