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Stewart O'Nan: "Stadt der Geheimnisse"
Der große Coup der Untergrundkämpfer

Stewart O'Nans Roman "Stadt der Geheimnisse" zeigt die Wirkmacht fundamentaler seelischer Verletzungen: Der lettische Jude Jossi Brand die NS-Lager überlebt und kämpft im Untergrund Palästinas für einen jüdischen Staat. Zugleich sucht er einen persönlichen Weg in ein neues Leben.

Von Paul Stoop |
    Cover von Stewart O'Nans Roman "Stadt der Geheimnisse". Auf dem Cover ist ein SW-Foto zu sehen, dass einen Mann zeigt der durch eine dunkle Gasse mit alten Steinhäusern geht. Im Hintergrund des Buchcovers sind Häuser von Jerusalem zu sehen.
    Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Lage im britischen Mandatsgebiet Palästina angespannt (rowohlt / Rob Bye / Unsplash)
    Die Geschichte, die Stewart O’Nan auf gerade mal 200 Seiten erzählt, kommt als Dokumentar-Thriller über die Ereignisse 1945/46 daher. In Palästina kämpfen die beiden großen Strömungen der Nationalbewegung gegen die britische Mandatsherrschaft und für einen jüdischen Staat: die von Menachem Begin angeführte Irgun und die Hagana.
    Einer der Kämpfer kommt aus Lettland, ausgestattet mit gefälschten Papieren und neuem Namen, Jossi Brand. Als einziger seiner Familie hat er die Lager überlebt. Jossi wird Fahrer für den Untergrund, seine Tarnung ist ein Taxifahrer-Job. Immer ist er auf der Hut, überall wittert er Gefahren:
    "Da er schon mal verhaftet worden war – als er in Riga an seinem Tisch in seinem Lieblingsrestaurant gesessen hatte –, wusste er, dass man als Jude nirgends sicher war."
    Zwischen Sabotage und Geldraub
    Jossi wird nur zögerlich in die Ausführung von Anschlägen einbezogen. Die Zellen bestehen aus nur wenigen Kämpfern. Jeder hat nur karge Informationen. Angegriffen werden Eisenbahnlinien und Elektrizitätswerke. Mal geht es den Angreifern um Sabotage, mal um Geldraub.
    Der große Coup der Untergrundkämpfer ist der Bombenanschlag auf das King David Hotel im Juli 1946, in dem ein Teil der britischen Mandatsverwaltung arbeitete. Er forderte dutzende Tote. O’Nan fiktionalisiert das Geschehen, das der nicht direkt beteiligte Jossi beobachtet, hält sich dabei aber weitgehend an die verbürgten historischen Tatsachen.
    O’Nan weckt mit knapper, kristalliner Sprache ein Gespür für die nervöse Atmosphäre im Jerusalem der 1940er Jahre. Die Altstadt, der arabische Markt, die schwer bewachten Stadttore, die Ausfallstraßen bilden eine reizvolle Kulisse für Jossis rastlose Taxifahrten mit Touristen aus aller Welt. Immer kann der schwelende Konflikt ausbrechen:
    "Um halb sechs verkündeten die Sirenen eine Ausgangssperre. Um sechs konnte jeder, der noch auf der Straße war, verhaftet werden, doch in Wirklichkeit nahm die Polizei nur Juden fest. Aus Protest blockierten Studenten den Zionsplatz, zerrissen ihre Papiere, und der Kamsin wirbelte Konfetti auf. Die Briten fuhren mit Bussen vor, und als die voll waren, kamen Rungenlastwagen mit Drahtkäfigen. Es war eine Aufführung. Sie konnten nur soundso viele Leute festnehmen. In der nächsten Woche würden sie sie freilassen und es wieder tun."
    Das Thriller-Genre dient als Tarnung
    Dem Gewusel der spannungsgeladenen Stadt entspricht die verworrenere Situation der Untergrundkämpfer. Sie müssen sich verstellen und neigen gerade im Umgang miteinander zu paranoidem Verhalten.
    Stewart O’Nans Wahl des Genres erweist sich als geschickte Tarnung. Die Thriller-Elemente schaffen die Spannung, mit detailliert beschriebenen Schauplätzen, geheimnisvollen Andeutungen, Dialogen und Action-Elementen. Erst allmählich erschließt sich dabei das eigentliche Thema des Romans: die Identitätsfragen der handelnden Kämpfer.
    Wie hältst du es mit der Gewalt?
    Für Jossi ist es die Frage nach dem Kern seines Mensch-Seins. Immer wieder kommen ihm Erinnerungen an seine unbeschwerte Kindheit. Danach sehnt er sich, er würde gern an die Zeit vor der brutalen Verfolgung anknüpfen:
    "Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können."
    Jossi ringt mit der Gewaltfrage. Er versucht sich selbst zu überzeugen, wenn ihm Zweifel kommen. Besonders eine Erinnerung an die Lager sucht ihn immer wieder heim. Er hat hilflos mit angesehen, wie ein Nazischerge seinen Freund Koppelmann totschlug.
    "Wie viele Leute hatte er getötet, weil er nicht gekämpft hatte? Wie vielen in seiner Baracke hatte er geholfen zu überleben? Nicht Koppelman, rief er sich ins Gedächtnis. Das war die Vergangenheit. Obwohl er geschworen hatte, die Toten nie zu vergessen, war das hier jetzt sein Krieg."
    Ein autonom denkender Mensch
    Der zweifelnde Kämpfer sucht Geborgenheit bei Eva. Die frühere Schauspielerin ist den Todeslagern in Litauen entkommen, physisch wie seelisch gezeichnet. Ihre Tarnung ist die Arbeit als Prosituierte. Sie soll im Auftrag der jüdischen Kampf-Zelle britischen Offizieren Geheimnisse entlocken.
    Jossi liebt Eva, sie aber wehrt jede Bindung ab. Konsequent zeigt sie als Mitglied des innersten Widerstands-Zirkels zeigt sie Härte. Als Jossi sieht, dass der geschätzte Mitverschwörer Lipschitz auf bestialische Art von Kampfgenossen hingerichtet worden ist, stellt er Eva zur Rede. Bedingungslos verteidigt sie die Tötung eines Menschen, der vielleicht Verrat begangen hat, mit dem Hinweis auf Informationen aus der britischen Geheimpolizei CID:
    "Lipschitz sei zusammengebrochen und habe Ascher verraten, womit er sie alle gefährdet habe.

