Tanaya Lieske: Stewart O'Nan, wann haben Sie denn den "Großen Gatsby" von F. Scott Fitzgerald zum ersten Mal gelesen?
Stewart O’Nan: Ich habe den "Großen Gatsby" sehr spät gelesen. Ich bin Ingenieur und habe keine literarische Ausbildung. Also, ich war schon 26, als ich den Gatsby gelesen habe. Das hat mich damals sehr beeindruckt, vor allem die komprimierte Sprache, die Metaphorik, und natürlich auch die Geschichte, die Scott Fitzgerald uns da erzählt. Es geht ja um einen Mord und um Erpressung, es ist eine sehr düstere Geschichte. All das war für mich damals sehr aufregend, und ich dachte, das passt auch heute noch.
"Wer ist drin und wer wird ausgeschlossen?"
Lieske: Mit seiner Figur Gatsby, der wirtschaftlich alles erreicht hat, der aber die große Liebe seines Lebens Daisy nicht gewinnen kann, ist dieser Roman das Sinnbild der Epoche des Jazz Age. Der Roman steht auch für den American Dream, in dem das Scheitern ja auch immer eine Möglichkeit ist. Zu seinen Lebzeiten war das gar nicht F. Scott Fitzgeralds erfolgreichster Roman, haben Sie einer Erklärung für die enorme Nachwirkung des "Großen Gatsby"?
O’Nan: Ich glaube, es hat schon damit zu tun, dass Fitzgerald sich einen großen Wurf vorgenommen hatte. Ich spreche von dem Bild der Klassengesellschaft, das er ausmalt. Wem gestattet man in Amerika den großen Erfolg, wer ist drin und wer wird ausgeschlossen? Das ist bis heute die wichtigste Frage in der amerikanischen Gesellschaft. Wir machen uns gerne vor, dass Amerika eine Gesellschaft ohne Klassen wäre. Das stimmt aber nicht. Und Gatsby wird immer ein Außenseiter sein, genau wie Scott Fitzgerald. Und das hat er auch sehr stark empfunden, er kam ja aus bescheidenen Verhältnissen. Er war ja das arme Kind in der Nachbarschaft und der Junge mit dem Stipendium in der Schule. Also, er wusste genau, wer dazu gehört und wer draußen bleibt.
"Er war dabei, sich selbst ins Leben zurück zu bringen"
Lieske: Sie haben in drei Jahrzehnten 17 Romane geschrieben, es sind literarisch sehr anspruchsvolle Werke, oft geht es um den Alltag, um Einsamkeit, und auch die Nähe des Künstlers zum Scheitern ist ein roter Faden in Ihrem Werk. Es scheint mir in diesem Zusammenhang schlüssig, dass Sie F. Scott Fitzgerald nach seinem großen Ruhm begegnen. Sie begleiten ihn in den letzten drei Jahren seines Lebens von 1937 bis 1940. Was hat Sie an dieser Phase interessiert?
O’Nan: Mich hat interessiert, wie er es schafft, durchzuhalten, weiterzumachen. Er hat ja alles verloren, seine Frau Zelda ist im Krankenhaus, seine Tochter Scottie im Internat. 1936 trinkt er sehr viel Alkohol, er schreibt nicht viel, und das, was er schreibt ist nicht sehr gut. Und dann gibt Hollywood ihm diese Chance, er kann Drehbücher schreiben, sein Glück versuchen. Er kann Geld verdienen, seine Schulden bezahlen, er kann vielleicht sogar Zeit finden und den neuen Roman schreiben, den er seinem Verleger Maxwell Perkins versprochen hat.
Und all das schafft er auch! Er schreibt seinen Roman, das ist "The last tycoon". Der Roman bleibt unvollendet, aber er ist großartig. Und das hat er gewusst. Er war dabei, sich selbst ins Leben zurück zu bringen. Er hat sich auch neu verliebt in die Kolumnistin Sheila Graham, und all das hat ihn beflügelt. Er hat seinen romantischen Blick auf die Welt zurück bekommen, und das hat ihm geholfen, diesen Roman zu schreiben. Obwohl er nicht fertig wurde, ist es wohl der beste Roman, der je zu Hollywood geschrieben wurde. Ich finde, man zollt Fitzgerald nicht genug Respekt für seine Leistung in diesen letzten Jahren. Er hat viel geschrieben und es war von guter Qualität.
Lieske: Sie beschreiben das Zimmer, in das man ihn bei Metro Goldwyn Meyer führt. Ein Tisch, Stuhl, ein Regal mit einem Roman von Joseph Conrad, eine Lampe, eine beeindruckende Schreibmaschine. Der Schriftsteller im Brotdienst ist eine amerikanische Erfindung, das ist so etwas wie die Arbeit am Band bei Henry Ford. Ist das für Sie Stewart O’Nan eine attraktive Vorstellung oder eher ein Albtraum? Wenn man Ihnen so ein Büro zeigen würde?
