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Sterben in der Pandemie
″Wie wir mit dem Tod umgehen, so gehen wir auch mit dem Leben um″

Der Trauer über die COVID-19-Toten müssten ″wir uns kollektiv stellen″ und dafür auch Zeit nehmen, sagte die evangelische Theologin Petra Bahr im Dlf. Derzeit habe sie aber die Sorge, dass der Umgang mit dem Tod ″uns weiter auseinandertreibt″ - in die, die trauerten und die, die das hoch lästig fänden.

Petra Bahr im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Stühle stehen mit großem Abstand in der Trauerhalle des Bestattungsunternehmens Seemann. Hamburger Bestatter fürchten, im Falle einer Verschärfung der Corona-Pandemie nicht ausreichend mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln versorgt zu sein. (zu dpa "Bestatter: Wir brauchen ausreichend Schutzkleidung und Systemrelevanz")
Eine Trauerhalle eines Bestattungsunternehmen in Hamburg (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
Wir seien derzeit in einer offenen Situation, was den Umgang mit dem Tod angehe, sagt die Regionalbischöfin der Landeskirche Hannover, Petra Bahr. Es sei eine Situation, ″wo die einen sehr viel sensibler werden für die Frage, worauf kommt es mir eigentlich an und worauf kommt es auch anderen an, und die anderen sich einfach sagen, das ist mir egal.″
Bahr sorgt sich deshalb, dass die Gesellschaft auseinanderdriften könnte. Zum einen in Menschen mit einem Freiheitsverständnis, die ″ sich auf brutalste Weise überhaupt nicht mehr schert um die Situation des anderen.″ Und zum anderen in Menschen, ″die beklagen und betrauern″, so Bahr die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist.
Es könne aber auch sein, dass die Pandemie uns unsere Verletzlichkeit stärker vor Augen führt ″als noch vor einem halben Jahr oder vor einem Jahr, wo wir dachten, wenn man die Dinge nur gut genug macht, dann hat man sein Leben schon einigermaßen im Griff″, so Bahr. Diese Einsicht in die permanente Bedrohung könne das Leben auch kostbarer machen.
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Ann-Kathrin Büüsker: Die Welt ist ein Dorf. – Diese Idee, dass man jeden oder jede innerhalb einer sozialen Gemeinschaft irgendwie über Ecken kennt, das ist nicht nur eine kühne Idee. Es gibt sozialwissenschaftliche Theorien und Experimente, die sich damit beschäftigen und nachweisen können, die Welt ist wirklich ziemlich klein. Und ja, am Ende kennt jede irgendwie doch jeden über ein paar Ecken zumindest. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass jede von uns über Ecken jemanden kennt, der an oder mit Covid-19 gestorben ist, die steigt jeden Tag, so wie jeden Tag die Zahl der Toten steigt. Heute Morgen sind es 500 laut RKI, insgesamt über 22.000 Tote in Deutschland seit Beginn der Pandemie. Verabschieden ist in den meisten Fällen nicht möglich. Viele Menschen sterben isoliert auf der Intensivstation. Beerdigungen sind nur noch in sehr kleinem Kreis möglich. Das Sterben durch eine Krankheit, es ist ja ein sehr leises Sterben, und ich hatte den Eindruck, dass angesichts der sehr lauten Diskussion über die richtige Art der Infektionsschutzmaßnahmen dieses leise Sterben in den Hintergrund gerückt ist. Von Petra Bahr, Regionalbischöfin der Landeskirche Hannover, wollte ich wissen, wie ihr Eindruck ist.
Petra Bahr: In der Tat ist Sterben leise und vor allem ist Sterben sehr individuell. Es sterben keine Kollektive oder messbare Zahlengruppen, sondern es sterben Menschen mit Lebensgeschichten, gerade im Augenblick jedenfalls. Wer an Covid-19 stirbt, stirbt einsam und oft in ganz gruselig-technischer Umgebung, und das ist natürlich eine Art von Tod, die man gerne so weit wie möglich von sich drängt, obwohl es öffentlich und auch in den Medien ja durchaus so ist, dass viel und gerne gestorben wird, vom Tatort bis hin zu irgendwelchen Serien. Aber das ist ein Tod, der uns, glaube ich, deswegen so nah geht, weil die, die davon im Augenblick verschont sind, ahnen, dass dieses Sterben ganz fürchterlich ist.
