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Stille Tage am See

Der Lago Maggiore im Tessin war vielen Künstlern ein Zufluchtsort: Der Schriftsteller Erich Maria Remarque lebte hier, seine Fau Paulette Goddard, der Komponist Leoncavallo. Oder der Dichter Johann Gottfried Seume, der bereits vor 210 Jahren das Lago-Ufer erwanderte. Eine Spurensuche.

Von Joachim Dresdner |
    An der Uferstraße wird gebaut. Gegenüber dem Hotel am See schaufelt ein gelber Bagger von dem steilen Hang Erde auf die Ladeflächen der Transport-LKW’s. Hier entstehen Eigentumswohnungen, Alterssitze. Für die meisten Einheimischen unerschwinglich und leider typisch für Schweizer Ferienorte am Lago Maggiore.

    Luca Goldhorn: "Pilgern wäre rein für die Lunge nicht gesund, aber man könnte oberhalb vom Lago Maggiore bis nach Cannobio pilgern, oder um den See herum."

    Gerhard Lob: "Remarque wird nicht als einer wahrgenommen, der die Geschichte des Kantons Tessins geschrieben hat."

    Gustavo Lang: "Und hier ist das Grab von Ruggero Leoncavallo und seiner Gattin Berthe und das ist eine recht abenteuerliche Geschichte, weshalb er hier seine letzte Ruhestätte fand."

    Hier waren die Musen zuhause. An der Uferstraße, die Ascona und Brissago verbindet, liegt Ronco. Das einstige Bauerndorf zieht sich auf einem Felsen bergan. Für die wenigen Villen unterhalb der engen Straße ist kaum Platz. Ihre Lage direkt am Lago ist traumhaft. Im Rücken den starken Autoverkehr zur italienischen Grenze hin, vor den Augen der See.

    Die Jalousien der hohen Rundbogenfenster im obersten Stockwerk der "Casa Monte Tabor" sind geöffnet. Darunter, in der Mitte der Fensterfront, geht es auf einer Plattform weit hinaus. Das Erdgeschoss und der erste Stock sind schmaler und schlichter in den Fels gebaut. Das Haus steht zum Verkauf. Es gehörte dem deutschen Dichter Erich Maria Remarque. Mit seinem Roman "Im Westen nichts Neues" brach er das Tabu vom Heldentod der Soldaten. Das war 1929. Drei Jahre später ließ sich Remarque in der Schweiz, schließlich in Ronco nieder:

    "Genau. Die Villa hat er gekauft aus Erträgen natürlich von diesem Buch, was ja wirklich ’n Bestseller war, wen man heute sagt, und in viele, viele Sprachen übersetzt wurde und ja hier hat er gelebt, direkt am See."

    Der Journalist Gerhard Lob hat Künstlerhäuser in Ascona und Locarno in einem Buch beschrieben. Anfang des 20. Jahrhunderts verband sich mit Ascona der Ruf eines geistigen Zentrums Europas. Intellektuelle und Künstler kamen und gingen - von Hermann Hesse bis Patricia Highsmith. Lob zeigt mir die Remarque’sche "Casa Monte Tabor":
    "Das ist die Terrasse. Die berühmte "Wiedergutmachungsterrasse" heißt sie, glaube ich, weil, Remarque hat ja eine Entschädigung bekommen, weil er ausgebürgert wurde."

    Weil die Nazis seine Bücher verbrannt und ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, zahlte ihm die junge Deutsche Bundesrepublik eine Entschädigung.

    "Mit dem Geld hat er diese Terrasse gebaut an das Haus. Diese untere Terrasse eben."

    Gerhard Lob, der Journalist aus Locarno, bringt mir das Problem solcher geschichtsträchtigen Häuser näher. Die Villa ist getrennt vom Ort oberhalb der Straße. Der Dichter Remarque lebte auf Distanz zu Ronco, pflegte Kontakte zu Emigranten, wie er einer war, empfing sie als Besucher und war selbst viel auf Reisen:

    "Das war eben nicht im Sinne von einem, der kam, um sich hier zu integrieren im Tessin. Das war sicherlich nicht der Fall, aber viele Leute kannten ihn auch. Man kannte ihn auch in diversen Gasthäusern, weil ja bekannt ist, dass er auch gern mal einen getrunken hat."

