Giegold sagte weiter, viele Unternehmen nutzten bereits einen Niedrigsteuersatz. Die Europäische Union müsse den britischen Austritt nutzen, um die Steuervermeidung von Großkonzernen zu beenden. "Wir brauchen eine gemeinsame Steuerpolitik", so Giegold. Ein Mindeststeuersatz sei nötig - und das sei ohne die Briten auch leichter zu erreichen.
Die Ankündigung Großbritanniens, den Steuersatz zu senken, sei zudem als Signal nach Innen zu bewerten, sagte der Grünen-Politiker. Es sei vor allem ein politischer Marketing-Gag: "Großbritannien ist bereits die größte Steueroase weltweit." Er warnte britische Politiker aber davor, falsche Versprechungen zu machen: Wer Freizügigkeit für Waren und Geld verspreche, nicht aber für Menschen, der verspreche etwas Unhaltbares.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Chaostage in Großbritannien - so beschreiben unsere Korrespondenten das Geschehen dort seit dem Brexit-Votum der Briten. Jene, die den Brexit herbeigeführt haben mit ihren Kampagnen, mit ihren Versprechen, inzwischen muss man sagen mit ihren Lügen, Boris Johnson und Nigel Farage, beide kneifen und ziehen sich zurück. Den Brexit verhandeln, ihn durchführen, das sollen andere, nämlich die amtierende Regierung unter David Cameron beziehungsweise dessen Nachfolger, über den die Tories heute erstmals abstimmen wollen. Die Wirtschaft reagiert aufgeschreckt, die Märkte sind nervös, viele große Firmen wie Vodafone, Visa oder EasyJet, auch viele große Banken überlegen ernsthaft, die Insel zu verlassen, und die Noch-Regierung in London will das verhindern und kündigt an, die Unternehmenssteuer, die Körperschaftssteuer drastisch zu senken. - Am Telefon begrüße ich Sven Giegold von den Grünen, im Europaparlament ist er Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Währung. Guten Morgen, Herr Giegold.
Sven Giegold: Ja! Guten Morgen, Herr Dobovisek.
"Wir brauchen einen eigenen Mindeststeuersatz"
Dobovisek: Wird Großbritannien mit dieser Steuersenkung eine Steueroase direkt vor unserer Haustür?
Giegold: Das ist sie ja schon. Insofern ist das gar keine besonders neue Situation. Mit der City of London hängen ja sehr eng die größten Steueroasen der Welt, sowohl in der Karibik als auch auf den Kanalinseln zusammen. Ich lese das eher als eine Reaktion nach innen. Die wirtschaftlichen Schäden durch den Brexit beginnen bereits. Die Banken suchen sich auf dem Kontinent neue Möglichkeiten. Und jetzt gibt es ein politisches Signal, wir kümmern uns um euch von der britischen Regierung und Politikern. Das verweist allerdings gerade in Europa nur auf eins: Wir brauchen einen eigenen Mindeststeuersatz. Den können wir ohne Großbritannien unter Umständen sogar leichter durchsetzen, denn die Briten haben über Jahre immer wieder blockiert, wenn es um gemeinsame Steuerpolitik in Europa ging. Und das muss selbstverständlich auch gelten, wenn Gewinne, die in Europa gemacht werden, dann nach außen transferiert werden. Insofern bedeutet das nichts anderes als: Wir müssen uns schon lange wehren gegen die Steueroasen, die häufig ohnehin schon heute unter britischer Kontrolle sind.
Dobovisek: Signal nach innen. Hat das auch Auswirkungen nach außen, die Sie beobachten können? Sind es nicht Steueroasen, aber vielleicht Steuerdumping?
Giegold: Wie gesagt: Das Steuerdumping ist ja bereits am Laufen. Denken Sie, was direkt vor unserer Haustür passiert. In Jersey gibt es null Prozent Körperschaftssteuersatz. Das diskutiert derzeit Gott sei Dank auf der Insel niemand. Aber wir haben das bereits und der Skandal besteht darin, dass wir seit Jahrzehnten nicht weiterkommen, effektiv in einem gemeinsamen Markt auch eine gemeinsame Steuerpolitik zu machen. Das wäre übrigens auch die Basis dafür, um die dringend notwendigen Gemeinschaftsinvestitionen in Europa zu finanzieren. Wir brauchen nicht neue Schulden, wir brauchen genau eine gemeinsame Steuerpolitik.
"Der Wettbewerb in der Steuerpolitik führt dazu, dass nur die Stärksten profitieren"
Dobovisek: Herr Giegold, was wäre schlecht daran, einen Wettbewerb in der Steuerpolitik zu haben, um gerade schwächere Länder zu stützen?
Giegold: Weil der Wettbewerb in der Steuerpolitik dazu führt, dass nur die Stärksten profitieren. Denn das Unternehmen vor Ort kann davon nicht profitieren, sondern es sind die Großunternehmen, die dafür sorgen können, dass sie niedrige Steuern an einem Ort zahlen und gleichzeitig Geschäfte überall machen. Das müssen wir dringend beenden, damit wir wieder fairen Wettbewerb und Steuergerechtigkeit bekommen.