″Jedes Schicksal wird wir ein individuelles Schicksal behandelt″
Büüsker: Wenn das jetzt eine große Katastrophe wäre, die mehr als 22.000 Menschen auf einen Schlag dahingerafft hätte, dann würden wir wahrscheinlich ganz anders debattieren, oder?
Bahr: In der Tat. Wir würden nicht nur debattieren, sondern wir hätten riesengroße Gedenkfeiern. Wir würden in einer traurigen Schockstarre verharren. Wir würden uns sogar öffentlich trauen zu weinen und uns zu umarmen. Aber das ist ja das, was Christian Drosten eine chronische Katastrophe genannt hat, und es besteht ein bisschen die Gefahr, dass wir uns, weil es so chronisch ist, auch an die hohen Sterbezahlen gewöhnen, bis sie dann plötzlich in unserer eigenen Nachbarschaft passieren. Dann sind Menschen plötzlich ganz alert und wundern sich, dass dieses Thema im Grunde auf Fallzahlen reduziert ist. Das liegt auch daran, wenn man sich mit der Geschichte der Pandemien etwas befasst, dass auch schon vor 100 Jahren bei dieser Pandemie, wo ja wirklich Millionen von Menschen weltweit gestorben sind, es ganz wenig Spuren des kollektiven Erinnerns gibt. Es gibt die großen Erinnerungstafeln für die verstorbenen Soldaten, aber es gibt kaum Spuren, obwohl ganze Dörfer ausgelöscht wurden durch die sogenannte Spanische Grippe. Auch da hat man eine kollektive Katastrophe, die über Jahre dauert. Am Schluss wird aber jedes Schicksal wie ein individuelles Schicksal behandelt, so wie man an Krebs stirbt oder vor ein Auto läuft.
Petra Bahr, Regionalbischöfin der Landeskirche Hannover
Petra Bahr, Regionalbischöfin der Landeskirche Hannover (privat)
Büüsker: Das heißt, wir reden ja quasi täglich über die Zahl der Toten. Wir haben jetzt über 22.000. Das heißt, das ist eigentlich auch immer noch zu abstrakt, als dass wir das als individuelles Sterben begreifen?
Bahr: Ich glaube, dass es zu abstrakt ist und vielleicht auch zu groß, vielleicht auch zu furchtbar, um eine Sprache dafür zu finden, weil es ja die Sprache ist, die über kollektive Tode reden muss. Aber vielleicht geht es auch gar nicht in diesem großen Maßstab. Es ist ja sowieso immer nur symbolisch. Ich fände es schon schön, wenn in den Nachbarschaften, in den Dörfern, in den Städten es Orte gibt, wo die Namen und möglicherweise auch die Lebensgeschichten derer, die jetzt versterben, in Kurzform erzählt werden, damit aus diesen Zahlen wenigstens Eigennamen werden.
″Trauern können braucht viel Zeit und Orte″
Büüsker: Sie haben eben gesagt, das ist mir ganz besonders aufgefallen, wenn das ein großes schlimmes Ereignis wäre, dass wir uns wahrscheinlich trauen würden, uns zu umarmen und zu weinen. Das bringt mich zu der Frage, wie wir eigentlich mit dem Tabu Tod umgehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, als meine Mutter vor einigen Jahren gestorben ist, dass es Menschen unglaublich schwergefallen ist, über diesen Tod zu sprechen, auf mich zuzukommen, den Tod anzusprechen, dass da viele Hemmungen sind und es vielen schwerzufallen scheint, die richtigen Worte zu finden. Warum fällt uns das so schwer?
