Ein Künstler, der in Farbe fotografieren will. Kaum ein Kollege hatte Anfang der 70er Jahre Verständnis dafür, dass sich Stephen Shore mit so etwas - in ihren Augen - Oberflächlichem befasste. Die meisten Künstler hielten Farbfotografie damals für geschmacklos, kitschig und vulgär. Doch genau das reizte Stephen Shore:
"Anfang der 70er Jahre waren alle Fotos in Farbe. Magazine waren in Farbe, Filme, Fernsehen, Schnappschüsse, Werbebilder. Alles war in Farbe, außer künstlerischen Fotos, die mussten schwarz-weiß sein. Und weil mich visuelle Konventionen faszinieren und die Frage, woher kommen sie und wie kann man sie überwinden, war mir klar: Es ist Zeit, die Farbfotografie zu erforschen."
Dafür machte sich der damals 25-Jährige auf einen Roadtrip durch die USA. Mit einer Mick-a-Matic, einer Kamera in Form eines Micky-Mouse-Kopfs, bei der sich die Linse in der Nase versteckt. Mit dieser einfachen Kinderkamera fotografierte Shore alles, was ihm begegnete.
Es scheint, als hätte ein Amateur Bilder aus dem Handgelenk geschossen
Ein gelbes Wählscheibentelefon auf einem Couchtisch. Einen völlig verdreckten Kühlschrank. Einen Pekinesen, der sich auf einem spinatgrünen Teppich ausbreitet. Das Schaufenster eines Barbiers. Einen halb aufgegessenen Schokokuchen. Oder die schmutzigen Fußsohlen eines Mädchens.
"Ich habe jeden fotografiert, den ich getroffen habe. Ich habe drei Mal am Tag gegessen und ich habe mein Essen jedes Mal fotografiert. Ich habe jedes Bett fotografiert, in dem ich geschlafen hatte und jede Toilette, die ich benutzt hatte und jeden Fernseher."
American Surfaces - amerikanische Oberflächen - nannte Stephen Shore diese erste Serie mit Farbfotos, die er 1972 in New York ausstellte.
"Die American Surfaces wurden ursprünglich wie Schnappschüsse präsentiert - entwickelt von Kodak und einfach an die Wand gehängt, ohne Rahmen."
Diese Schnappschüsse in leuchtenden Farben bilden auch im c/o Berlin das Herz der Retrospektive. Auch wenn sie jetzt ordentlich gerahmt und mit Passepartouts versehen sind, scheint es noch immer aus, als hätte sie ein Amateur mal eben aus dem Handgelenk geschossen. Zufällige Bildausschnitte, auf denen gern auch mal die Füße oder die Hände des Fotografen mit im Bild sind. Doch wer genau hinschaut, entdeckt, dass Shore mit diesen Bildern etwas ganz Seltenes gelingt: Er fängt die Welt so natürlich ein, wie sie in unserem Blickfeld erscheint, so wie unsere Augen sie jeden Tag sehen. Und wie ein Soziologe erforscht er mit jedem Schnappschuss ein Stück der US-amerikanischen Alltagskultur.
Die Zeit in der Factory war lehrreicher als jedes Kunststudium
Vielleicht hat diese Faszination für das Alltägliche auch etwas mit Andy Warhol zu tun. Mit dem Pop-Art-Künstler freundete Shore sich an, als er 17 Jahre alt war. Er zog in Warhols Factory ein und hielt das bunte Leben des Popkünstlers und seiner Begleiter auf Schwarz-Weiß-Fotos fest - auch sie sind Teil der Retrospektive in Berlin. Auf einem Bild streckt sich Andy Warhol mit Sonnenbrille lässig auf einem komplett in Plastikfolie eingewickelten Sofa aus. Wie ein König, der bereit ist, seine Untertanen zu empfangen. Die Zeit in der Factory war für Shore lehrreicher als jedes Kunststudium.
"Dort ist mir zum ersten Mal das begegnet, was ich ästhetisches Denken nennen würde. Ich sah einen Künstler, der immer und immer wieder Entscheidungen treffen musste, ich habe ein Gespür für seinen Denkprozess bekommen und dafür, wie aus Ideen Kunst entstehen kann."
Auf der Suche nach neuen Ideen war Stephen Shore im Laufe seiner mehr als 50-jährigen Karriere als Fotograf immer wieder. Und die Berliner Retrospektive überzeugt genau deshalb, weil sie diese Denkprozesse sichtbar macht und uns nacherleben lässt, wie sich dieser Künstler entwickelt hat - mit allen Brüchen und Stilwechseln. Die 300 sorgfältig ausgewählten Fotos sind ganz klassisch chronologisch gehängt - mit jedem neuen Raum öffnet sich ein neues Experimentierfeld: der Wechsel zu großformatigen Stadtansichten, die Rückkehr zu Schwarz-Weiß-Fotos und schließlich die Entdeckung der Digitalkamera.
"Immer wenn ich merke, dass ich mich selbst kopiere, dann weiß ich, es ist Zeit für Veränderung."
"Ich weiß, dass die Leute keine Ahnung haben, wer ich bin"
Mittlerweile veröffentlicht er seine Bilder bei Instagram. In diesem sozialen Netzwerk war es lange nur erlaubt, quadratische Fotos zu posten. Stephen Shore ließ sich gern auf dieses Spiel ein und so endet die Ausstellung mit einem Computer, auf dem die Besucher in Stephen Shores Instagram-Fotos stöbern können.
Ein Selfie mit Shores Frau, rote Äpfel an einem Baum, ein schrottreifer Fernseher auf grüner Wiese. Dass viele Bilder, die heute bei Instagram veröffentlicht werden, denen ähneln, die er selbst schon in den 70er Jahren gemacht hat, freut Stephen Shore.
"Das ist interessant für mich, zu sehen, dass eines meiner Ziele, ein Bewusstsein für alltägliche Momente zu entwickeln, heute in der Kultur angekommen ist. Ich weiß, dass die Leute, die dort Bilder einstellen, keine Ahnung haben, wer ich bin. Sie haben noch nie von mir gehört oder meine Bilder gesehen."
Aber das sollten sie dringend ändern.