Der Anwärter mit den größten Chancen ist Bronislaw Komorowski, der amtierende Parlamentspräsident. Er gehört der rechtsliberalen Regierungspartei "Bürgerplattform" - kurz PO - an. Sein größter Rivale ist Jaroslaw Kaczynski. Der ehemalige Premierminister ist Chef der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS. In den vergangenen Wochen holte er auf, weil er sich ein neues Image gab: Früher als Scharfmacher verschrien, präsentiert er sich nun als Staatsmann und Mittler zwischen den Lagern.
Eigentlich sollte die Wahl erst im Herbst stattfinden. Sie wurde vorgezogen, weil der bisherige Präsident Lech Kaczynski bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Am 10. April stürzte eine Regierungsmaschine vom Typ Tupolew bei Smolensk in Russland ab. Neben dem Präsidenten starben 95 weitere Passagiere, darunter viele Mitarbeiter der Präsidentenkanzlei und Abgeordnete.
Die Delegation war unterwegs zu einer Gedenkfeier: Sie wollte der polnischen Soldaten und Zivilisten gedenken, die vor 70 Jahren in Katyn vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden. Eine Woche lang herrschte in Polen Staatstrauer.
Immer wieder versammelten sich Menschen vor dem Präsidentenpalast in Warschau und stellten Kerzen auf. Sie konnten nicht begreifen, was passiert war. Viele Polen wünschten sich damals, dass der kommende Wahlkampf friedlicher und fairer verlaufen sollte als in früheren Jahren.
"Für mich ist das Unglück ein Zeichen dafür, dass wir Polen einiger werden, dass wir nicht mehr so viel streiten sollen. Unser gemeinsames Gedenken zeigt, dass wir dazu fähig sind."
Doch die Idee, sich gemeinsam auf einen Nachfolger für Lech Kaczynski zu einigen, verwarfen die Parteien. Die Bürgerplattform PO hatte sich schon vor dem Unglück auf Bronislaw Komorowski festgelegt; davon wollte sie nicht abrücken. Alle Augen richteten sich deshalb auf Jaroslaw Kaczynski, den Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten. Und tatsächlich erklärte er seine Kandidatur. Er wolle das Werk seines Bruders fortsetzen, so schwer ihm das im Moment auch falle, erklärte er später:
"Unser Land ist in einer besonders schwierigen Lage. Da müssen wir alle an einem Strang ziehen. Wir Polen haben in unserer Geschichte bewiesen, dass wir das können. Die Solidarität ist unsere große Stärke."
Aber eine politische Debatte kam lange nicht in Gang. Denn zunächst zeigte sich Jaroslaw Kaczynski mehrere Wochen lang nicht in der Öffentlichkeit - weil er immer noch trauere, wie seine Berater erklärten. Da wollten die anderen Kandidaten nicht pietätlos wirken und hielten sich ebenfalls zurück.
Dann kam das Hochwasser. Vier Wochen lang traten die Flüsse im Osten und Westen des Landes über die Ufer. Die Naturgewalt und die Not der Opfer beherrschten die Schlagzeilen. Wenn die Medien ihren Blick auf die Kandidaten richteten, dann nur auf Jaroslaw Kaczynski und Bronislaw Komorowski, der als Parlamentspräsident kommissarisch das Amt des Staatsoberhauptes übernommen hatte.
Schon jetzt stehe deshalb ein Ergebnis des Wahlkampfes fest, sagt der Warschauer Politologe Bartlomiej Biskup:
"Die Wahl spitzt sich auf Komorowski und Kaczynski zu. Die beiden liefern sich schon jetzt ein Duell, bei dem Komorowski zurzeit einen Vorsprung von fünf oder zehn Prozent hat. Andere Kandidaten, auch wenn sie früher in Umfragen gar nicht so schlecht lagen, haben keine Chance mehr."
Der Favorit der Umfragen, der 58-jährige Bronislaw Komorowski, präsentiert sich im Wahlkampf als Patriot und treu sorgender Familienvater. In seinen Wahlspots erzählt er die Geschichte seiner Familie und seine eigene Biografie. Vor allem die Zeit des Kommunismus hebt er hervor, als er gegen das Regime kämpfte. Damals saß er insgesamt mehr als ein halbes Jahr im Gefängnis. Der Historiker arbeitete für die unabhängige Gewerkschaft "Solidarnosc" des Arbeiterführers Lech Walesa - unter anderem als wissenschaftlicher Berater.
Komorowski stand – trotz seiner zahlreichen politischen Ämter – nie im Rampenlicht der Öffentlichkeit. In den 1990er-Jahren war er mit liberal-konservativen Parteien verbunden, für die er im Parlament saß. Nur kurz war er Verteidigungsminister in einem konservativen Kabinett. Der Bürgerplattform von Donald Tusk trat er 2001 bei, kurz nach deren Gründung. Er gehört dem konservativen, eher mit der katholischen Kirche verbundenen Flügel der Partei an. Nach der Parlamentswahl 2007, bei der die PO stärkste Kraft wurde, übernahm er das Amt des Parlamentspräsidenten.
