Zwei Bücher – ein Anliegen: Das selbstbestimmte Leben soll selbstbestimmt enden dürfen. Bei allen Möglichkeiten der Palliativmedizin soll ein von Krankheit, Schmerz oder Siechtum geplagter Mensch selbst entscheiden können, wann er das eigene Leben beenden will. Und zwar ausschließlich aus guten und wohlüberlegten Gründen sowie aus freier und stabiler Entscheidung.
"Suizidhilfe bezeichnet die gezielte Hilfeleistung einer Person (Arzt / Angehöriger), die es einer anderen Person auf deren freiverantwortliches Verlangen hin ermöglicht, von eigener Hand zu sterben (Tatherrschaft beim Patienten!), indem in der Regel eine tödliche Dosis eines Medikaments verschrieben wird."
Der prominente Palliativmediziner Michael de Ridder breitet seine eigene Sterbeethik vor den Lesern aus, er schildert den Leidensdruck und Todeswillen sowohl anhand von Beispielen aus seiner Praxiserfahrung, als auch von prominenten historischen Fällen wie etwa Sigmund Freud und Franz Kafka, führt aus, was er als ärztliche Aufgaben definiert, welche Fragen ihn bei Entscheidungen leiten und auch immer wieder zweifeln lassen.
Befreiung vom Verwerflichen
"Nicht allein um Recht und Gesetz geht es mir in diesem Buch, das im Übrigen nicht im Geringsten die Suizidhilfe zu einer ‚normalen‘ ärztlichen Option erklären, geschweige denn sie glorifizieren will. Es ist vielmehr mein Anliegen, dazu beizutragen, sie vom Odium des Unärztlichen, des Unerhörten und Verwerflichen zu befreien."
Ein zentraler Satz, der in die folgenden empathischen Überlegungen und Fragen zum Thema ärztliche Suizidhilfe überleitet. Hätten früher meist die Ärzte entschieden, was das Beste für ihre Patientinnen sei, könne man heute über den Patientenwillen nicht mehr so einfach hinweggehen. Und am Ende eines Lebens setze eine vorhandene Patientenverfügung enge Grenzen, wenn es um medizinische Maßnahmen gehe.
Die Grenzen sind fließend
Wo endet medizinische Behandlung und beginnt Sterbehilfe? Das Leben nicht künstlich zu verlängern, das Sterben zulassen, früheres Sterben durch gebotene Sedierung in Kauf nehmen, die Grenzen sind oft fließend. Das macht de Ridder sehr deutlich. Und bei allen Zweifeln, die er einräumt bei Sterbebegleitungen zu haben, hält er Suizidhilfe für eine ärztliche Aufgabe. Das steht im Gegensatz zur derzeitigen berufsrechtlichen Auffassung. In Exkursen erörtert der Arzt sowohl diese wie auch die strafrechtlichen Bestimmungen in ihren Schwankungen im Laufe der letzten Jahrzehnte. Das bietet eine hilfreiche Orientierung.
De Ridder ist stolz darauf, dass er eine im Jahr 2015 erfolgte Gesetzesverschärfung, die die geschäftsmäßige, das heißt auf Wiederholung angelegte Sterbehilfe unter Strafe stellte, erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht bekämpfte. Die Regelung ist seit Anfang 2020 unwirksam. Demnach steht es jedem Bürger zu, sein eigenes Leben von eigener Hand zu beenden und dabei Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einen Anspruch auf Suizidhilfe indes hat niemand. Das begrüßen sowohl de Ridder als auch sein Schweizer Kollege Kriesi. Beide schildern absurde und anmaßende Anfragen, die eine Art Dienstleistung auf Abruf verlangen.
"Von ernster, tiefgreifender und langwieriger Selbstbefragung, die in eine wohlerwogene Suizidabsicht mündete, zeugen die wenigsten Anfragen."
"Mit allen Widersprüchen, Ambivalenzen, offenen Fragen"
De Ridders Buch ist stark und überzeugend, wenn er als Arzt und Sterbebegleiter schreibt. Schwach ist es, wenn er Gegenargumente aufnimmt und selbst entkräftet.
Die Grauzonen, die Schwierigkeiten und Widersprüche werden im zweiten hier vorgestellten Buch genauer und glaubwürdiger abgebildet. Das liegt an der Form, am Zwiegespräch der Philosophin Suzann-Viola Renninger mit dem Freitodbegleiter Werner Kriesi.
"Mit allen Widersprüchen, Ambivalenzen, offenen Fragen. So wie wir es uns für das gesamte Buch vorgenommen und bis jetzt auch eingehalten haben."
Kriesi ist Geistlicher, der 89-Jährige arbeitet für die Sterbehilfeorganisation Exit. Kurz vor seiner Pensionierung hatte ihn ein Gemeindemitglied gebeten, bei seinem von Exit unterstützten Suizid dabei zu sein. Mit den Worten "Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer." Das war der Impuls für Kriesi, er trat Exit bei. Seither – seit 1997 - hat er Hunderte Menschen beim Sterben begleitet.
Das Buch wechselt zwischen Gesprächen, Reflexionen und Hintergrundpassagen von Renninger sowie Erzählpassagen von Kriesi.
Der Schweizer nennt sich Freitodbegleiter, denn…
"…auch der Begriff Suizid ist so von moralischer Verwerflichkeit aufgeladen."
