Der Orden ist in Belgien Träger von 15 psychiatrischen Zentren mit rund 5.500 Patientinnen und Patienten. Axel Liegeois ist Professor für Ethik und praktische Theologie an der Universität Leuven und Mitarbeiter des Ordens der "Brüder der Nächstenliebe". Er weiß, dass eine Sterbehilfe vor allem bei psychisch erkrankten Patienten sehr umstritten ist:
"Das Leiden muss unerträglich sein und hoffnungslos, und es darf keine Mittel geben, das Leiden zu lindern. Das ist sehr schwierig zu erforschen. Wann können wir sagen, dass es wirklich keine Alternative gibt zur Sterbehilfe? Wir müssen den Patienten Alternativen aufzeigen: Wir bieten ihnen alle biologischen, psychologischen, sozialen und spirituellen Hilfen an, um neue Lebensperspektiven zu finden. Nur wenn das alles nicht hilft, dann kann es sinnvoll sein, den Wunsch nach Sterbehilfe zu erfüllen."
Außerdem lassen sich die Ordensbrüder sechs Monate Zeit zwischen dem ersten Gespräch mit dem Sterbewilligen und einer möglichen Entscheidung; das belgische Gesetz sieht dagegen nur einen Monat vor. Und in einer Ärztekommission soll vor der Sterbehilfeentscheidung der Wunsch des Patienten überprüft werden; laut Gesetz findet erst nach dem Tod eine Evaluation statt.
"Machtwillen des Menschen über das Leben"
Doch diesen Ansatz der belgischen Brüder lehnt sowohl die Ordensleitung in Rom als auch der Vatikan strikt ab. Papst Franziskus kritisierte mit Blick auf die Sterbehilfepraxis in den Benelux-Staaten die, so wörtlich, "ideologische Bestätigung des Machtwillens des Menschen über das Leben". Auch der Berliner Theologe und Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl hat kein Verständnis für den Weg des belgischen Ordens:
"Der Katholizismus ist durchaus vielfältig. Der hat nicht nur eine Einheitslinie. Aber was diese Frage angeht, dass man psychiatrieerfahrene Menschen aktiv unterstützt in ihrem suizidalen Begehren, das kann ich schlicht nicht nachvollziehen, weil es dem Kern des katholischen Verständnisses eines Krankenhauses widerspricht."
Axel Liegeois kennt diese Reaktionen. Er verweist auf ein Dilemma. Bevor man sich vor zwei Jahren für die Sterbehilfe entschieden habe, hätten sich sterbewillige Patienten einfach in eine andere Einrichtung überweisen lassen:
"Es ist besser, dass wir einen Leitfaden entwickelt haben für die Sterbehilfe, als dass wir Menschen zurückweisen und an andere Kliniken abgeben. Wir haben gesehen, dass Patienten zu bestimmten Ärzten gegangen sind, die wirklich sehr schnell mit der Entscheidung sind, eine Sterbehilfe durchzuführen. Einige haben mehr als 20 bis 30 Patienten pro Jahr getötet. Wir meinen, dass sie das nicht sorgfältig gemacht haben."
Allzu schnelle Wunscherfüllung
Dass in nicht-kirchliche Einrichtungen in Belgien der Wunsch nach Sterbehilfe allzu schnell realisiert werde, ist für Andreas Lob-Hüdepohl allerdings kein Argument für eine katholische Einrichtung, selbst Sterbehilfe durchzuführen:
"Dennoch heiligt nicht jeder Zweck jedes Mittel, und dieses Mittel, das sie wählen, im letzten dann doch eine aktive Suizidbeihilfe anzubieten, ist ein Mittel, dass dem Zweck, also noch restriktiver die Hilfe angedeihen zu lassen, für diesen Zweck (…) ist das Mittel nicht angemessen."
Dem hält Axel Liegeois entgegen, dass es seit März 2017 zwar etliche Anfragen wegen einer möglichen Sterbehilfe gegeben habe, dass aber letztlich bislang kein Patient diese Option gewählt habe:
"Jetzt brauche ich diesen Ausweg nicht mehr"
"Wir sehen, wenn wir ihren Wunsch ernst nehmen, dann hat das einen sehr positiven Effekt auf die Menschen. Sie fühlen sich wertgeschätzt in ihrer Person und ihrem Leiden und wir sehen, dass viele Patienten sagen: jetzt brauche ich die Sterbehilfe nicht mehr. Das ist eine paradoxe Situation. In dem Moment, in dem sie hören, dass ihr Leiden wahrgenommen wird, können sie ihr Leiden offenbar besser ertragen. Sie sagen: Ich weiß nun: Es gibt einen Ausweg, aber ich brauche ihn jetzt nicht."