In der Partei ist der 58-Jährige beliebt und fest verwurzelt. Die PO hielt Anfang des Jahres zum ersten Mal Vorwahlen ab, bei der ihre Mitglieder den Kandidaten für das Präsidentenamt kürten. Komorowski setzte sich erwartungsgemäß und problemlos gegen Außenminister Radoslaw Sikorski durch.
Doch nach außen sei er blass geblieben und mache einen unselbstständigen Eindruck, sagt der Warschauer Politologe Wojciech Jablonski:
"Premier Donald Tusk war es eigentlich, der die Kandidatur von Komorowski plante. Denn Komorowski ist dem Regierungschef gegenüber loyal und dürfte kaum eine eigene Politik betreiben. In der Bürgerplattform ist es wie in allen polnischen Parteien: Die Vorsitzenden treffen alle wichtigen Entscheidungen."
Während des Hochwassers der vergangenen Wochen wurde dies besonders deutlich: Komorowski hätte alleine die Krisengebiete besuchen können, aber er wartete auf Premier Tusk - und stand daneben, als dieser eine Soforthilfe für die Opfer ankündigte. Als Komorowski wenig später einen neuen Vorsitzenden für die Nationalbank vorschlug, nannte Tusk dies einen mutigen Schritt, der nicht mit ihm abgesprochen gewesen sei.
Jaroslaw Kaczynski dagegen, der andere aussichtsreiche Kandidat, muss seine Selbstständigkeit nicht unter Beweis stellen. Er gilt als Vollblutpolitiker, der mehrere Parteien ins Leben gerufen hat. Mit seinen national-konservativen Ansichten hat er Polen entscheidend geprägt - vor allem in den vergangenen zehn Jahren.
Der 61-Jährige stammt wie Komorowski aus der Solidarnosc-Bewegung der 1980er-Jahre. Als Jurist beriet er die unabhängige Gewerkschaft in Rechtsfragen. Dabei arbeitete er eng mit seinem Zwillingsbruder Lech zusammen, mit dem er zuvor an der Universität Warschau studiert hatte.
Schon damals – so das Solidarnosc-Mitglied Henryk Wujec - zeigte Jaroslaw Kaczynski die Anlagen, die ihm später so oft vorgeworfen wurden:
"Er ist ein sehr misstrauischer Mensch. Deshalb umgibt er sich nur mit wenigen, ganz engen Mitarbeitern. Deren Ansichten spielen keine so große Rolle, Hauptsache, sie sind loyal. Außerdem hatte Jaroslaw Kaczynski schon immer einen Drang zur Macht."
Nach der Wende, 1991, zerstritten sich die Kaczynski-Zwillinge mit Lech Walesa. Sie warfen ihm vor, dass er nicht entschieden genug gegen kommunistische Seilschaften vorgehe - in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Außerdem sperrten sie sich gegen die rasche Privatisierung von Staatsbetrieben.
Erfolg hatte Jaroslaw Kaczynski erst zehn Jahre später. Seine Partei "Recht und Gerechtigkeit", PiS, Gründungsdatum 2001, kam mit ihrem Ruf nach strengeren Gesetzen auf Anhieb ins Parlament. Kein Wunder: Die Vorgängerregierungen, gleich ob links oder rechts, hatten einen Bestechungsskandal an den anderen gereiht.
2005 wurde für Jaroslaw Kaczynski zum Erfolgsjahr. Zuerst bekam die PiS bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen. Und dann gewann sein Bruder Lech auch noch überraschend die Präsidentenwahl. Hinter dem Erfolg stand Jaroslaw, der als genialer Stratege gefeiert wurde.
Wenige Monate später übernahm er auch das Amt des Premierministers. Die Koalitionsverhandlungen mit der Bürgerplattform von Donald Tusk waren da bereits gescheitert. Deshalb schloss sich die PiS mit EU-skeptischen und national-katholischen Parteien zusammen.
Viele Wähler haben Jaroslaw Kaczynski diesen Schwenk nach rechts übel genommen, meint der Soziologe Ireneusz Krzeminski von der Warschauer Universität:
"Jaroslaw Kaczynski hat damals versucht, dem ganzen Land seine Moralvorstellung überzustülpen. Dabei hat er die Menschen in zwei Kategorien geteilt – in die, seiner Ansicht nach, echten Polen und die anderen, seine Feinde. Er vergaß wohl, dass die Polen es nicht ertragen, wenn jemand ihre Freiheit und Individualität einschränken will."
