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Sterbehilfe in den Niederlanden

Die Niederländer waren in Europa Wegbereiter für die aktive Sterbehilfe. Die gesetzliche Regelung trat im Jahr 2002 in Kraft. Die niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE) berät und hilft Patienten, die nicht mehr leben wollen.

Von Kerstin Schweighöfer | 19.07.2012
    Ein einfaches Backsteinhaus mitten im Amsterdamer Grachtengürtel, zweiter Stock. Der Schreibtisch von Renée Meijer steht direkt am Fenster. Die schlanke, hochgewachsene Frau sitzt in einem modernen Büro mit Computern und langen Schreibtischen - in der Telefondienstzentrale der NVVE, wie sich die niederländische Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende kurz nennt. Auch an diesem Nachmittag blickt Renée so wie ihre vier Kolleginnen konzentriert auf einen Computerbildschirm - vor den Lippen ein Mikrofon und an den Ohren einen Kopfhörer, aus dem die Stimme einer Frau schallt.

    Renée leitet das Gespräch an ihre Kollegin Annemarie Koch weiter, die neben ihr sitzt. Denn die Anruferin kommt aus Deutschland, und Annemaries Fremdsprachenkenntnisse sind besser. Die Frau möchte wissen, ob sie mit ihrer todkranken Mutter zum Sterben nach Holland reisen kann. Annemarie Koch teilt ihr mit, dass dies nicht möglich ist. Ein solcher Sterbehilfe-Tourismus, so die 72-Jährige, sei ausgeschlossen: Wer Sterbehilfe bekommen will, braucht zwar nicht die niederländische Staatsbürgerschaft, aber seinen Wohnsitz muss er schon in den Niederlanden haben. Annemarie hilft der Frau deshalb mit Adressen in Deutschland weiter.
    Es gibt Tage, da erhalten die NVVE-Mitarbeiterinnen in der Telefondienstzentrale bis zu 200 Anrufe pro Tag. Bei Anfragen aus dem Ausland handelt es sich fast ausschließlich um Deutsche, die erfahren müssen, dass sie in den Niederlanden keine Sterbehilfe bekommen können. Den anderen Anrufern können wir in der Regel weiterhelfen, erzählt Renée Meijer:

    "Die einen wollen Informationen über unsere geplante Lebensende-Klinik, andere möchten Mitglied werden. Viele bestellen das Formular für eine schriftliche Sterbehilfeerklärung. Es gibt auch Menschen, die wollen wissen, mit welchen Medikamenten sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen können. Oder sie rufen an, weil ihr Hausarzt keine Sterbehilfe leisten will. Kein Gespräch gleicht dem anderen."

    Am anderen Ende des Ganges sitzt Petra de Jong hinter ihrem Schreibtisch und bereitet sich auf den nächsten Termin vor. Die 58-jährige Lungenärztin mit dem blonden Kurzhaarschnitt ist seit September 2008 Direktorin der NVVE:

    "Ich habe 20 Jahre als Lungenärztin gearbeitet und in diesen 20 Jahren 16 Mal Sterbehilfe geleistet. Die Patienten wollten nicht weiter leiden, ich habe diesen Wunsch respektiert. Als niederländische Ärztin habe ich den Eid abgelegt, einen Patienten zu heilen oder sein Leiden zu lindern. Und manchmal kann das Leiden nur gelindert werden, indem man dem Patienten erlaubt, in Würde zu sterben – vorausgesetzt, er hat diese Bitte ausdrücklich geäußert. Ich kann diesen Wunsch als Doktor natürlich ignorieren, aber dann, so finde ich, lässt man seinen Patienten im Stich."

    Dass ausgerechnet die Niederländer als erste den internationalen Alleingang wagten, ist für Petra de Jong kein Zufall. Die niederländischen Patienten gelten als außerordentlich mündige, die mitreden wollen.

    "Das hat mit unserer Kultur zu tun, wir Niederländer legen sehr viel Wert auf Ehrlichkeit und Transparenz, wir wollen nicht, dass etwas heimlich geschieht. Deshalb haben wir auch die Sterbehilfe gesetzlich geregelt."

    Die Richtlinien für Sterbehilfe galten in der Praxis bereits seit 1994, erst im April 2002, nachdem auch der Senat grünes Licht gegeben hatte, wurden die Richtlinien dann in einer Ausnahmeklausel im Strafgesetzbuch verankert. Ein historisches Datum, auf das die NVVE noch heute stolz ist: Unvergessen allerdings ist auch die Lawine der Kritik, die das kleine Land im Rheindelta wie ein Tsunami überrollte. Von einer "Lizenz zum Töten” war die Rede, der Vatikan sprach von einer "Schändung der menschlichen Würde”.

    "Dabei können wir nach zehn Jahren konstatieren, dass unsere Ärzte mit der Sterbehilferegelung äußerst sorgfältig umgehen, das haben ihnen die regionalen Prüfkommissionen bislang jedes Jahr bescheinigt. Von einem Dammbruch oder vom Anfang des Endes, wie es unsere Gegner prophezeit haben, kann keine Rede sein!"