Bis heute sind diese Menschen keine anerkannten Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und haben folglich auch keinen Anspruch auf Entschädigung. Nach dem Krieg wurden die "Asozialen" in der DDR inhaftiert und drangsaliert. Und auch in der Bundesrepublik wurden jene, die am Rande der Mehrheitsgesellschaft standen stigmatisiert. Und werden es bis heute.
Die Stadtmission Hoffnungsorte Hamburg betreibt ein Übernachtungshaus, soziale Ambulanzen und Beratungsstellen. Hierher kommen Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen.
"Das sind schon seit über hundert Jahren die wohnungslosen Menschen. Im Moment arbeitslose EU Migranten oder die sogenannten Lampedusa Flüchtlinge."
Der Psychologe Ulrich Hermannes ist Geschäftsführer der Hoffnungsorte Hamburg. Er kennt viele Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft gemieden und als asozial bezeichnet werden.
"Aus unserer Sicht dient dieser Begriff in erster Linie zur Ausgrenzung. Es gilt eben der Pauschalvorwurf der unberechtigten Teilhabe am Volksvermögen, um das pointiert zu sagen."
Bis heute gilt, wer wegen seiner Lebensform aneckt, ist selber schuld, sagt Ulrich Hermannes. Ein Erbe des protestantischen Arbeitsethos.
"Der Schuldvorwurf wird auch abgeleitet mit von dieser religiösen Orientierung, dass man sagt, jeder ist seines Glückes Schmied, jeder ist vor Gott verantwortlich, das muss der Mensch letztlich auch mit sich und Gott ausmachen, weshalb er in diese Situation geraten ist."
Arm als Synonym für asozial
Asozial, das geht vielen Zeitgenossen leicht über die Lippen, fügt Dr. Eva Lindemann hinzu. Sie versucht für Hoffnungsorte Hamburg Mittel aufzutreiben, um ihre Menschen zu versorgen. Ein schwieriges Unterfangen:
"Schlägt man im Internet die englische Übersetzung für asozial nach, kommt als englischer Begriff antisocial, also gegen die Gemeinschaft gerichtet. Und die deutsche Übersetzung für den Engländer schreibt bei asozial ungebildet, ungehobelt und arm."
Arm als Synonym für asozial. Dabei stammt der Begriff ursprünglich aus einem ganz anderen Zusammenhang. Und er ist nicht viel älter als einhundert Jahre, sagt der Historiker Wolfgang Ayaß, Professor an der Universität Kassel.
"Er taucht um die Jahrhundertwende 1900 auf zunächst recht unspezifisch. Der französische Soziologe Emile Durkheim sagt, das Kind käme asozial zu Welt und müsse erst sozialisiert werden. Oder Sigmund Freud sagt, der Traum sei asozial, weil man ihn nur für sich alleine hätte."
Die Verknüpfung des Begriffs mit der Unterschicht beginnt etwa 1910. Da taucht das Wort im Zusammenhang mit sozialer Arbeit auf.
Die Verknüpfung des Begriffs mit der Unterschicht beginnt etwa 1910. Da taucht das Wort im Zusammenhang mit sozialer Arbeit auf.
"Wobei er noch nicht allgemein geläufig ist. Er taucht also im Rechtschreibduden erst 1929 auf. Und wird verwendet für die unterste Schicht der Fürsorgeempfänger."
Die Einrichtungen der Fürsorge wollten damals die sogenannten Asozialen nicht nur notdürftig versorgen, sondern vor allem erziehen: die asozialen Elemente in die Mehrheitsgesellschaft zurückführen. Ab 1933, so Wolfgang Ayaß benutzten die Nationalsozialisten die Bezeichnung dann für alle möglichen Personenkreise, die nicht in ihr Weltbild passten.
"Also asozial waren dann die Bettler, die Landstreicher, auch Gruppen, die man als Zigeuner bezeichnete, aber auch mittellose Alkoholkranke, Leute, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Und insbesondere dann alle als arbeitsscheu eingeschätzten Fürsorgeempfänger."
Und all diese Menschen sollten nun nicht mehr auf den rechten Weg gebracht, sondern ausgemerzt werden.
"Im Endeffekt lässt sich das in der Rassenhygiene verorten, dass es eine im Denken der NS völkische Unterschicht gab, die sich rasant vermehrt und die von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden muss."
In einem historischen O-Ton von 1933 begrüßt der damalige NS Ministerialrat im Reichsinnenministerium Arthur Gütt das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, sprich die Zwangssterilisation Unerwünschter:
"Während die erbgesunden Familien größtenteils zum Ein- und Kein-Kind-System übergegangen sind, pflanzen sich unzählige erblich belastete hemmungslos fort, deren kranke und asoziale Nachkommen der Gesamtheit zur Last fallen."
Wer als asozial galt, wurde weggesperrt. Ab 1938 in Konzentrationslagern, sagt Ayaß:
"Die erhielten als Asoziale den schwarzen Winkel. Das war das Kennzeichen der Asozialen. Und sie waren in der Hierarchie der Lager eher unten angesiedelt."
Die Asozialen - eine ignorierte Opfergruppe
Der in Quedlinburg geborene Künstler Tucké Royal stieß vor ein paar Jahren auf dieses Schicksal der sogenannten Asozialen. Er stellte fest, dass es über diese Personengruppe aber weder Informationen noch Gedenksteine gab.
"Und dann habe ich angefangen nachzulesen und habe rausgefunden, dass das eine wahnsinnig heterogene Opfergruppe ist. Also im Gegensatz zu anderen Opfergruppen. Und davon auszugehen ist, dass damit im Gegensatz zu Homosexuellen zum Beispiel oder Juden oder Zeugen Jehovas auch keine Selbstidentifikation möglich ist. Das hat mich interessiert."