    "Einer von ihnen", wie Carl Zuckmayer im Kanton Wallis, oder Hermann Hesse in den Bergen Tessins, wurde Remarque nie. Im Gegensatz zum privat verkauften Zuckmayer-Haus in Saas-Fee droht der Remarque-Villa Abriss und Luxussanierung. Damit wäre der Verlust des humanistisch-pazifistischen Erbes Remarques verbunden.
    Aber letztlich geht es ums Geld:

    "Nun man kann das ja hier sehen. Wir stehen ja direkt drunter. Der Zahn der Zeit nagt am Gebäude. Hier sind sicherlich Renovationen nötig, sind weitere recht happige Beträge nötig, um hier das Haus entsprechend instand zu setzen, interessant für Leute, die allenfalls nur das Terrain kaufen wollen und nachher hier vielleicht auch ein neues Gebäude bauen wollen."

    Vor allem im Tessin, am Lago Maggiore, ist eine Diskussion im Gange, über Gebäude, die erhalten werden sollten. Zu einer Zeit, wo alte Villen abgerissen werden und neue Blockhäuser entstehen, oder Mehrfamilienhäuser mit hellen, glatten Fassaden:

    "Es ist effektiv ein Trend, dass zum Beispiel das Bewusstsein im Tessin nicht so vorhanden war für alte Bausubstanz. Man denkt etwa dass das wunderschöne Gebäude von Leoncavallo in Brissago, wo er lebte wurde ja abgerissen. Da weint man heute drüber, ist sehr traurig, aber das Bewusstsein war so nicht da."

    Ronco, Ascona, auch Selina, sind beliebt sind bei Deutschschweizern, auch bei Deutschen, die hier gern ein Feriendomizil einrichten:

    "Das geht also ineinander über, dass die Lage, der Preis an sich schon hoch ist und dazu noch diese Nachfrage kommt, zum Teil von sehr betuchten Personen, da können Grundstückspreise verlangt werden, die der Normalbürger im Tessin überhaupt nicht mehr bezahlen kann."

    Lob findet es dramatisch, dass in Locarno, oder Muralto Hotels abgerissen und in teure Zweitwohnungsresidenzen verwandelt werden. Ein Problem, das auch andere Ferienorte der Schweiz, zum Beispiel im Engadin, hätten:

    "Nämlich das Problem der kalten Betten, das heißt, die Wohnungen stehen eigentlich die meiste Zeit im Jahr leer, werden nur wenige Wochen bewohnt. Die Rollläden sind runtergelassen und das ist erstmal nicht schön zu sehen und auch fragwürdig für das zusammenleben im Dorf, oder in diesen Zonen, weil natürlich dann die schönsten Plätze eigentlich besetzt sind, durch Leute, die da nie leben!"

    Oben, in Ronco sopra Ascona und unten in Porto Ronco lebten vor 210 Jahren noch Bauern und Fischer. Damals wanderte der Dichter Johann Gottfried Seume heimwärts, von der Aretusa-Quelle in Syrakrus, Sizilien. Seume hatte die Lombardei hinter sich. Die "südlichen Seiten der Alpenberge" waren in Sichtweite, als er am Lago Maggiore entlang zog.

    Durch Brissago, Ronco und Ascona. Unzählige Wanderer waren hier, oben in den Bergen und unten am See. Vor ein paar Jahren hat der "Seume von heute", hat Luca Goldhorn sein Diplom als Wanderleiter gemacht. In den Seitentälern, im Centovalli und im Maggiatal kennt er jeden Stein, jeden Wasserlauf, jede Wiese, jeden Hang.

    "Ja, zu Fuß gehst du langsamer, hast du erstens mal mehr Zeit, um die einzelnen Sachen wahrzunehmen, du siehst mehr, zu Fuß kannst du anhalten, kannst du das Ganze in dir hineingehen lassen, aber hast du natürlich schon andere Perspektiven auch."

    Autofahrer könnten hier nicht einfach anhalten, um zu schauen und während der Fahrt hätten sie einen eingeschränkten Blickwinkel. Jede Wanderung sei für ihn Entspannung und das bei jedem Wetter, sagt Wanderführer Goldhorn, ob es trocken ist, neblig oder nass:

    "Da gehen ganz andere Gedanken, wenn Du den gleichen Weg zweimal läufst, einmal bei schönem Wetter, einmal bei schlechtem Wetter, ’N Salamander siehst du nicht wenn ’s trocken ist, aber du siehst ihn wenn’s nass ist, da hast du andere Chancen, oder, und vor allem hast du nicht soviel Gegenverkehr, weil du meistens alleine dann bist."

