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Stigma Zigeuner

Zigeuner werden bis heute geringgeschätzt. Schon das Wort Zigeuner wirkt auf viele Menschen wie ein Alarmsignal und belegt den Betroffenen mit Vorurteilen und negativen Klischees. An der Universität Trier erforscht ein interdisziplinärer Wissenschaftsverbund nun die Geschichte der Zigeuner unter besonderer Berücksichtigung der Themen Fremdheit und Armut.

Von Peter Leusch | 03.04.2008
    "Lebe, arbeite, und seit ein paar Jahren ist es so, dass ich viel mit Musik zu tun habe, mit verschiedenen Bands, eigentlich habe ich mich hier ziemlich gut eingelebt."

    Rudi Rumstaijn gehört zu einer Sinti-Familie, die aus Kroatien stammt. Er lebt schon über 20 Jahre in der Bundesrepublik, hat viele Kontakte und dank seines deutschen Passes keine bürokratischen Probleme.

    Anders sieht es bei Muzafer Nunberger aus, der zu einer mazedonischen Roma-Familie gehört. Obwohl auch er schon anderthalb Jahrzehnte in Köln lebt - mit Kindern, die hier geboren sind und zur Schule gehen - bekam er erst vor einem Jahr sein Aufenthaltsrecht.

    "Manchmal habe ich auch Angst gehabt, dass ich mich selber vorstelle, dass ich ein Roma bin oder Zigeuner zu sagen, als Zigeuner mich vorzustellen, aber jetzt im Moment bin ich froh, dass ich vor jedem Menschen sagen kann, ich bin ein Roma."
    Muzafer Nunberger spricht aus Erfahrung: Zigeuner werden bis heute abgelehnt, missachtet, ausgegrenzt. Schon das Wort Zigeuner wirkt wie ein Brandmal, markiert den Betroffenen mit untilgbaren Vorurteilen und negativen Klischees.

    "Der Begriff Zigeuner ist natürlich ein sehr problematischer und erläuterungsbedürftiger. Es ist kein Begriff, den man ad acta legen kann, weil nämlich Zigeuner der einzige Sammelbegriff ist für all jene, die als Zigeuner verfolgt wurden, und das waren nicht nur Sinti und Roma, sondern viele andere Gruppen waren ebenfalls von diesem Stigma betroffen, zum Beispiel die Jenischen, eine Gruppe, die insbesondere in der Schweiz, im Süden Deutschlands und in Österreich lebt, aber auch ganz normale Deutsche wurden als Zigeuner verfolgt und zwar ausschließlich aus dem Grund, dass sie eine umherziehende Lebensweise gepflegt haben, dass sie zum Beispiel ein Wandergewerbe betrieben haben, war Grund genug für Polizei und Verwaltung, sie während des 18. und 19. Jahrhunderts als Zigeuner zu bezeichnen und zu verfolgen."
    Die Kulturwissenschaftlerin Julia Patrut erforscht, was über die so genannten Zigeuner, Europas größte ethnische Minderheit, gedacht und geschrieben wurde, nicht nur in der belletristischen Literatur, sondern auch in wissenschaftlichen Texten, in Polizeiverordnungen und Gesetzen.