Der 30-jährige Tucké Royal inszenierte in der Hamburger Theaterfabrik Kampnagel und am Berliner Gorki Theater die Gründung eines Zentralrats der Asozialen. Der soll das Schicksal und das Recht auf Entschädigung dieser vergessenen Opfergruppe ins öffentliche Bewusstsein rücken.
"Das ist sicher auch ein Schamproblem der Angehörigen. Ich kann mir vorstellen, dass das Schwierigkeiten macht, zu sagen, ich fordere jetzt eine Entschädigung für meine als asozial verfolgte Großmutter. Das wird sehr viel schwieriger sein, glaub ich, als für andere Opfergruppen, weil sich dieses Stigma gehalten hat."
Tatsächlich wurde nach 1945 diese Opfergruppe völlig ignoriert, bestätigt der Kasseler Geschichtsprofessor Wolfgang Ayaß:
"Es ist keine Organisation entstanden wie bei anderen Häftlingsgruppen, weil die Verfolgung der NS gegenüber der Asozialengruppe doch anknüpfen konnte an langjährige Ausgrenzungen, die schon vorher bestanden. Und die Asozialenverfolgung der Nazis weitgehend nicht als NS spezifisch verstanden wurde."
Die Hamburger Sozialpädagogin Dr. Christa Paul hat die Biografie einer 1921 in Hamburg St. Pauli geborenen Frau nachverfolgt. Erika Weber, der Name ein Pseudonym, bekam 13 Jährig einen Vormund, landete zwei Jahre später im Erziehungsheim. Es folgte geschlossene Unterbringung. Mit 17 Jahren wurde Erika Weber zwangssterilisiert. Und mit 21 Jahren vorläufig entmündigt. Nach Kriegsende, so Christa Paul, bekamen zunächst alle ehemaligen Häftlinge finanzielle und sonstige Unterstützung:
"Bis dann, und das dauerte wirklich nur ein paar Wochen, festgelegt worden war, dass Häftlinge, die aus politischen, religiösen und rassischen Gründen verfolgt wurden, Anspruch auf entsprechende besondere Unterstützungsleistung hatten und die Häftlinge, die als sogenannte Asoziale im Konzentrationslager waren solche Ansprüche nicht hatten."
Der von den Nazis drangsalierten Frau, die nie eine Straftat begangen hatte, wurde die Unterstützung gestrichen. Sie wurde 1946 von den Nachkriegsbehörden sogar endgültig entmündigt und blieb weiter in geschlossenen Heimen. Treibende Kraft dabei war die damalige Leiterin der Hamburger Fürsorge Käthe Petersen. Bereits seit 1943 arbeitete sie dort in leitender Position und engagierte sie sich auch nach Kriegsende für ein sogenanntes Bewahrungsgesetz. Paul:
"Und das sollte sich richten gegen Menschen, die in den Augen der Fürsorge, ich sage jetzt mal, kein ordentliches Leben führten und derer aber der Staat nicht habhaft werden konnte, weil sie keine Gesetze überschritten haben."
Hetze gegen "Arbeitsscheue" auch nach dem Krieg
Die noch bis 1981 in der Fürsorgepolitik einflussreiche Käthe Petersen, die sogar das große Verdienstkreuz erhielt, dozierte 1952 auf dem Fürsorgetag in Stuttgart:
"Haltlose und Arbeitsscheue fallen in der Regel nicht nur dadurch auf, dass sie der Arbeit ausweichen, sie lassen sich auch in ihrer sonstigen Lebensführung gehen. Die Grenzen zwischen Haltlosen und Arbeitsscheuen sind oft fließend."
In der DDR sah es für die als asozial Inhaftierten nach 1945 noch schlimmer aus, sagt der Historiker Wolfgang Ayaß
"Also der Asoziale wurde dann als Saboteur im Aufbau des Sozialismus empfunden. Und es ist dann tatsächlich im Strafgesetz der DDR von 1968 ein spezieller Asozialenparagraf aufgenommen worden, der Paragraf 249, wo also asoziales Verhalten dann mit Haft bis zu zwei Jahren, im Wiederholungsfall bis zu fünf Jahren bedroht wurde."
Wer nicht im volkseigenen Betrieb mithalf, den Sozialismus aufzubauen, wer unangepasst war, wurde als Asozialer abgestraft. DDR Staatsanwalt Kurt Schmidt begründete 1973 eine strafrechtliche Verfolgung dieser Bürger.
"Weil derjenige, der asozial lebt, sich gesellschaftsschädigend verhält, nicht gewillt ist, sich in die Gesellschaft einzufügen, kurz, ohne Gemeinsinn ist. Durch Asozialität wird das Verhältnis der Bürger zur sozialistischen Gemeinschaft, zum Staat und zu anderen Bürgern erheblich gestört."
Zurück in der Stadtmission Hoffnungsorte Hamburg. Hier finden viele Menschen Hilfe. Was sie eint, ist, dass alle arm sind und dass die Mehrheitsgesellschaft auf sie herabschaut. "Du Assi", sagt Mitarbeiterin Eva Lindemann, sei heute ein beliebtes Schimpfwort in der Jugendsprache. Es bezeichne die Ungebildeten, Ungepflegten und Peinlichen, die sich ohne Arbeit durchs Leben schlagen. Eben asozial. Eva Lindemann würde damit eher andere Personen bezeichnen:
"Menschen, die ihren Profit maximieren, die ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gegenüber rechtlich nicht besonders stabilen Personen, mit unlauteren Arbeitsverträgen, das würde auf die Definition von Asozialität ja viel mehr zutreffen, nämlich gegen die Gemeinschaft, gemeinschaftsschädigend zum Beispiel."