De Ridder hält hingegen Suizidhilfe für den geeigneten Begriff.
"Selbsttötung – bzw. das Nachdenken darüber – war und ist immer auch Sinnsuche, in dem Sinne, dass man eine vermeintlich oder tatsächlich lebensrelevante ausweglose Lage zu bewältigen versucht."
Konkurrenz auf dem Todesmarkt
Auch im Schweizer Buch werden rechtliche Entwicklung und derzeitige Situation sowie die ethischen Perspektiven entrollt.
Renninger konfrontiert Kriesi mit der Kritik an der unternehmerischen Dimension von Exit. Man konkurriere mit anderen Organisationen um zahlungsbereite Sterbewillige, das führe dazu, dass es nach Anbahnung einer Sterbebegleitung kein Zurück mehr gebe, so der Vorwurf.
"Eine realitätsfremde Vorstellung, dass jemand […] dann auch gezwungen sei zu sterben. Die Tatsache ist: Wir ermutigen die Menschen, sorgsam auf ihre innere Stimme zu hören. Und sich jederzeit die Freiheit zu nehmen, das zu tun, was sie richtig finden. Dazu gehört auch, dass sie immer absagen können. Auch wenn wir schon da sind, der Sterbetrunk oder die Infusion schon bereitstehen. Jederzeit ist ein Nein möglich. Wir erleben das immer wieder."
Ein Drittel der Hilfesuchenden gehe letztlich nicht den Weg des assistierten Freitods. Vielen reiche die Gewissheit, dass sie nicht alles aushalten müssten, was ihnen womöglich noch bevorsteht.
Die vielen Fallbeispiele veranschaulichen den Ablauf des gesamten Prozesses von Kontaktanbahnung, Gesprächen, Einbeziehung der Ärzte, bis schließlich zur Bereitstellung des Suizidmittels und dem, was nach dem Tod geschieht. So wird etwa jedes Mal die Polizei gerufen, die Delikte ausschließen muss. Es wird deutlich, wie viel seelsorgerische Arbeit, wie viel Offenheit, Zeit und Fürsorge es am Ende eines Lebens eigentlich braucht.
Suizidhilfe für psychisch Kranke
Wie de Ridder bringt auch Kriesi Fälle an, bei denen Menschen eigentlich Lebenshilfe und keine Sterbehilfe suchen. Und hier ist der große und heikle Unterschied in der Haltung beider Protagonisten. De Ridder verweist diese Menschen an Einrichtungen zur Krisenhilfe. Auch Kriesi tut dies in den aller meisten Fällen, allerdings geht es im Buch auch um einzelne Fälle etwa der Lebensmüdigkeit und Einsamkeit im Alter, bei denen der Seelsorger einen Suizid begleitet hat. Bilanzsuizid nennt Kriesi das. Renninger hinterfragt diese Fälle mehrfach.
"Die von den Gesellschaften (für Gerontologie, Geriatrie und Alterspsychiatrie) und vielen Fachpersonen vertretene Alternative ist: bessere Diagnose und Therapie der Altersdepression."
"Das hören wir ständig: Die Depression braucht nur fachgerecht behandelt zu werden, dann tritt der Wille zum Sterben in den Hintergrund. Doch das Hochalter hat seine eigene Art von Depression. Eine Altersdepression ist ein chronisches Trauergefühl, weil die geliebten Menschen gestorben sind und die Einsamkeit zunimmt. […] Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Altersdepression bedeutet eine natürliche […] Erscheinung, die uns Alten hilft, uns ohne Verzweiflung und Erbitterung vom Leben zu lösen."
Dennoch ist Suizidhilfe für psychisch Kranke im Allgemeinen auch für Kriesi eine ambivalente und schwer zu ertragende Angelegenheit.
"Es ist schlimm, wenn die Kranken so jung sind. Man denkt, da müssen sie doch rauskommen. Man denkt, es müsse noch irgendeinen Weg geben. Immer wieder habe ich alles versucht. Alles. Und musste dann doch irgendwann einsehen, dass das Leiden so groß war, dass ich zustimmen und die Kranken in den Tod begleiten musste."
Bei allen Gemeinsamkeiten sei das Buch von Michael de Ridder vor allem Skeptikern empfohlen, die sich gern plausibel überzeugen lassen möchten. Etwa wenn de Ridder den US-Rechtsphilosophen Ronald Dworkin zitiert:
"Jemandem eine Weise des Sterbens aufzuzwingen, die anderen zusagt, die er selbst aber als grausamen Widerspruch zu seinem Leben empfindet, ist – grundsätzlich – eine finstere, krude Form der Machtausübung."
Das Buch von Suzann-Viola Renninger ist den Befürwortern der Sterbehilfe ans Herz zu legen. Denn es macht alle Punkte deutlich, die in Deutschland bei der von Karlsruhe geforderten gesetzlichen Neuregelung unbedingt zu bedenken und zu beachten sind.
Michael de Ridder: "Wer sterben will, muss sterben dürfen. Warum ich schwer kranken Menschen helfe, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden"
DVA, 224 Seiten, 20 Euro.
DVA, 224 Seiten, 20 Euro.
Suzann-Viola Renninger: "Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Werner Kriesi hilft sterben"
Limmat Verlag, 253 Seiten, 29 Euro.
Limmat Verlag, 253 Seiten, 29 Euro.