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Sternstunden aus Abstürzen

Tracey Emin beherrscht das Spiel mit den Medien; intime Einzelheiten aus ihrem Leben bilden das Fundament ihrer Kunst. Die 1963 geborene Britin türkisch-zypriotischer Abstammung ist auf der Höhe ihres Ruhms, ein Star der Kunst- und Partywelt. Da darf eine Biografie nicht fehlen.

Eine Besprechung von Arne Rautenberg |
    Als ich 14-15 war, gab es nichts in meinem Leben außer Tanzen und Sex. Ich ging in Clubs und tanzte. Dann traf ich jemanden und wir hatten Sex. Es war einfach und es tat gut. Nichts tun. Nur mit dem Körper denken, wie ein Vogel. Ich dachte ich sei frei.

    Vor allen mit zwei Arbeiten hat die britische Künstlerin Tracey Emin in den 90er-Jahren für Furore gesorgt: "Everyone I have ever slept with" ist ein Zelt, in dessen Innenraum die Namen all derer eingenäht sind, mit denen die Künstlerin zeitlebens geschlafen hat. Die Installation "My bed" hingegen besteht aus dem ausgestellten, zerwühlten Bett der Künstlerin, samt danebenliegender benutzter Kondome und blutiger Unterwäsche. In der Rücksichtslosigkeit, mit der Tracey Emin ihr Privatleben als störrischen Triumph ausstellt, steckt eine Provokation, auf die die Boulevardpresse nur zu gern wartet - - kurz: Schneller kann man nicht zu Schlagzeilen und damit in den für den Kunstbetrieb so wichtigen Hype kommen.

    Das Setzen auf den Schockeffekt, der seichte Umgang mit der eigenen Geschichte, die unwiderstehliche Mischung aus Verruchtheit und Glamour – diese Zutaten sind ebenfalls in Tracey Emins Buch "Strangeland" eingegangen.

    Das leicht zu lesende, in Ich-Form geschriebene Buch ist in drei Teile mit kurzen Kapiteln aufgeteilt: In "Motherland", dem beeindruckendsten ersten Teil, erzählt die Autorin von ihrer ärmlichen Jugend, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Paul in der heruntergekommenen Küstenstadt Margate verbringt. Die Eltern trennen sich, die Mutter schuftet in einer Nachtbar, das karge, harte Leben läuft aus dem Ruder. Der Teenager wird sexuell missbraucht, bricht mit 13 Jahren die Schule ab, sieht die eigenen Zähne zerbröseln, hat zahllose Affären und tanzt wie besessen in Diskotheken. Bei einem Tanzwettbewerb kommt es zu folgendem Zwischenfall:

    Und als ich anfing zu tanzen, begannen die Leute zu klatschen. Ich würde gewinnen, und dann wäre ich weg hier. Nichts konnte mich aufhalten. Doch dann ging es los: SCHLAMPE, SCHLAMPE, SCHLAMPE. Eine Gruppe von Typen, mit den meisten hatte ich Sex gehabt dann und wann, sie fingen an zu grölen. Das Grölen wurde lauter: SCHLAMPE, SCHLAMPE, SCHLAMPE -, bis ich am Ende nicht mal mehr die Musik hören konnte. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich weinte. Ich verlor den Wettkampf. Ich lief von der Tanzfläche weg, raus aus dem Club, die Stufen runter zum Meer. Und ich überlegte, von hier fortzugehen, ich muss weg. Ich bin besser als all die anderen hier. Ich bin frei.

    Also verlässt Tracey Emin Margate, um in London Kunst zu studieren, was im Text leider nicht weiter reflektiert wird. Im zweiten Teil des Buches mit dem Titel "Fatherland" sucht die Erzählerin ihren Vater in der Türkei und in Zypern auf, gibt sich exotischen Impressionen hin und lässt sich in die väterliche Familiengeschichte einweihen. Poetische Traumsequenzen setzen einen Kontrast zur geschilderten Härte des ersten Teils; da atmet man als Leser auf, als das Skandalon zurückkehrt – die Erzählerin Tracey Emin endlich eine Amour fou mit dem Fischer Abdullah eingeht, der seine Exsistenz dafür dem völligen Niedergang anheimgibt.
    Bleibt der dritte Teil des Buches: "Traceyland". Eine konfuse Materialsammlung der großen Emin-Themen: unerwiderte Liebe, sexuelle Sehnsüchte, Schwangerschaftsgefühle sowie dezidierte Anmerkungen zur Abtreibung. Sprunghaft und überraschend kommen die Kapitel mal als Glossar daher, dann wieder als Gedicht, kleine Erzählung, Notiz, als Ratgeber oder in Tagebuchform. Ironiefrei werden Wünsche, Sehnsüchte und Ängste ausgebreitet, ohne Rücksicht auf Kitsch oder Hardcoreeinlagen. Einen Rezeptvorschlag hat die Künstlerin dann auch noch parat:

    Butter aufs Brot, dann eine hauchdünne Schicht Tomatensoße. Jetzt die Fischstäbchen aus der Pfanne nehmen und sie aufs Brot legen. Fertig: das klassische Fischstäbchensandwich. Am besten mit Wodka und einer Dose Red Bull hinunterspülen.

    Nicht nur in ihrer Kunst, auch in ihren Memoiren bleibt Tracey Emin also das Mädchen mit der Abtreibung, dem verzweifelten Liebeshunger, eine Königin in Prada und Cowboystiefeln, deren Teenager-Rebellion noch immer nicht beendet scheint. Es gibt diesen Spruch: Würde man alles, absolut alles über das Sexualleben eines x-beliebigen Menschen wissen, so würde dieses Wissen die ganze Welt in Erstaunen versetzen können. Tracey Emin hat sich in ihrem Buch aufgemacht, genau das zu tun. Und also staunen wir. Natürlich konnte "Strangeland" nur erscheinen, weil eine berühmte, schlagzeilenerprobte Künstlerin dahinter steht. Das hat allerdings den Vorteil, dass man die gewonnenen Erkenntnisse aus der Lektüre beim nächsten Betrachten eines Emin-Kunstwerks passend mit einfließen lassen kann.

    Jede Gesellschaft bekommt die Kunst, nach der sie verlangt: Hier bekommt sie die Selbst-Inszenierung einer rotzigen Künstlerin als Gesamtkunstwerk aufgetischt – ein typischer Ausdruck derzeitiger Gegenwartskunst, ein Reflex auf alles, was vorher als geschmackvoll, feinfühlig, intelligent und intellektuell galt.

    Und das bleibt von der Lektüre: Dass eine starke Frau berichtet, wie sie aus den Niederlagen ihres Lebens Siege in der Kunstwelt macht. Wir, ihre Leserschaft, werden mit den ersten Enthüllungen, die wir gierig auflesen, zum Komplizen dieser Strategie.
    Und noch etwas: Mit dieser erstaunlichen Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau hätte ein Biograf niemals so rücksichtslos umgehen können – da ist das raue Selbstporträt doch jeder glatt gespachtelten Version vorzuziehen.

    In den letzten paar Jahren habe ich mein Inneres nach Außen gekehrt. Ich weiß, dass nichts unumstößlich feststeht, doch sehe ich nur zwei Möglichkeiten: entweder Würde, Respekt und Selbstachtung. Oder eine trunken-dekadente Orgie kreativer Lust; so extrem zu leben, wie es einem Menschen möglich ist, ohne Angst zu kriegen. Und ich weiß nicht, welchen Weg ich gehen soll.

    "Strangeland" von Tracey Emin ist im Blumenbar Verlag erschienen. Das Buch ist 240 Seiten stark und kostet Euro 19,90.