Seit Längerem schon und nicht erst im Zuge der aktuellen Doppelausstellung unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums hat Manfred Kittel ein Spiel mit Halbwahrheiten getrieben. Wer es genauer wissen möchte, schaue in jene Schrift, die als wissenschaftliche Grundlage seiner Berufung zum Stiftungsdirektor diente. "Vertreibung der Vertriebenen?" lautet der Titel. Kittel setzt hinter den Titel ein rhetorisches Fragezeichen. Er moniert, dass der Einfluss der Vertriebenenpolitiker auf die Medien seit den 60er-Jahren zurückging, die Mittel für Landsmannschaften und BdV nicht mehr so reichlich flossen wie zuvor, dass Deutschlands Flüchtlinge und Vertriebene sich in großer Zahl vom Revisionismus der Verbandsfunktionäre abwandten und für Willy Brandts Ostpolitik erwärmten.
Dennoch: Auf keiner der mit Fußnoten und Spitzfindigkeiten gespickten 200 Seiten kann Kittel belegen, dass die Erinnerung an die lange Geschichte der Deutschen im östlichen Europa samt ihrem tragischen Ende je aus dem öffentlichen Leben der Bundesrepublik verschwand. Dieses Thema wurde in der alten Bundesrepublik und später im vereinten Deutschland jederzeit erforscht, dokumentiert und öffentlich zelebriert. Ob im Herder-Institut, im Nordostdeutschen Kulturwerk, in Heimatbibliotheken, Museen oder in den nach ostdeutschen Städten benannte Autobahnraststätten: In keinem anderen europäischen Land wurde so intensiv an Flucht und Vertreibung erinnert wie in der Bundesrepublik Deutschland.
Heimatverlust als Grundmotiv
Für die deutschsprachige Literatur – von Günter Grass, Siegfried Lenz, Johannes Bobrowski oder Horst Bienek bis zu Hans-Ulrich Treichel und Artur Becker - gilt der Heimatverlust im Osten als ein Grundmotiv. Was bezweckt also Kittels Rede von der "Vertreibung der Vertriebenen"? Es geht ihm um die politischen Interessen und finanziellen Forderungen der Landsmannschaften und Verbände. Deren Funktionäre büßten tatsächlich immer mehr an Popularität ein.
Dafür gibt es gute Gründe: Doch über die Nazi-Biographien vieler Berufsvertriebener spricht Kittel lieber nicht im Detail. Einen besonders krassen, aber auch symptomatischen Fall lässt er ganz weg. Erinnern wir uns: Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland und Landtagsabgeordneter in Kiel, machte seine Nachkriegskarriere im Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, wobei er nie in den deutschen Ostgebieten der Grenzen von 1937 zuhause war.
Er war kein Vertriebener, aber ein Verbrecher: 1944 hatte er als SS-Führer im Warschauer Aufstand binnen weniger Tage Zehntausende Zivilisten, Frauen und Kinder niedermetzeln lassen. In der Tat: Seit den 60er Jahren wurden solche Vertriebenenpolitiker zunehmend aus dem öffentlichen Leben der Bundesrepublik verbannt. Soll man's bedauern?
Es ist bezeichnend, dass Kittel in seinem Buch den eklatanten Fall Reinefarth übergeht. Aber auch in der umstrittenen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ist davon natürlich nicht die Rede. Dort sieht man hingegen eine Trompete und einen Kneipenhinweis auf ein Flüchtlingstreffen, also harmonischen Nachkriegsalltag in den Tischschaukästen, die - auch das ein Ärgernis - auf einen Rollstuhl angewiesene Besucher nicht einsehen können.
Es ist bezeichnend, dass Kittel in seinem Buch den eklatanten Fall Reinefarth übergeht. Aber auch in der umstrittenen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum ist davon natürlich nicht die Rede. Dort sieht man hingegen eine Trompete und einen Kneipenhinweis auf ein Flüchtlingstreffen, also harmonischen Nachkriegsalltag in den Tischschaukästen, die - auch das ein Ärgernis - auf einen Rollstuhl angewiesene Besucher nicht einsehen können.
Vertriebenen-Thema endet nicht mit 1945
Der Stiftungsdirektor Kittel hat seinen internationalen wissenschaftlichen Beraterkreis hinters Licht geführt, hat ihn teils unzureichend, teils überhaupt nicht über seinen Ausstellungsplan informiert. Deshalb muss er seinen Platz räumen, das wird vom Bundeskanzleramt nicht mehr dementiert – doch gibt es weiterhin offene Fragen. Warum müssen im Stiftungsrat, der mit dem Beraterkreis nichts zu tun hat, gleich sechs Vertreter des BdV und der Landsmannschaften mitmischen gegenüber nur zwei - deutschen - Museumsleitern.
In den Stiftungsrat könnten stattdessen mehr Kulturmanager eintreten, auch Vertreter des wissenschaftlichen Beraterkreises. Bei alledem geht es ja um Inhalte: Jede Vertreibung muss in einer Dauerausstellung historisch genau eingeordnet werden. Sicher wäre es spannend, auch die aktuellen Schauplätze im Nahen Osten, in Afrika und Asien einzubeziehen. Was den Schwerpunkt Flucht und Vertreibung der Deutschen angeht: Eine glaubwürdige Dauerausstellung müsste wohl auch die deutsche Vertriebenenpolitik nach 1945 kritisch würdigen.
Am Ende könnte im Berliner Deutschlandhaus eines Tages doch noch ein Forschungs- und Ausstellungszentrum entstehen, das sich sehen lässt.