Bahr: Vermutlich ist uns das immer schon schwergefallen, weil jeder Tod eines anderen mich ja an meinen eigenen möglichen Tod erinnert, und das ist nicht nur schambehaftet, sondern auch natürlich schrecklich, objektiv schrecklich. Aber es gab lange auch so etwas wie eine Ars Moriendi, eine Kunst, mit dem Sterben so umzugehen, dass ich gar nicht kluge Worte erfinden musste. Ich hatte einfach die Worte der Tradition, die Rituale, auch die christlichen Traditionen des Aufbahrens, des Abschiednehmens, und man konnte sich darauf verlassen, dass man sich Worte leihen konnte, die einem helfen. Jetzt muss man aber sogar in der Trauer noch originell sein, irgendetwas Gutes erfinden, und gleichzeitig ist es so – das merkt man natürlich auch bei vielen anderen Todesarten -, dass man den Eindruck hat, ich kann ja nur was falsch machen. Diejenigen, die trauern, haben im Zweifel gar nicht das Problem, dass jemand was falsch macht, sondern dass sie behandelt werden wie Aussätzige. Das andere ist, was jetzt in dieser Pandemie auch eine Rolle spielt: Trauern können braucht wahnsinnig viel Zeit und es braucht auch Orte, auch öffentliche Orte. Deswegen gibt es ja auch Orte, an denen wir abendländisch unsere Toten betrauern, aber auch da gibt es restriktive Einschränkungen, wer darf sich da eigentlich versammeln und wie. Wir lernen gerade ganz mühsam, dass man sich möglicherweise auch digital von Menschen verabschieden muss oder kann und sie auch in diesen Räumen betrauern darf, aber da stehen wir ganz am Anfang und diese Sprachnot, verbunden mit dieser Hilflosigkeit, und auf der anderen Seite auch mit der Rücksichtslosigkeit, in der man sagt, na ja, das sind die alten Leute, was interessiert uns das, was evident falsch ist, kommt zu dieser Gemengelage, bei der sich, glaube ich, alle sehr, sehr unbehaglich fühlen, nur auf unterschiedliche Weise darauf reagieren.
″Die Sprachnot der einen ist auch die Sprachnot der anderen″
Büüsker: Es klang jetzt schon ein bisschen bei Ihnen durch, aber wie sehen Sie jetzt den, ich will nicht sagen, idealen Weg, aber vielleicht einen Weg, dass wir dieses stumm sein, dieses begrenzt sein auf uns auch in Trauer, wie wir das gemeinsam überwinden können?
Bahr: Es gibt nicht mehr diesen einen Weg in so einer differenzierten Gesellschaft, in der auch die Trauerrituale ganz anders geworden sind. Aber für mich ist die christliche Tradition deswegen so wichtig, weil man sogar stumm sein darf im Angesicht des Todes, ohne dass man unter Trauerpoesiezwang gerät, weil man sich in die alten Lieder, in die alten Traditionen einfügen kann. Das ist aber für ganz viele Menschen einfach nicht mehr der Ort, an dem sie den Eindruck haben, ihrer Trauer einen Raum geben zu können, und deswegen glaube ich, im Moment hilft, wenn man so will, ins Große gesehen nur das, was wir jetzt gerade machen: es ansprechen, einfach darauf hinzuweisen, dass die Sprachnot der einen auch die Sprachnot der anderen ist und dass Trauer etwas ist, was man weder verordnen, noch abkürzen kann. Aber dass wir uns dieser Trauer auch kollektiv stellen müssen, das scheint mir sonnenklar zu sein.
Einsamkeit in Corona-Zeiten - „Menschen verkümmern zu Tode"
In der evangelischen Kirche rumort es. Tun wir in der Coronakrise genug für die Einsamen und Verängstigten? Ein Dorfpfarrer kritisiert: Die Menschen seien in eine Angstpsychose versetzt worden.
Büüsker: Da stellt sich die Frage, ob vielleicht in die Leerstellen, die Religion lässt in unserer aktuellen Gesellschaft, der Staat einspringen kann. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte ja schon im September vorgeschlagen, man könnte eine offizielle Trauerfeier für die Toten der Pandemie machen. Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Idee?
Bahr: Ob es so einen Gedenktag oder so etwas zivil-religiöses geben kann oder soll, das können andere entscheiden. Ich glaube, dass die Kirchen jetzt schon auch Orte des Trauerns und Gedenkens auch für die sein können, die sich dort nicht so wohl fühlen, weil es die letzten öffentlichen Orte sind, wo man mal eine Kerze anzünden kann, wo man einfach mal still sitzen kann, wo es auch erlaubt ist, im öffentlichen Raum zu weinen, weil man eine Nachbarin beklagt, die man möglicherweise 20 Jahre einfach nur nervig fand. Und dass die Symbole des öffentlichen Gedenkens wichtig werden, davon bin ich überzeugt. Es hilft nur in der Regel den Angehörigen relativ wenig, sondern es ist der Ort, an dem wir uns für die nächsten Generationen an diese Pandemie erinnern werden müssen.
