Wir schreiben das Jahr 1887. 50 Jahre ist Queen Victoria im Amt. Das Festmahl zum Thronjubiläum choreografiert Stephen Frears grandios als komplexe Maschine der Nahrungszuführung und der Macht. Die 68-jährige Königin von England ist dabei offensichtlich ihrer Macht leid. So sitzt sie da, während Heerscharen von Diener den Heerscharen von Adligen an der gigantischen Tafel die Gänge auftragen. Wobei die Pointe darin liegt, dass Victoria die Speisen - von der Vorspeise bis zum Hauptgericht - in einer Affengeschwindigkeit in sich rein schaufelt, wohlwissend, dass die Teller abgetragen werden, wenn sie aufgegessen hat, egal, wieweit die anderen sind.
Unerwünschte Freundschaft
Eine grandiose Anfangsszene in einem Film, der sich aber rasend schnell in ein Feelgood-Movie über den guten Herrscher verabschiedet. Und zwar sobald der titelgebende Abdul seinen ersten Auftritt hat. Ein Inder, der Victoria auf der Jubiläumsfeier eine wertvolle Münze übergeben soll, aber alle Etikette überspringt und der Herrscherin - an sich strikt verboten - direkt anblickt. Der Beginn:
"Munshi? - Ja, Munshi, mein Lehrer. - Wir wünschen, dass Sie der Munshi der Königin werden."
Der Beginn einer wunderbaren und Freundschaft zwischen der Königin von England und ihrem indischen Lehrer, die es tatsächlich gegeben hat.
"Ich möchte Indisch von Ihnen lernen. - Indisch? Als Kaiserin von Indien geht allein Urdu. Die Sprache der Mogulen."
Dass diese Freundschaft am Hof nicht wohlgelitten ist.
"Seine Familie verfügt über keinerlei Bildung. - Der Mann ist ein Schwindler, durch und durch."
"Seine Familie verfügt über keinerlei Bildung. - Der Mann ist ein Schwindler, durch und durch."
Es liegt auf der Hand. Aber die Königin bleibt stur:
"Ihr widerwärtigen Kröten. Drangsaliert einen armen, wehrlosen Inder. - Aber verstehst du nicht, Mama: Er nutzt seine Stellung zu seinem eigenen Vorteil. - Inwieweit unterscheidet ihn das von einem von euch?"
Was für eine menschlich reife Monarchin.
"Weißwaschen" der Kolonialgeschichte
Ist "Victoria & Abdul" damit ein Plädoyer für die aufrichtige, freie Kommunikation der Kulturen in persona der britischen Monarchin und des dunkelhäutigen Inders aus der Kolonie? Oder ist "Victoria & Abdul" ein "weiteres gefährliches Beispiel für britische Filmemacher, die den Kolonialismus 'weißwaschen'". So schrieb der britische Independent. Wenn man den Klischee-Inder Abdul bei Stephen Frears betrachtet, erledigt der Regisseur in der Tat das Geschäft des Weißwaschens, um die alte Monarchin in den letzten Jahren ihres Lebens umso heller und vor allem menschlicher strahlen zu lassen. Die britische Barbarei des Kolonialismus - siehe dazu Richard Attenboroughs Film "Gandhi" von 1982 - wird in "Viktoria & Abdul" mit dem Hohen Lied auf das Miteinander von Ethnien und Klassen übertüncht.
"Verharmlosung der Monarchie"
Der Filmemacher Michael Haneke hat Wolfgang Petersens US-Präsidenten-Actionfilm "Air Force One" einmal als "übles Propaganda-Machwerk" bezeichnet. "So gut gemacht," meinte Haneke, "dass die Zuschauer nicht einmal wissen, dass das ein politischer Film ist". Gleiches gilt für Stephen Frears Königinnen-Filme "Die Queen" und "Victoria & Abdul". Ihr Geschäft liegt in der Erschaffung des Herrschers auf der Leinwand als Mensch. Nach dem Motto: Auch eine Monarchin wird alt, einsam und unglücklich. Und sie hat auch mal einen schlechten Stuhlgang, wie Victoria alias Judi Dench ihrem Leibarzt morgens gesteht.
"Victoria & Abdul" steht für eine Verharmlosung der Monarchie mit den Mitteln des Kinokitsches, verkleidet in einem verlogenen Appell an Mitmenschlichkeit und interkulturelle Toleranz, wobei der indische Diener in diesem Film bei nüchternem Blick zum Stichwortgeber verkommt. Aber Kolonialismus als Gewaltsystem, das von der "Kaiserin von Indien" im Buckingham Palast aus gelenkt wird, wie soll so etwas schlecht sein bei einer so menschlichen Herrscherin? Das jubelt uns dieser Film unter. Über Helen Mirren, die Königinnen-Darstellerin in Stephen Frears Film "The Queen" schrieb jemand, "jeder Blick von ihr" sei "königlich". Über Judi Dench in "Victoria & Abdul" könnte man genau so etwas sagen. Nur, bitteschön, was ist denn ein "königlicher Blick"? Und warum brauchen wir - nach 1789 - überhaupt noch Könige?