Das Läuten der Mobiltelefone ist, im Rückblick, noch das wohlklingendste an der Performance "LTE Babylon" von Jan Dietrich und Manfred Scharfenstein. Aus fünf Boxen bricht es über die Zuschauer im 23. Stock herein. Die Anrufer sind nunmehr als kleine orangefarbene Gestalten am Fuße des Hochhauses zu sehen. Sie zerstreuen sich in der Stadt, das Handy am Ohr, und berichten fortlaufend, was sie sehen, unterbrochen nur von Bibelzitaten.
"So wollen wir uns einen Namen machen"
– "Und die ganze Erde hatte ein- und dieselbe Sprache"
– "Eine Sprache haben wir alle" – "Mülleimer" – "Laterne"…
Die Zuschauer bleiben im 23. Stock zurück, allein mit der babylonischen Sprachverwirrung und dem suchenden Blick über die Häuserschluchten.
Die Verlorenheit in der Stadt, sie steht, sinnbildlich, auch für die freie Musiktheaterszene.
"Es gibt so viele Institutionen, wo ich mich immer frage: Warum kooperieren die nicht? Warum kooperieren die Hamburger Komponisten so wenig mit den Regisseuren? Warum kooperieren die freien Ensembles nicht mit der Musiktheaterszene? Ein ganz wichtiger Grund für Stimme X ist, die Leute hier herzukriegen und zu vernetzten."
Dem Musiktheater eine Stimme geben
Stimme X, das ist eine Veranstaltungsreihe, die Hans-Jörg-Kapp, Professor für Dramaturgie und Regie an der Hochschule Hannover und freier Musiktheaterregisseur in Hamburg, gemeinsam mit Frank Düwel gegründet hat: Um die freie Szene wieder hör- und sichtbar zu machen. Um die Lücke zu füllen zwischen dem Millionenpublikum der Hamburger Musicals und der hochsubventionierten Staatsoper.
"Der Impuls, Stimme X zu gründen, entstammt schon auch einem politischen Unmut. Damals stellte sich auch schon dieses Spielortproblem, und da haben wir als freie Szene auch durchaus mal interveniert und gesagt, so, jetzt öffnet dieses Haus für uns. Aus diesem Impuls ist dann die Gründung von Stimme X entstanden, weil wir gesagt haben, wir können jetzt hier nicht nur Protest machen, sondern lasst uns doch wirklich zeigen, was Hamburg kann, gerade im freien Musiktheaterbereich."
Mit dem zweiten Durchlauf etabliert sich das Projekt, sagt Kapp. Die Fördersumme aus der Kulturbehörde steigt, der Raum zum Experimentieren öffnet sich weiter.
"Zeitgenössisches Musiktheater kann sich nicht nur auf Kammeroper beschränken, das muss sich größer denken, das muss sich auch in andere Musikstile reinbewegen."
Im Rahmen der Reihe werden klassische Werke dekomponiert und mit Elektrosamples versetzt, verbindet sich Pop mit Traditionellem.
"Permanent online, ohne miteinander zu kommunizieren"
Bei LTE Babylon wiederum trifft der Mobilfunkstandard LTE auf einen religiös besetzen Begriff. Die Sprachverwirrung im 23. Stock verlangt den Zuhörern einiges ab. Schon nach 15 Minuten ist das Stimmengewirr, sind die Umgebungsgeräusche kaum mehr zu ertragen. Doch die Kakophonie der Stimmen, der Lärm vom Dom, der U-Bahn, der Straße, das andauernde Statusupdate, wo sich die Anrufer befinden, als das setzt sich noch eine Dreiviertelstunde fort.
"Sehr anstrengend, das ist die Erfahrung, die ich jeden Tag beim Pendeln mache und nur den Wunsch hab, von dieser Welt in einen Ruheraum zu verschwinden", sagt ein Zuschauer. Und doch, das Experiment, die Komposition ist geglückt: Die Botschaft des Stückes, permanent online, doch ohne miteinander zu kommunizieren, sie wird schmerzhaft bewusst.