Die eigene Verletzlichkeit ″stärker verstehen″
Büüsker: Wenn für uns alle die Gegenwart von Verlust durch die Pandemie plötzlich gegenwärtiger wird, wenn jetzt plötzlich jeder jemanden kennt, der an Covid-19 gestorben ist, wie verändert das uns als Gesellschaft, diese Allgegenwärtigkeit des Todes?
Bahr: Ich weiß es noch nicht, wie es uns verändert. Ich glaube, es gibt die doppelten möglichen Ausgänge. Das eine könnte ja sein, dass wir uns in unserer Verletzlichkeit viel stärker verstehen als noch vor einem halben Jahr oder vor einem Jahr, wo wir dachten, wenn man die Dinge nur gut genug macht, dann hat man sein Leben schon einigermaßen im Griff. Das stimmte natürlich auch vor einem Jahr schon nicht, weil natürlich individuell es auch schon da furchtbare Tode gab. Aber diese Einsicht in die permanente Bedrohung kann ja das Leben auch kostbarer machen, kann ja dazu führen, dass man sich fragt, was ist eigentlich wirklich wichtig, worauf kommt es an in diesem Leben. Denn so wie wir mit dem Tod umgehen, so gehen wir auch mit dem Leben um. Das ist eine ganz alte Weisheit. Die Sorge, die ich habe, besteht aber darin, dass es uns weiter auseinandertreibt, und zwar die, die Menschen beklagen und betrauern, und die anderen, die das hoch lästig finden und möglicherweise auch ignorieren, solange es sie nicht selber betrifft, weil sie sagen, ich möchte nicht genötigt werden, mich permanent mit diesem traurigen Thema auseinanderzusetzen, solange es mich nicht betrifft, lasst mich in Ruhe feiern und meine Freiheit genießen, so ein Freiheitsverständnis, was sich auf brutalste Weise überhaupt nicht mehr schert um die Situation des anderen. Und ich glaube, wir sind gerade in einer sehr offenen Situation, wo die einen sehr viel sensibler werden für die Frage, worauf kommt es mir eigentlich an und worauf kommt es auch anderen an, und die anderen sich einfach sagen, das ist mir egal.
″Diskrepanz wird immer schwerer auszuhalten″
Büüsker: Man könnte ja auch sagen, dass sich vielleicht angesichts dieser hohen Zahlen von toten Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Politik ein bisschen verändert hat. Da sehen wir ja in den vergangenen Wochen wirklich massive Unterschiede von einem erst sehr zögerlichen Übergehen zu einem Lockdown zu jetzt einem, ich will nicht sagen, radikalen, aber doch sehr schnellen Vorgehen, angesichts so vieler Toter. Vielleicht haben die Totenzahlen da auch die Politik massiv mit beeinflusst.
Bahr: Das haben sie sicher. Es hat jedenfalls die Rhetorik in Teilen schon beeinflusst, wenn etwa Markus Söder von einer ethischen Kapitulation redet. Das sind ja mehr ungewöhnliche Begriffe für jemanden, der ja vor allem Probleme abschichtet und Lösungen sucht. Auf der anderen Seite haben wir uns noch viel zu wenig darüber verständigt, wie wir eigentlich verhindern, dass gerade in unseren Pflegeeinrichtungen so, so viele Menschen gerade versterben, und wie wir eigentlich Solidarität zeigen mit denen, die am absoluten Limit völlig erschöpft versuchen, diesen Menschen gerade nah zu sein. Das hat vielleicht auch was damit zu tun, dass nicht auf der Straße gestorben wird, wie wenn etwa ein ICE entgleist oder nach einem Terroranschlag, wo das Blut im Grunde auf dem Asphalt zu sehen ist, sondern es wird gestorben auf Intensivstationen und in Pflegeeinrichtungen – wenn man so will trotzdem unsichtbar in Räumen und Welten, die ganz weit weg sind von den Welten, die jetzt noch mal zwei Tage das Weihnachtsgeschäft abfeiern. Diese Diskrepanz wird immer schwerer auszuhalten für die, die diese ganze Last stellvertretend für uns alle tragen, und die, die davon gar nichts bemerken.
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