Zur gleichen Zeit war William Faulkner in Hollywood
O’Nan: Na, das muss schon attraktiv gewesen sein. Es war ja eine große Chance. Zur gleichen Zeit war ja William Faulkner in Hollywood, er hat geschrieben und hat das Geld dann genommen, um seine eigenen Romane zu schreiben. Das war so, damals. Nathaniel West hat das auch gemacht, und bei Metro Goldwyn Meyer auf dem gleichen Flur sitzen Dorothy Parker, Aldous Huxley, James M. Cain, und dann kommt der Neue, F. Scott Fitzgerald. Das war schon ein bisschen Fließband, aber man konnte gut verdienen. Es war ja die Zeit der Großen Depression, und Fitzgerald hätte seine Schulden nie loswerden können, außer in Hollywood. Und das hat er gemacht.
Lieske: Es arbeiten viele große Stars in Hollywood. Und dort stehen viele Kulissen, durch die F. Scott Fitzgerald geht. Und auch die Welt, die Sie beschreiben, hat etwas Kulissenhaftes, man spürt die Schattenseite und das Dunkle darunter. Was bedeutet Ihnen diese Seite Hollywoods?
O’Nan: Hollywood ist diese Fabrik für den großen Ruhm, und damit geht eine Enttäuschung einher, wenn man es nicht schafft. Es gibt diese Illusion, dass man eine ganz neue Person werden kann. Also, im ganzen Buch wird ständig über das Spielen gesprochen, und man weiß nie, sind die Leute jetzt ehrlich oder schauspielern sie gerade. Und das gilt für ganz Los Angeles, und vor allem für Hollywood. Alles wirkt künstlich. Die Häuser sind in einem Stil gebaut, der nichts mit der Gegend zu tun hat. Es ist Weihnachten und draußen sind 35 Grad. Alles ist überdreht und ein bisschen off. Besonders für Scott, der ja aus dem Mittleren Westen kommt. Er schaut dem Treiben zu, und er denkt, das ist alles eine Farce.
Lieske: Sie haben von Scott Fitzgeralds Durchhaltevermögen gesprochen, wie er sich im Leben noch einmal beweisen will. Er und Zelda Fitzgerald sind in ihren Dreißigern, ihre Glamourehe ist Vergangenheit. Zelda hat mehrere Nervenzusammenbrüche erlitten, ist in einer psychiatrischen Anstalt: Wird drin bleiben. Scott ist ein Alkoholiker, der eigentlich trocken bleiben will. Es ist viel die Rede von Hoffnung und vom Weitermachen. Es gibt da diesen Satz, den er immer sagt: She would be sane. He would be sober. Sie würde gesund werden und er nüchtern. Was treibt ihren Protagonisten an, was verleiht ihm diese Kraft zum Weitermachen?
O’Nan: Ja, das ist die große Frage. Wie schafft er das? Alles ist schief gelaufen, und ihm gelingt es trotzdem, immer weiter zu machen. Ich glaube, das ist etwas sehr Menschliches in uns allen. Beckett hat diesen Satz geschrieben, ’Ich kann nicht weiter machen, also mache ich weiter’. Man ergibt sich dem Weitermachen, manchmal sogar ohne Hoffnung. Fitzgerald hat den Zustand der Hoffnungslosigkeit akzeptiert, vor allem in Bezug auf Zelda. Die Frage ist, wie macht man das, einen solchen Verlust zu erleiden und weiter zu machen - aber genau das tun wir.
"Er hat die Persönlichkeit von Zelda nicht verstanden"
Lieske: Ihre Ehe war ja sehr glamourös. In späteren Jahren dann wurde einiges an Unrat an die Oberfläche gespült. Es ist viel geschrieben worden über die beiden, und es verhält sich ein bisschen wie mit Ted Hughes und Sylvia Plath: Alle haben eine Meinung dazu. Die Bewertung der Ereignisse läuft dabei typischerweise entlang der Gender-Linien, die Frauen stellen sich oft auf Zeldas Seite, die Männer stehen mehr neben Scott Fitzgerald. Ich finde, dass Sie sehr diskret mit all dem umgehen.
Gab es bei Ihnen ein Bemühen darum, diesen Zustand der Diskretion wieder herzustellen oder vielleicht sogar F. Scott Fitzgerald zu rehabilitieren?
O’Nan: Nein, eigentlich nicht. Ich bleibe ja strikt bei der Perspektive von Scott Fitzgerald, und er sieht die Dinge, wie er sie eben sieht. Ich schreibe ja auch über die Jahre zwischen 1937und 1940, und der Schaden, den all die verschiedenen Therapien bei Zelda angerichtet haben, ist schon passiert. Sie ist eine ganz andere Frau geworden als sie es zum Beispiel 1932 war. Damals haben die beiden ja über die Deutungshoheit ihres Lebens gestritten.
