Anja Buchmann: Wer mit den Namen Steven Wilson als Solomusiker nicht so viel anfangen kann, kennt vielleicht seine Band Porcupine Tree oder das zwischenzeitliche Projekt Blackfield mit dem israelischen Musiker Aviv Geffen. Jedenfalls der Brite Steven Wilson, 48 ist er jetzt, ist Gitarrist, Komponist, Sänger, Produzent, Label-Inhaber und einer der Meister im Progresive Rock – und mein Kollege, Musikredakteur Tim Schauen, hat ihn ausgiebig gehört, mehfach live erlebt und auch interviewt. Herr Schauen, vor knapp einem Jahr hat Steven Wilson sein Album "Hand. Cannot. Erase" veröffentlicht, jetzt ist vergangenen Freitag sein nächstes Album "4 1/2" erschienen. Ist der Mann so richtig arbeitswütig?
Tim Schauen: Das kann man genau, glaube ich, genau so sagen, Sie haben es gerade angedeutet, vor einem Jahr erschien das Album, jetzt das Neue, und er ist mit der Produktion "Hand. Cannot. Erase" auch seit gut einem Jahr auf Tour und jetzt gerade zum zweiten Mal für eine ganze Reihe von Konzerten in Deutschland gewesen. Arbeitstier, absolut. Dass er jetzt ein Album vorlegt, so hat er mir im Interview erzählt, hat einen ganz bestimmten Grund, er sieht sich da in einer bestimmten Tradition.
Neues Album "4 1/2": Postkriptum zum Vorgänger
Steven Wilson: "Als ich aufwuchs, war es für Künstler, üblich jedes Jahr ein Album herauszubringen und ich glaube, das hat sich Ende der 80er, Anfang der 90er geändert, und der Abstand zwischen zwei Alben von den sogenannten "Major-Artists" ist immer größer geworden - eigentlich sehr schade. Gerade deshalb will ich an meinem ursprünglichen Traum festhalten und mindestens einmal im Jahr etwas veröffentlichen. Also habe ich jetzt die neue Platte "4 ½" herausgebracht, sie heißt "4 1/2" - und ist nicht wirklich ein vollwertiges Nachfolgealbum von "Hand.Cannot.Erase". Ich habe es ein Interim genannt, ein Zwischenwerk. Die Stücke auf dem Album habe ich geschrieben während ich an "Hand. Cannot.Erase" und auch dem Album davor gearbeitet habe, aber sie wollten einfach nicht in das jeweilige Konzept passen, ich hatte sie sozusagen übrig. "4 1/2" besteht also aus diesen älteren Stücken, die ich aber jetzt erst aufgenommen habe. Wenn man "Hand. Cannot.Erase" mochte, dann kann man jetzt das Postskriptum lesen. Stücke hören, die vom selben musikalischen Ort stammen."
Buchmann: Steven Wilson spielt in großen Hallen, meistens ist es ausverkauft, eine richtig aufwändie Produktion, Licht und Sound vom Feinsten, aber das ganze ist bestuhlt. Herr Schauen, Sie haben einige Konzerte gesehen, was passiert, wenn man ein Konzert auf Stühlen sitzend hören muss. Oder darf?
Schauen: Die überraschende Erfahrung ist, dass man auch im Sitzen headbangen kann.
Buchmann: Ach wirklich?
Schauen: Ja, weil man muss ja. Es gibt ja diese ganze alte Tradition, dass Leute von vorneherein auschließen, ein Rockkonzert – zu diesem Genre gehört er ja auch irgendwie – ein Rockkonzert im Sitzen hören zu müssen. Aber ich finde, das hat Vor- und Nachteile. Es ist nicht nur die Musik, die in einem Steven Wilson-Konzert zu genießen ist, sondern auch viele andere Elemente. Und es geht auch eine ganz lange Strecke: Alle Konzerte der Tournee vollziehen sich in zweimal anderthalb Stunden, das ist vielleicht auch ganz gut, da mal sitzen zu können, das tut der Rezeption selbst aber keinen Abbruch. Steven Wilson selbst sagte im Interview – ich habe ihn gefragt, wer ist denn auf diese Idee gekommen – es war sein Manager gewesen, er selbst sei unsicher, ob er es gut oder schlecht finde: von beidem ein bisschen.
Buchmann: Also wir haben gelernt, man kann auch im Sitzen headbangen, das Interessante an Steven Wilsons Musik ist ja, dass sie zum einen durchaus sperrig ist, aber trotz allem kommerziell erfolgreich. Wie passt das zusammen?
"Treues Publikum erarbeitet"
Schauen: Er ist einfach gut, er hat ein ganz treues Publikum erabeitet, jetzt schon als Solokünstler, aber das fusst auf seinen früheren Arbeiten, Porcupine Tree und Blackfield, also er hat ein treues Publikum, und die meisten Shows waren ausverkauft in großen Hallen, und das Album "Hand. Cannot. Erase" war auf Platz Drei der deutschen Albencharts. Er selbst sagt aber: Kommerzieller Erfolg sei nicht die Kategorie, in der er denke.
