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Stimme der Erinnerung

Er verkörpert die Holocaust-Überlebenden wie kaum ein anderer. Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Elie Wiesel, geboren am 30. September 1928, wurde von den Nationalsozialisten nach Auschwitz und Buchenwald deportiert und überlebte die Lager als Einziger seiner Familie.

Von Matthias Bertsch |
    " Jeder Psychiater weiß, anders als die Historiker: Die Menschen wollen sich nicht an schmerzhafte Dinge erinnern. Im Gegenteil, es gibt einen natürlichen Instinkt in uns allen: Wir versuchen, traurige Momente oder verletzende Erinnerungen zu unterdrücken. Bei uns ist es umgekehrt: je schmerzhafter die Erinnerung, desto stärker unser Bedürfnis, sie mit jemandem zu teilen."

    Als Elie Wiesel im Januar 1986 auf Einladung des Zentralrats der Juden in Deutschland war, hielt er in Bonn einen Vortrag zum Thema "Erinnerung und Versöhnung".

    "Unser Bedürfnis zu erinnern verfolgt eine einzige Absicht: Es ist der Versuch, irgendeine Verbindung mit den Toten zu schaffen, die von der Welt verschwunden sind."

    Geboren am 30. September 1928 in den rumänischen Karpaten wuchs Elie Wiesel in einer streng religiösen Familie auf. Er sollte Rabbiner werden, doch im Frühjahr 1944 wurde die ruhige Jugendzeit jäh beendet. Nachdem die Nationalsozialisten die Karpaten besetzt hatten, wurde der 15-Jährige mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter und seine Schwestern wurden dort ermordet, er selbst wurde mit seinem Vater im Januar 1945 weiter nach Buchenwald gebracht. Dort starb der Vater nach wenigen Tagen, ihn nicht gerettet zu haben, löst bei Elie Wiesel noch heute Schuldgefühle aus.

    Nach der Befreiung durch die Amerikaner studierte Wiesel in Frankreich Philosophie und Literatur und arbeitete als Journalist für die israelische Tageszeitung "Jediot Aharonot", für die er schließlich auch nach New York ging. Daneben schrieb er Bücher und hält bis heute Vorträge über seine Erlebnisse in Auschwitz und Buchenwald: Der Holocaust sei sein Lebensthema, das er mit missionarischem Eifer verfolge, so der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz.

    "Die Mission von Elie Wiesel ist zu verkünden: Dieses Menschheitsverbrechen darf nicht vergessen werden! Ihr, die ihr Nachgeborene seid, ihr habt die Pflicht, das wahrzunehmen, und diese Pflicht besteht ohne irgendeine Zeitbegrenzung: der Holocaust als Menetekel der Menschheit."

    Als Vorsitzender der von Jimmy Carter eingesetzten Kommission zur Erinnerung an den Holocaust war Wiesel auch Gründungsmentor des Holocaust-Museums in Washington. Kritikern, die dem Museum eine Beschränkung auf die jüdischen Opfer vorwarfen, hielt er entgegen: "Nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer." 1986 trat Wiesel aus Protest gegen den Besuch Ronald Reagans auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg aus der Erinnerungskommission aus, doch seine Nähe zu den Präsidenten der USA blieb.

    "Elie Wiesel ist aufgrund seiner Medienpräsenz, aufgrund seiner öffentlichen Position in den Vereinigten Staaten und weltweit, wahrscheinlich trotz aller Kritik, die es in vielen Details an ihm gibt, die zentrale Person, die den Überlebenden von Auschwitz verkörpert."

    Im Juni 2009 begleitete Elie Wiesel Barak Obama bei dessen Besuch im KZ Buchenwald und erklärte in seiner Rede, dass die Menschheit aus den Schrecken der Lager nichts gelernt habe: Wie sonst könne es ein Darfur, Ruanda oder Bosnien geben. Das Gedenken dürfe nicht bei der bloßen Erinnerung an die Vergangenheit stehen bleiben, hat Wiesel immer wieder betont, sondern müsse sich auch den Fragen von heute stellen. 1986 hat er für seinen Einsatz gegen Gewalt und Völkermord den Friedensnobelpreis bekommen. Doch auf die Frage, wie der Holocaust möglich gewesen sei, hat er selbst keine Antwort gefunden.

    "Was mich als Kind so beeindruckt hat, war, dass das System funktioniert hat: Die Mörder mordeten, die Opfer starben, die Folterer folterten, andere hatten Hunger und der Himmel war blau. Sie hatten eine besondere Sprache erfunden und besondere Gesetze, es war eine Schöpfung jenseits der Schöpfung, ein Paralleluniversum, wir lebten außerhalb der Zeit, jenseits von Leben und Tod, aber warum es, um Gottes Willen, funktioniert hat, weiß ich bis heute nicht. Meine Fragen sind unbeantwortet geblieben."