    Der wandernde Dichter Seume hat vor über 200 Jahren die vielen Früchte, Stauden, Bäume an seinem Weg beschrieben. Orangengärten, Olivenpflanzungen, indische Feigen und "Kastanien die Menge" sah er am Lago Maggiore. Luca Goldhorns Touren führen auch durch die üppigen Kastanienwälder des Centovalli. Bei unserem Gespräch sitzen wir entspannt auf der Terrasse eines Hotels direkt am See. Wir schauen auf den Palmengarten, auf Oleander, Azaleen, Rhododendron und einen Affenbaum im frischen Grün. Bis zu seiner schirmförmigen Krone stehen die Äste zunächst waagerecht, dann gebogen vom geraden Stamm ab.
    Ugo Quaglia, der Betreiber des Hotels kommt hinzu und erklärt uns:

    "Die Bepflanzung war vorher nicht so, war mehr mit Tannenbaum und solche Pflanzen und dann meine Mutter hat einen mediterranen Garten gestaltet. Wir haben eine Gardenie deren Duft ändert sich, morgens merkt man ihn sich und am Abend ist er etwas anders."

    Ruggiero Leoncavallo, der bekannte italienische Komponist war hier Gast. Die Familie Quaglia habe einen Brief gefunden, erzählt Ugo, aus dem hervorgeht, dass Leoncavallo in diesem Hotel das Lied "La Mattinata" komponiert hat. Ein Mailänder hätte vor über 135 Jahren das schmale, mehrstöckige Gebäude an der Uferstraße errichtet, zunächst als Kurhaus, denn die Leute kämen damals wegen der guten Luft und der vielen Sonnenstunden.

    Ugo Quaglia, ein schlanker freundlicher Mann in mittleren Jahren, hat viel Prominenz begrüßen können. Darunter einen der besten Köche der Schweiz: Angelo Conti Rossini. Er war der erste Tessiner Koch, der die örtliche Küche aus dem Grotto-Niveau in die Ranglisten der Gastronomieführer hob.

    "Das war auch ein berühmter Chef im Hotel Giardino. Meine Familie war mit Angelo Conti Rossini befreundet und wegen dem ist Piero Chiara hierher gekommen, mehrmals."

    Der italienische Schriftsteller Chiara wurde auf der anderen Seite des Lago, in der Stadt Luino geboren. Später bezogen der Tiefseeforscher Jacques Piccard
    und der belgische Comiczeichner Hergé Quartier:

    Hergé, belgischer Comic-Autor und –Zeichner, er war auch hier und Hergé hat "Tintin" kreiert. Die haben sogar einen Film gemacht aus diesem Comic. Tintin ist so ein junger Mann und dann ist so ein kleiner Hund und er war hier.

    Hergé, der 1983 verstorbene Vater von Tim und Struppi, wie seine Figuren bei uns in Deutschland heißen. Prominente Dichter logierten nebenan im Grand-Hotel: Thomas Mann, Ernest Hemingway, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Hermann Hesse.

    Das "Grand-Hotel" ist heute ein hoher, weißer Klotz mit Eigentumswohnungen und schrägen Glasplatten zur Küstenstraße hin. Die sollen den Verkehrslärm von den Ohren der Wohnungsbesitzer fernhalten. Mein Weg führt dann vorbei am Schwimmbad und an dem wuchtigen Gebäude der Tabakfabrik. Als ich später Gustavo Lang treffe, erzählt er mir zur Fabrik:

    "Die Tabakfabrik wurde 1847 hier gegründet, um die Zölle der Österreicher zu umgehen. Das wissen die meisten Leute nicht, da drüben, das war Österreich! Die Lombardei war lange Österreich unter dem Feldmarschall Radetzky und der Piemont war bereits ein selbstständiges Königreich. Es gab sogar einmal ein Seegefecht! Das steht in keinem Geschichtsbuch!"

    Die Geschichtsbücher halten die Tabakfabrik als eine der ersten Aktiengesellschaften der Schweiz fest. Das Geld soll von Mailändern und Tessinern gekommen sein. Sie wollten den Habsburgern und ihren Tabakregeln ein Schnippchen schlagen.

    Wer ist nun Gustavo Lang, der das alles weiß? Gustavo ist, wie Gerhard Lob, Journalist, hat sich 30 Jahre lang mit Weltpolitik beschäftigt, als Rentner in Brissago niedergelassen, und hier seine musische Seite zum klingen gebracht. Die hat mit Ruggero Leoncavallo zu tun.
    Jenem Leoncavallo, der eines Morgens am Lago die "Mattinata" komponiert hatte:

    "Die "Mattinata" – ein richtiger Ohrwurm, es ist die "Nationalhymne der Brissaghesen" kann man sagen und es heißt, bis zu den "Beatles" sei die "Mattinata" das meist aufgenommene Musikstück gewesen, das es überhaupt gab."