Wilson: "'Hand. Cannot. Erase' war kein großer kommerzieller Erfolg, denn all das Geld, dass ich damit verdient habe, stecke ich in die Tournee. Man sieht die Videoinstallationen, diese Weltklassemusiker auf der Bühne, die Weltklassencrew. Ich muss gar kein Geld verdienen, Geld war für mich noch nie Motivation - ich war sehr froh darüber, alles in die größtmögliche Magie für die Show stecken zu können. Und je erfolgreicher die Show ist, umso mehr kann ich beim nächsten Mal umsetzen. Es ist toll, dass so viele Leute zu den Shows kommen - und es wirkt sich natürlich doppelt aus: je mehr Spektakel ich biete, um so mehr Menschen kommen und sagen ihren Freunden: he, das nächste Mal solltest Du Dir diese Show angucken!"
Buchmann: Also Geld sei für ihn noch nie eine richtig große Motivation, sagt Steven Wilson, trotzdem macht er diese großen Shows, die ja auch ordentlich Geld kosten. Funktioniert das aus Ihrer Sicht?
Weltklassemusiker
Schauen: Die Shows funktionieren und sie werden hervorragend angenommen. Also der Aufwand, den Steven Wilson betreibt, ist in der Tat sehr groß, man sieht Weltklasse-Musiker auf der Bühne – aber hinter den aufspielenden Musikern sind bei jedem Konzert, das ich bisher gesehen habe, ganz große Videoinstallationen zu sehen. Es gibt eine Hardcorefangruppe aus Mexico, die zu fast jedem Konzert kommen, ich weiß nicht, was die Leute beruflich machen und was die für einen finanziellen Hintergrund haben. Dieser Ruf, den Wilson sich erabeitet hat, dass er ein Musiker ist, den man sich gut zuhause anhören kann: es trifft absolut zu, dass er auch live ein großes Ereignis darstellt. Und die großen Konzertreihen in Deutschland, die geben ihm natürlich recht.
Buchmann: Was bekommt man denn geliefert, bei einem Steven Wilson-Konzert, also musikalisch jetzt in erster Linie jetzt gefragt? Was macht seine Meinung Ihrer Meinung nach besonders?
Schauen: Ich glaube, es ist der Wechsel von kompliziert gespielten, rhythmisch vertrackten Passagen. Ich hörte, 7/8-Takt, 6/8-Takt, 4/4-Takt, ich hörte sehr sensible Momente, die sehr sensibel gespielt sind, aber dann gibt es auch Passagen, die richtig abgehen, wo man auch im Sitzen headbangen muss. Ich glaube, es ist diese Mischung von extrem, Sensibilität und Härte einerseits und gleichtzeitig das Phänomen, dass das von virtuosen Weltstars gespielt wird, das ist richtig gut gemacht, das einzige, was mir aufgefallen ist, das mal jemand nicht so ganz in die Tonhöhe fand beim Singen, aber die Band ist tight, wie man so schön sagt...
Buchmann: ...unter anderem auch mit Pianist Adam Holzman, der auch schon mal mit Miles Davis gespielt hat unter anderen...
Schauen: ... unter anderem auch mit Adam Holzman. Nicholas Beggs, der bei Kajagoogoo früher spielte, der bedient in der Steven Wilson-Band Bass und Chapman Stick, das ist auch ein ganz besonderes Instrument, das direkt den Virtuosenverdacht nährt.
Buchmann: Wie eine Gitarre, nur ohne Korpus!
Schauen: Genau, und mit viel mehr Saiten und man muss alle Konzeptionen, die man über Elektrobassspiel wusste, über Bord werfen und auch die musikalische Textur vergessen, wenn man einen Chapman Stick sieht. Also virtuose Musiker. Wilson hat gesagt, er möchte gar nicht so gerne dem Progressive Rock zugeschrieben werden, er möchte sich nicht so gerne in eine Ecke drängen lassen, das ist natürlich die künstlerische Freiheit. Das Labeln, das tun wir Journalisten und vielleicht auch die Musikhändler, dass wir wissen, was können wir da drauf schreiben: Pop? Rock? Klassik? Oder Zappa? Und Steven Wilson wehrt sich dagegen. Ich glaube aber, unter anderem, wenn man sich das Produkt anhört, von vorneherein hat das nichts mit Strophe, Bridge, Refrain, Mittelteil und Vierviertel zu tun, sondern das ist und bleibt, sorry Herr Wilson, progressive Musik und das macht sie so besonders, ich denke, er ist einer der Künstler unserer Zeit in diesem Genre.
Buchmann: Sehr melancholische Musik ist es auf jeden Fall, die Musik von Steven Wilson. Muss man ein bisschen einen Hang zur Schwermut haben,, um ihn zu mögen?