Dobovisek: Es sind aber auch Länder wie zum Beispiel Irland oder auch Zypern, die von niedrigen Steuersätzen profitieren und die eigene Wirtschaft angekurbelt haben.
Giegold: Sie haben Recht, dass nicht ein Steuersatz überall gleich sein sollte. Das gilt auch in der EU. Deshalb rede ich auch immer nur von einem Mindeststeuersatz, nie von einem Einheitssteuersatz. Denn wenn Sie im Zentrum des Kontinents sind, können Sie sicherlich einen höheren Steuersatz durchsetzen als am Rande. Aber dass es gegen null geht bei einigen der stärksten Unternehmen wie Apple, wie Google, wie Amazon, das macht unsere mittelständische Wirtschaft kaputt, und wir müssen die Chance jetzt ergreifen, diesen Missstand endlich abzustellen.
"Viele Großunternehmen nutzen bereits Niedrigsteuer-Möglichkeiten"
Dobovisek: Bei Großbritannien reden wir gerade über eine Absenkung von 20 Prozent auf 15 Prozent. Das klingt jetzt für mich dann aber nicht besonders schädlich für andere?
Giegold: Na ja. Das ist natürlich trotzdem ein großer Schritt. Und wie gesagt ist das vor allem ein politischer Marketing-Gag. Denn wie gesagt: Viele der Großunternehmen in Großbritannien nutzen bereits die Niedrigsteuer-Möglichkeiten der eigenen Steueroasen, was wiederum in Großbritannien zu auch Untersuchungsausschüssen im Parlament geführt hat, weil auch dort zahlen die Unternehmen ja häufig, gerade die großen, nicht das, was sie sollten. Ich glaube, das Entscheidende ist zu verstehen: Großbritannien ist bereits die größte Steueroase weltweit, und jetzt wird das mit politischen Fanfaren verkauft, um von den Schäden des Brexit abzulenken. Die sind aber so sicher wie das Amen in der Kirche. Das wird sehr, sehr schwierig für Großbritannien werden in den nächsten Jahren.
Dobovisek: Sie haben es schon erwähnt, Herr Giegold. Großbritannien hat ziemlich oft in Finanz- und Steuerfragen blockiert. Damit kommen wir nahtlos zur Besteuerung von Geschäften mit Aktien. Finanzmarktsteuer heißt das Zauberwort. Zehn EU-Länder wollen mitmachen und verhandeln darüber, sagen wir mal, eher schleppend. Großbritannien hatte sich immer geweigert. Ist der Brexit auch eine neue Chance für diese Finanzmarktsteuer?
Giegold: Zumindest sorgt es dafür, dass es weniger wahrscheinlich ist, dass sie wieder beklagt wird vor dem Europäischen Gerichtshof. Das ist dort natürlich immer die Gefahr gewesen, denn diese Steuer kann ja nur erhoben werden, wenn man dafür sorgt, dass man ihr nicht einfach ausweichen kann. Wenn man einfach die Finanzplätze in Deutschland, in Frankreich, in Italien besteuert und dann kann man die gleichen Geschäfte als jeweiliges Institut in London oder New York machen, dann hat man natürlich am Ende gar nichts erreicht. Deshalb muss ich dafür sorgen, dass diese Steuer auch gilt, wenn man entsprechende Geschäfte einfach ins Ausland verlagert, und dagegen hätte sich Großbritannien sicherlich immer verwahrt. Das wird jetzt sicherlich einfacher, denn die Briten nehmen sich damit auch Klagemöglichkeiten.
"Versprechungen, die unhaltbar sind"
Dobovisek: Blicken wir auf Boris Johnson und Nigel Farage, Ihren Abgeordnetenkollegen aus dem Europäischen Parlament. Beide haben sich inzwischen zurückgezogen. Welchen Reim machen Sie sich darauf?
Giegold: Ja das zeigt natürlich, dass bei dem ganzen Wahlkampf Versprechungen gemacht worden sind, die unhaltbar sind, und deshalb es auch unangenehm wird, jetzt nach den Abstimmungen die Verhandlungen zu führen. Leider geht es im Moment so weiter. Unter den Wettbewerbern für die Chefs der Tory-Partei gibt es einen regelrechten Wettbewerb unhaltbarer Versprechungen. Unser Ziel als Europäer muss doch sein, den Kontinent jetzt zusammenzuhalten und sozial und demokratisch zu reformieren.
Dobovisek: Mitleid oder hart verhandeln?
Giegold: Nein! Man muss dafür fair verhandeln. Aber faires Verhandeln bedeutet, dass man sich nicht die schönsten Dinge herauspicken kann. Die vier Grundfreiheiten gibt es nur gemeinsam und wer jetzt in Großbritannien wie schon beim Brexit-Referendum verspricht, man könne Grenzen für die Personen zumachen, aber die Grenzen für die Waren und das Kapital bleiben offen, der verspricht etwas Unhaltbares, und das dürfen wir nicht zulassen, weil das ein fatales Signal für den Zusammenhalt Europas wäre. Daher ist das, was Farage und Johnson gemacht haben, in gewisser Weise konsequent, weil sie wissen, dass Sie ihre Versprechungen nicht halten können.
Dobovisek: … sagt Sven Giegold, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament. Vielen Dank!
Giegold: Gerne!
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