    Die Arbeit von Julia Patrut gehört zu einem der Teilprojekte im interdisziplinären Forschungsverbund der Universität Trier, der sich mit dem Thema Fremdheit und Armut quer durch die Geschichte auseinandersetzt. Und in dieser größeren Perspektive zeigt sich, dass die Stigmatisierung der Zigeuner einen überraschenden Zusammenhang mit der Diskriminierung der Juden aufweist, erläutert der Trierer Germanistikprofessor Herbert Uerlings. Er leitet das Forschungsprojekt zur Zigeunerthematik:
    "Weitgehend unbekannt, aber bis heute nachwirkend, sind religiöse Formen der Stigmatisierung, mit denen wurden die so genannten Zigeuner schon bei ihrer Ankunft in Europa im 14., 15. Jahrhundert konfrontiert, es gab verschiedene Legenden über diejenigen, die da plötzlich neu auftauchten, sie befänden sich auf einer Bußwallfahrt, sie hätten in anderer Weise gegen christliche Gebote, verstoßen, sie seien ewige Wallfahrer auf Erden, da sieht man Bezüge zwischen Antiziganismus und Antisemitismus, kurzum es gibt auch eine lange Geschichte religiöser Stigmatisierungen, die mag auch mit dafür verantwortlich sein, dass während des Dritten Reiches die Verfolgung der deutschen Sinti mit aktiver und passiver Unterstützung der Kirchen stattgefunden hat, die ihre Kirchenbücher offen gelegt haben, damit Sinti identifiziert werden konnten, damit Stammbaumtafeln und so weiter entwickelt werden konnten. Die es zugelassen haben, dass etwa aus katholischen Kinderpflegeheimen die Sinti-Kinder deportiert wurden. "
    Die Kirchen haben sich nach 1945 schwer damit getan, ihre Mitschuld an der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma einzugestehen. Auch auf Seiten des Staates vergingen Jahrzehnte, bis - vor allem auf Drängen der Roma-Verbände - Ende der 70er Jahre der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verbrechen als Völkermord rechtlich anerkannte. Es hat also neben dem Holocaust an Juden einen zweiten Genozid an den so genannten Zigeunern gegeben. Heute weiß man, dass eine halbe Million Sinti und Roma umgebracht wurden. Daran soll künftig ein Mahnmal in der Nähe des Berliner Reichs- jetzt Bundestags erinnern.

    Herbert Uerlings:

    "Der Völkermord ist das Produkt einer Eugenik, die schon um 1900 sehr engagiert betrieben worden ist. In der Schweiz hat es seit den 1920er Jahren ein so genanntes
    Hilfswerk "Kinder der Landstraße" gegeben. Eugenik wurde praktiziert in Form der Kindeswegnahme, was in es in Europa häufiger gegeben hat, es wurde aber in der Schweiz systematisch betrieben, es war der Versuch Heiraten von Jenischen untereinander zu verhindern, es war der Versuch den Jenischen die Kinder wegzunehmen und sie in der Schweiz insbesondere Bauernfamilien einzupflanzen, um sie anders zu sozialisieren, um sie von der fahrenden Lebensweise und was sonst noch zur Kultur der Jenischen hinzugehörte, wegzubringen."
    Das Unrecht an den Jenischen - von der Eugenik pseudowissenschaftlich abgesegnet - dauerte an. In der Schweiz wurden Angehörige der Jenischen in die Psychiatrie gesteckt und mit Elektroschocks malträtiert. Dass diese Praktiken 1973 endeten, haben die Jenischen vor allem sich selbst zu verdanken. Es gelang ihnen eine Bürgerrechtsbewegung aufzubauen, die gegen die Repressalien erfolgreich ankämpfte. Zu den bekanntesten Vertretern gehört die Schweizer Schriftstellerin Mariella Mehr, die selbst ein Opfer dieser Politik war. Heute genießen die Jenischen in der Schweiz die Rechte einer anerkannten ethnischen Minderheit.

    Auch in Deutschland hat die Repression eine kontinuierliche Geschichte, die mit dem Untergang der Nazi-Herrschaft keineswegs beendet war. Um 1900 begann man, mit modernsten polizeilichen Erfassungstechniken - mit Foto und Fingerabdrücken - alle Sinti und Roma als potenzielle Kriminelle in einem so genannten Zigeunerbuch zu registrieren.
    Julia Patrut:

    "Und dieses Zigeunerbuch, das 1905 zuerst veröffentlich wurde, das wurde dann von NS-Rasseforschern wie Robert Ritter übernommen und genau diese ganzen Akten wurden dann auch in der neuen BRD in den 50er Jahren an so genannten Zigeuner-Polizeileitstellen weitergegeben, und das besonders Brisante daran ist, dass sobald ein Sinti oder Roma einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt hat, auf dieses kriminalisierende personenbezogene Datenmaterial zurückgegriffen wurde, und dass die Polizeibeamten zu personenbezogenen Gutachten gebeten wurden, die dann letzten Endes die angebliche Asozialität der einzelnen Zigeuner nachweisen sollten, und mit dieser Begründung wurden dann Anträge auf Wiedergutmachung abgelehnt."
    Der Kriminalisierungsverdacht - das Vorurteil, Zigeuner stehlen - lebt auch heute hartnäckig fort, obwohl es keine verlässlichen Zahlen gibt darüber, dass unter den so genannten Klaukids Roma seien. Und die organisierte Kriminalität, woran Banden aus Ex-Jugoslawien beteiligt sind, verweist ebenso wenig auf die Roma.

    Auch das andere Vorurteil hält sich zäh: jenes Bild vom umherziehenden Zigeuner, manchmal romantisch verklärt, meist aber diskriminierend gemeint. Und doch hat dieses Bild mit der sozialen Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma kaum etwas gemein.

    In Deutschland gibt es auf der einen Seite Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo, die aktuell von Abschiebung bedroht sind, und auf der anderen Sinti- und Roma-Familien, die schon über Generationen in Deutschland verwurzelt sind. Mit Nomadentum haben beide Seiten nichts mehr zu tun, erklärt Kurt Holl, der in der Kölner Organisation Rom. e.V. engagiert ist.

    "Sofern sie Flüchtlinge sind, leben sie immer noch überwiegend in Flüchtlingsheimen, allerdings hat das Wohnungsamt seine Politik geändert und versucht immer mehr Familien in Wohnungen unterzubringen, das ist nicht einfach, weil Leute aus der Nachbarschaft sagen, wir wollen keine solchen Leute bei uns in der Nähe, Flüchtlinge generell nicht und schon gar keine Roma - das ist nicht einfach. Die deutschen Sinti und die deutschen Roma sind selbstverständlich lange schon so wohnhaft wie irgendeine andere Kölner Familie - sie sind nicht Nomaden oder so etwas, auch wenn sie oft ihre Familienangehörigen oder Verwandten besuchen, die über ganz Europa teilweise verstreut sind, und deswegen manchmal mit einem Wohnwagen herumfahren, wie jeder andere Deutsche auch, der so etwas mag oder muss."

    Herbert Uerlings: " Für das Verständnis der Lebensbedingungen ist außerdem wichtig, dass viele Roma ganz bewusst nicht sagen, dass sie Rom sind oder Sinti, dass sie als ganz normale Staatsbürger in den betroffenen Ländern leben, dass sie gute Gründe haben, sich dagegen zu wehren, dass eine Volkszählung stattfindet, die nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselt wird, usw. Wenn man eine vergleichsweise prominente Schlagersängerin nimmt wie Marianne Rosenberg, die hat auch jetzt erst gegen Ende ihrer Karriere in ihrer Autobiographie offen gelegt, dass sie aus einer ziemlich bekannten deutschen Sinti-Familie stammt, wo der Vater auch schon eine Autobiographie geschrieben hat."
    Es ist noch ein weiter Weg, bis Sinti und Roma eine akzeptierte und selbstverständliche Minderheit in Deutschland sind. Dazu möchte das Trierer Forschungsprojekt beitragen, indem es das Thema nicht nur akademisch aufarbeitet, sondern auch ins öffentliche Bewusstsein rücken will.

    "Der Sonderforschungsbereich Fremdheit und Armut wird selbst im Jahre 2011 eine große Ausstellung veranstalten, in der er seine Forschungsergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, wir werden in der nächsten Förderphase Filme produzieren, deren Adressaten Schulen sind, wir werden weiteres Material für die Arbeit an schulen erstellen."

    Musik: Gruppe EleganCi