Schauen: Ja, ich glaube schon, man muss dazu bereit sein, sich auf diese Reise mitnehmen zu lassen, aber er bringt uns ja auch wieder zurück: in Heavy-Passagen, wo die Gitarre in drop D gestimmt ist, damit das richtig drückt und schiebt...
Buchmann: ... drop D heißt, die tiefe E-Saite ist noch einen Ton runter auf D gestimmt...
Melancholie und Kleinteiligkeit
Schauen: Genau, klassische Stimmung, bis auf die dicke E-Saite, die ist einen Ton herunter gestimmt, dann sind halt die Riffs, die man auf den dicken Saiten spielt, insgesamt ein bisschen tiefer und es drückt mehr. Das wird im Metal viel gemacht, wobei da ja inzwischen Gitarren in C gestimmt werden. Also man muss sensibel sein, man muss einen Hang zur Melancholie haben, um diese Kleinteiligkeit auch zu verstehen. Diese feine Textur aus fragilen Elementen. Diesen Synthesizer-Sounds, Adam Holzman spielt auch Moog, den Chapman Stick hatte ich erwähnt. Dann hat auf den Studioaufnahmen auch oft Guthrie Govan Gitarre gespielt, das ist auch ein Meister, Dave Kilminster war im Studio, der spielt auch sehr elegische Gitarrensoli – all das zusammen kann diese Höhen und Tiefen der Musik entstehen lassen.
Wilson: "Es kommen immer wieder Leute, die einfach Gitarristen dabei zugucken wollen, wie sie schnell spielen. Aber seit Guthrie Govan nicht mehr dabei ist, sind diese Zuhörer in der Minderheit. Generell reagieren die Leute aber sehr stark auf die Songs an sich und meine musikalische Persönlichkeit. Und wenn ich während eines Konzerts ins Publikum blicke, sehe ich, dass Leute lachen und kurz darauf weinen, wenn sie zum Beispiel den Song "Routine" oder "The Raven That Refused To Sing" hören, dann sehe ich, wie tief meine Musik beim Zuhörer dringen kann. Das ist ja das Größtmögliche, was man mit Musik erreichen kann: aus Melancholie und Traurigkeit Glück entstehen zu lassen."
Buchmann: Glücksgefühle, die aus Melancholie und Traurigkeit entstehen, Ja, kann ich nachvollziehen, aber gerade die erwähnten Songs "Routine" oder "The Raven That Refused To Sing", übrigens auch im 5/4- beziehungsweise 7/4-Rhytmus, sind aber auch richtig düstere Stücke.
Der Tod persönlich streckt die Hand aus
Schauen: Absolut düster, und was Wilson hier galant unterschlagen hat ist, dass während der musikalischen Performance auch Videos einspielt, gerade beim "Raven" oder "Routine", das sind düstere Werke, die magisch dort hineinziehen. "Routine" erzählt in Cartoon-Optik die Geschichte einer Hausfrau, die alleine liebevoll den Tisch deckt, Radieschen schneidet, aber es kommt niemand, dann räumt sie alles wieder weg, sie schmeißt die Sachen in die Mülltonne, wäscht ab und man sieht diese tränenunterströmten Augen – oder beim "Raven": Das ist noch viel düsterer, das ist so in Scherenschnitt-Optik gemacht, diese Videoprojektion: Man sieht einen Mann in einem Häuschen, wo der Geist eines toten Mädchens herumflattert, der Tod persönlich streckt die Hand nach diesem Mädchen aus und tötet sie - vor den Augen des vielleicht Vaters - noch einmal. Dieser Mann ist furchtbar einsam und dann sucht er sich einen Raben, der ihm Gesellschaft leisten soll, aber der Rabe will einfach nicht sprechen, und das ganze dann zu dieser tragischen Musik: das ist schwer düster und da muss man schon gucken, dass man einigermaßen stabil ist, um dort wieder hinauszufinden.
Buchmann: Wie kann man daraus dann wieder die Freude, die kathartische Wirkung herauskitzeln?
Schauen: Durch Gitarrensoli. Denn es wird immer in der Musik von Steven Wilson irgendetwas geben, das wieder versöhnt, das wieder nach vorne bringt, das in musikalische Höhen treibt. Spielerisch oder auch durch die Melodien. Das sagt er auch selbst: Dass er die Leute mitnimmt, aber um sie wieder aufzufangen und nicht alleine zu lassen.
Wilson: "Und ich habe mich oft gefragt, was und wie es geschieht, wenn aus Melancholie und Traurigkeit entstehen. Und ich glaube, das hat damit zu tun: Wenn Du etwas Trauriges hört, versteht man, dass man nicht alleine mit seinen Gefühlen ist, Traurigkeit, Einsamkeit, Ärger, Verlust, Reue undsoweiter... und das ist eine schöne Fähigkeit der Menschen, solche Dinge Teilen zu können und zu verstehen: wir sind alle verbunden!"