    Ob sie das mit Sicherheit wisse?
    Sie wüssten es, und sie glaube ihnen. Sie hätten Freunde beim CID.
    ‚Was, wenn die sich irren?’, fragte Brand.
    Wenn die sich irrten, werde ihnen vergeben.
    Dann sei Mord also keine Sünde mehr?
    Nicht beim Kampf um Freiheit. Er sei unerträglich. Er wolle eine Revolution ohne Blutvergießen.
    Nein, er wolle eine Revolution, die gerecht sei."
    Mit solchen Dialogen lässt O’Nan uns direkt an der Situation teilhaben, schafft aber gleichzeitig durch die indirekte Rede wieder Distanz. Nur ein Satz wird durch die Verwendung der direkten Rede hervorgehoben: "Was ist, wenn die sich irren?" Diese entscheidende Frage ist das Credo eines autonom denkenden Menschen.
    Der Engel des Vergessens
    O’Nan hat seinem Roman einen Satz von Menachem Begin als Motto vorangestellt: "Der Engel des Vergessens ist ein gesegnetes Wesen." Jossi Brand entscheidet sich nach dem Anschlag auf das King David Hotel für einen radikalen Schnitt, offenbar im festen Vertrauen auf das segensreiche Wirken dieses Engels:
    "In der Wüste entledigte er sich seiner Waffe, warf die Patronen wie Steine in den Wind. Nicht länger Soldat oder Häftling, war er jetzt frei und verließ das Land auf einem Frachter, der nach Marseille fuhr. Er hieß Brand und konnte alles reparieren."
    Diese letzten Sätze der präzis konstruierten und mitreißenden Geschichte werden den Leser aber wohl Anlass zu Zweifel geben. Die Dämonen, die Jossi Brand in Europa und Palästina heimgesucht haben, lassen sich wohl kaum durch eine weitere Flucht vertreiben. Der Überlebende mag alles Mögliche reparieren können, aber nicht das wirklich Entscheidende, nämlich die Traumata der Verfolgung und den Verlust einer Liebe, die er noch gar nicht hatte gewinnen können.
    Die Wirkmacht fundamentaler seelischer Verletzungen zu zeigen, ist die große Kunst dieses Romans. Stewart O’Nan hat aus der Geschichte einer Randfigur zweier historischer Dramen eine universelle Geschichte menschlicher Hoffnung und Verzweiflung gemacht.
    Stewart O’Nan: "Stadt der Geheimnisse"
    Rowohlt Verlag, Hamburg, 224 Seiten, 20 Euro