Dennoch wächst der Druck der römischen Ordensleitung auf die belgischen Brüder. Zwei Mitgliedern der nationalen Ordensleitung wurde die Wiederernennung verwehrt. Der General der Kongregation, René Stockmann, hat damit gedroht, die belgische Sektion des Ordens notfalls auszuschließen. Doch die belgischen Brüder der Nächstenliebe wollen nicht von ihrer Linie abweichen und suchen die ethisch-theologische Auseinandersetzung. Für sie ist Nächstenliebe und Sterbehilfe kein Widerspruch. Axel Liegeois verweist auf die katholische Lehre von der Unverletzlichkeit des Lebens.
"Die Frage ist: Wie geht man mit diesem Wert um? Ist die Unverletzlichkeit des Lebens ein absoluter Wert ohne Ausnahmen oder ist es ein Wert, der sehr wichtig ist, von dem aber vielleicht unter bestimmten Umständen Ausnahmen gemacht werden?"
Beispiel Selbstverteidigung
Der Professor aus Leuven nennt als Beispiel die Selbstverteidigung: Um sein eigenes Leben zu schützen, sei es nach katholischer Lehre ethisch legitim, im Notfall jemand anderen zu töten. Dabei werde nicht nur auf den Akt des Tötens geschaut, sondern auch auf die Intention und die Umstände. Und diese drei Blickwinkel müsse man auch auf die Sterbehilfe richten, sagt Liegois:
"Wir müssen auch die Intention des Patienten und des Arztes mitberücksichtigen; auch die Tat: was bedeutet es, das Leben eines Menschen zu beenden. Aber wir müssen auch auf die Umstände blicken, und es ist der Umstand einer medizinisch aussichtslosen Situation, in der es unerträgliches, andauerndes Leiden gibt. Wenn man alles zusammenzieht, dann kann es in Ausnahmen Fälle geben, wo Sterbehilfe gerechtfertigt ist."
Axel Liegeois hält nicht so viel von abstrakten ethischen Grundsätzen:
"Die allgemeine ethische Regel bleibt: Du darfst nicht töten. Aber es ist eine allgemeine Regel. Wenn wir mit Menschen arbeiten, dann sind das nicht abstrakte Wesen, sondern lebendige Menschen mit ihrer eigenen Lebensgeschichte in einem bestimmten Kontext. Deshalb müssen wir die Besonderheiten ihrer Intentionen und der Umstände berücksichtigen. Es geht um alle drei Bezugspunkte der Moral: dem Akt, der Intentionen und der Umstände. Und diese Betrachtungsweise ist im Einklang mit der katholischen Tradition."
Der Staat macht Druck
Doch neben dieser theologisch-moralischen Argumentation gibt es auch ganz pragmatische Gründe für die Brüder der Nächstenliebe: Sie stehen unter dem Druck des belgischen Staates. Denn das Angebot der Sterbehilfe gehört zum Leistungskatalog des belgischen Gesundheitssystems. Im vergangenen Jahr haben 2.357 Menschen Sterbehilfe in Anspruch genommen; zwei Drittel von ihnen waren 70 Jahre und älter. Bei 2,5 Prozent aller Fälle wurden psychische Leiden als Grund angegeben.
Sollten sich aber katholische Einrichtungen in Belgien mit Verweis auf den Vatikan gegen die Sterbehilfe entscheiden, droht den kirchlichen Kliniken der Entzug der staatlichen Finanzierung. So hätten die allgemeinen Krankenhäuser in katholischer Trägerschaft von Anfang an auch Sterbehilfe durchgeführt, sagt Axel Liegeois.
"Katholischen Kliniken haben direkt nach 2002 erklärt, dass sie Sterbehilfe umsetzen würden unter der Voraussetzung, dass sie zunächst alle palliativen Möglichkeiten anbieten würden. Falls die palliative Betreuung den Patienten nicht mehr hilft, dann wird die Sterbehilfe durchgeführt. Das heißt: Sterbehilfe gibt es in allen katholischen Krankenhäusern. Es betrifft allerdings Sterbehilfe bei Patienten, die vor allem körperlich leiden, vor allem Krebspatienten, die bald sterben werden."
Noch geht das Ringen zwischen der Ordenszentrale in Rom und den belgischen Brüdern, zwischen den katholischen Prinzipien einer Weltkirche und den pragmatischen Auseinandersetzungen mit der belgischen Realität weiter.