Heute würde man glaube ich sagen, dass Zelda Fitzgerald an einer bipolaren Störung litt. Zelda hatte diese manischen Phasen, sie ist dann komplett ausgeflippt. Das hatte Scott ja anfangs auch gut gefallen, er fand sie attraktiv, und er hatte ja selbst auch diesen merkwürdigen Sinn für Humor. Ich glaube, er hat die Persönlichkeit von Zelda einfach nicht verstanden. Zelda bekam dann Insulin und Elektroschocks. Sie hat auch physischen Schaden genommen, und davon hat sie sich nie wirklich erholt. Aber in der Phase ihres Lebens, über die ich schreibe, sind sie einander wieder sehr zugetan. Sie sind nicht mehr dieses romantische Paar. Aber es gibt auf jeden Fall eine große Zärtlichkeit zwischen den beiden. Das kann man in ihren Briefen nachlesen.
Lieske: Briefe, die Ihrem Roman auch zugrunde liegen. Es ist klar, dass Sie die Briefe gelesen haben, dass Sie Tagebücher studiert haben. Sie gehen auch mit Ihrer Recherche sehr diskret um, es gibt keinen Anhang und kein Glossar zu Ihrem Roman. Warum verschwindet die Recherche in Ihrem Schreiben?
O’Nan: Es ist eben ein Roman. Und die Vereinbarung dahinter ist: Alles ist wahr. Alles ist passiert. Nein, es ist nicht passiert, es passiert gerade jetzt, vor unseren Augen. Nicht im historischen Sinn, wir sehen Krieg und Frieden ja auch nicht als historischen Roman. Wir sehen ein Drama, das genau jetzt zwischen diesen Menschen passiert. Also, ich wollte, dass die Leser vergessen, dass all diese Recherche stattgefunden hat. Sie sollen bei den Figuren bleiben und dabei, wie die miteinander umgehen.
"Wie kriegt er sein Leben wieder in den Griff?"
Lieske: Ja, es ist ein Roman. Aber Sie spielen auch mit dem Genre der Biografie. Welche künstlerischen Entscheidungen mussten Sie unterwegs treffen?
O’Nan: Die Frage war, wie viel von seinem Leben nehme ich hinein? Muss ich jeden Tag ganz ausführlich erzählen? Wird das so was wie ein Karl Ove Knausgard oder wie eine Anais Nin? Nein, es ist ein Drama, das sich darauf konzentriert, wie kriegt er sein Leben wieder in den Griff? Das Behältnis dafür ist seine Zeit in Hollywood. Natürlich hat das ganze Leben einen Platz in seiner Erinnerung, aber ich lege da keinen Wert auf Vollständigkeit.
Lieske: Wie nah bleiben Sie bei der Wahrheit?
O’Nan: Ich bin habe sehr akkurat gearbeitet, auf jeden Fall. Ich bin wahrhaftiger als seine Biografen. Scott Fitzgerald selbst hat gesagt, es stecken so viele Personen in einem Autor, dass es unmöglich ist, eine gute Biografie von einem Autor zu schreiben, wenn er etwas taugt. Und er war ein sehr guter Autor, er hatte sehr viele Persönlichkeiten in sich.
"Er würde sich mehr Metaphern wünschen"
Lieske: Einmal geht er aus dem Studio und er sieht ein paar Tänzerinnen in ihren kurzen Röcken und mit ihren Kokosnuss-BHs. Er denkt: Gibt es etwas Herzzerreißenderes als Starlets – was meint er damit?
O’Nan: Gibt es etwas Herzzerreißenderes als Menschen, die den Ruhm wollen, eine Daseinsberechtigung, eine Menge, die sie anfeuert?
Natürlich spricht er von sich selbst und von Zelda, und das weiß er auch. Man darf nicht vergessen, dass er vom Theater kommt. Die ersten Texte, die er geschrieben hat waren kleine Stücke, seine Freunde haben sie aufgeführt. Und auch in Princeton war er in der Theater AG, deshalb hat er ja such den Abschluss nicht geschafft, weil er ständig Stücke geschrieben hat. Ja, es war für ihn auch irgendwie schlüssig, dass er nun in einem Filmstudio gelandet war. Broadway und der Film hatten ihn immer fasziniert, und jetzt kann er sich beweisen.
Lieske: Wenn Scott Fitzgerald Ihren Roman lesen würde, was würde er sagen?
O’Nan: Er würde wahrscheinlich sagen: Das ist jetzt zu lang! Er würde sich mehr Metaphern wünschen, denn seine Prosa war ja viel farbenreicher als meine. Und wahrscheinlich würde es ihm gar nicht so sehr gefallen, dass ich ihn als einen Mann darstelle, der einfach arbeitet, und arbeitet und arbeitet. Er würde sich ein größeres Geheimnis um seine Person wünschen, einen Hauch von Genie eben. Stimmt ja auch, aber Genie ist eben auch Arbeit, meine ich.
Lieske: Stewart O’Nan, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Stewart O’Nan: "Westlich des Sunset". Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, 415 Seiten, 19,95 Euro.