    Bei der allerersten Schallplattenaufnahme des Liedes saß der "Maestro" selbst am Klavier. Gesungen hat Enrico Caruso. Das war 1904.

    Nun sind wir fast am Ortsausgang angekommen, bei einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert mit achteckiger Kuppel und einem frei stehendem schnörkellosen Campanile. Unter dem Bogengang vor der Kirche liegt, von Ketten geschützt, eine Gedenktafel auf dem Boden.

    "Hier stehen wir im Portiko der wunderschönen Renaissance-Kirche "Madonna di Ponte" und hier ist das Grab von Ruggero Leoncavallo und seiner Gattin Berthe und das ist eine recht abenteuerliche Geschichte, weshalb er hier seine letzte Ruhestätte fand, weil, Leoncavallo hat lange hier in Brissago gelebt. Er hatte seine Villa in der Nähe hier, die wurde leider abgerissen, aus finanziellen Gründen. Jetzt stehen dort zwei Appartementhäuser für Deutsche vielleicht, und so weiter, aber er war also eine lange Zeit hier in Brissago und er hat Brissago enorm geliebt."

    Obwohl ein Italiener! 1858 in Neapel geboren und in der Toskana gestorben. Großartig seine Kurzoper "Der Bajazzo", nach einer Clownsfigur in Italien. In seiner Oper ist der Bajazzo ein betrogener Ehemann, der sich nichts von seinem Kummer anmerken lassen darf.
    Leoncavallo lebte ab 1904 in Brissago, gleich neben dem Grand Hotel, war dort mehrere Jahre Mitglied des Verwaltungsrates und wurde Ehrenbürger von Brissago.

    "Der bisher einzige Ehrenbürger, nicht, und dort, in der Dankesadresse hat er gesagt, er möchte einmal ruhen in der Erde von Brissago."

    Das hatte Folgen: Jetzt kommt eine abenteuerliche Geschichte! 1914 zog Leoncavallo nach Montecatini, wo er fünf Jahre später starb. Jahrzehntelang ruhte er auf einem Friedhof in Florenz, bis sich ein Musikexperte erinnerte:

    "Leoncavallo hat gewünscht, hier begraben zu sein. Dann hat man den Präfekten von Florenz überredet, ich würde jetzt nicht sagen bestochen, aber man hat ihn überredet zuzustimmen, dass seine Überreste und die seiner Gattin hier nach Brissago kommen, nicht, und das geschah dann in einer "Nacht- und Nebelaktion". Man wusste noch nicht, wo er dann hier ruhen sollte. Er war irgendwo versteckt in der Sakristei dieser Kirche, weil es hieß: Ja, der ist vielleicht in einem Banksafe in Locarno, oder so was, aber er war also hier und dann hat man endlich herausgefunden, hier wäre ein wunderschöner Platz mit Blick auf den See für ihn und hier ist er dann schließlich begraben worden, aber in Italien ging eine Welle der Entrüstung durch die Elite. Im Parlament gab es eine Interpellation, wegen Ausverkauf des nationalen Erbes und so weiter, aber er blieb dann hier. Und seither, das ist erst seit etwa 20 Jahren, ruht er hier in Brissago."

    Die parlamentarische Anfrage an die italienische Regierung lief übrigens ins Leere. Seither sind Leoncavallo und Gustavo Lang nicht zu trennen. Er setzt sich für den Komponisten ein:

    "Und so bin ich dann Mitglied geworden Stiftungsrats fürs Museum und versuche den Leoncavallo den meisten Touristen, die hier her kommen näher zu bringen. Einige wissen, dass es ihn gab, dass es die Pagliacci gab, die meisten aber nicht, die haben keine Ahnung!"

    Ich verabschiede mich, von der Remarque-Villa in Ronco, die mir Gerhard Lob zeigte, von Luca, dem Tessin-Wanderer, von Ugo und seinem Hotel "mit Seeanstoß" und schließlich von dem Leoncavollo-Fan Gustavo Lang:
    "Ich komme je jeden Tag hierher und führe so ein bisschen ein Zwiegespräch mit Ruggero.
    Und ich höre wie er sagt: 'Ja Gustavo, das machst du gut, mach’ es weiter so!'"