"Moralische Wende" nannte Jaroslaw Kaczynski seine Politik. Er wollte mehrere 100.000 Bürger zwingen, ihre Vergangenheit offen zu legen, darunter auch Journalisten und Universitäts-Dozenten. Denn unter ihnen gebe es immer noch zu viele ehemalige Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes, erklärte er.
In der Außenpolitik warfen Kritiker Jaroslaw Kaczynski vor, zu undiplomatisch, zu aggressiv vorzugehen - vor allem gegenüber den Nachbarländern Deutschland und Russland. Kaczynski beharrte auf einem überproportional großen Einfluss Polens im EU-Rat und hätte so fast den Lissabon-Vertrag verhindert. Er sorgte international mit seinem Argument für Empörung, Polen stünden wegen seiner vielen Kriegstoten mehr Sitze zu als anderen Ländern.
Die Umfragewerte des damaligen Premiers sanken, und schon nach zwei Jahren war die Regierung am Ende. Auslöser waren Streitereien innerhalb der Koalition.
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl 2007 wurde die "Bürgerplattform" stärkste Partei und bildete mit der gemäßigten Bauernpartei PSL die Regierung, die noch heute im Amt ist. In der Opposition beschränkte sich die PiS weitgehend darauf, die Regierung zu kritisieren. Sie unterstützte weiter Präsident Lech Kaczynski, der gegen viele beschlossene Gesetze sein Veto einlegte.
Der verstorbene Präsident zeigte in den beiden vergangenen Jahren, wie weit die Macht des Staatsoberhauptes in Polen geht. Die meisten Gesetze, die er ablehnte, traten nie in Kraft. Denn das Parlament braucht eine Mehrheit von 60 Prozent, um das Veto des Präsidenten zu überstimmen.
Auch in der Außenpolitik setzte Lech Kaczynski Akzente: Er bestand darauf, neben dem Premier an Sitzungen des EU-Rats teilzunehmen. Ganz Europa schüttelte den Kopf, als der Premier ihm die Regierungsmaschine verweigerte, und Lech Kaczynski ein Flugzeug nach Brüssel chartern musste.
Das Verfassungsgericht gab ihm damals jedoch recht. Es entschied, dass der Präsident die Außenpolitik zumindest mitbestimmen darf.
Die beiden wichtigsten Kandidaten, Komorowski und Kaczynski, erklärten den Wählern bisher nicht, wie sie diese Macht ausüben wollen. Wegen des Flugzeugunglücks und des Hochwassers führten sie weitgehend einen Wahlkampf der Symbole.
Allen voran Jaroslaw Kaczynski. Er wandte sich im Internet mit einer Grußbotschaft an die russische Nation und dankte für die Anteilnahme am Tod seines Bruders. Die Geste machte Eindruck, denn er galt ja bisher als scharfer Kritiker des großen Nachbarlandes.
Auch gegenüber seinen Landsleuten schlägt Kaczynski betont versöhnliche Töne an. Ein Schachzug, so der Politologe Bartlomiej Biskup, um das Image des Spalters und Scharfmachers los zu werden:
"Er zeigt, dass er die Gesellschaft nicht mehr teilen, sondern einen will. Das ist eine durchdachte Strategie, die nicht nur seinem Image hilft. Sie bringt ihn auch als Politiker weiter. Denn zu einem bestimmten Grad wird er sich in Zukunft an das halten müssen, was er jetzt sagt."
Symbol-Politik betrieb Jaroslaw Kaczynski auch, indem er sich immer wieder auf das Gedenken an seinen Bruder berief. Seine Anhänger, die Unterschriften für seine Kandidatur sammelten, verteilten dabei Fotos mit dem verstorbenen Präsidentenehepaar. Kritiker warfen dem 61-jährigen deshalb vor, aus der Flugzeugtragödie politisches Kapital zu schlagen.
Um sich - wie Komorowski - als Familienmensch präsentieren zu können, zeigte sich der Junggeselle Kaczynski möglichst viel mit jungen Menschen. Er ließ sich sogar mit den Kindern von Marta Kaczynska fotografieren, der Tochter des verstorbenen Präsidenten.
Zu seinem Programm äußerte sich Jaroslaw Kaczynski erst in den vergangenen Tagen. Dabei präsentierte er sich als Anwalt der sozial Schwächeren. Schon in den vergangenen Jahren gelang es der rechtskonservativen PiS auf diese Weise, viele Menschen an sich zu binden, die früher linke Parteien wählten.
Jaroslaw Kaczynski forderte nun unter anderem auch den Ausbau von Kindergärten und eine kostenlose Universitätsausbildung für alle. Immer wieder verwendet er in seinen Interviews das Wort "Solidarität" und betont die Einigkeit in der Gesellschaft, für die er als Staatsoberhaupt sorgen werde.
Bronislaw Komorowski wirbt dagegen mit den - in seinen Augen - Erfolgen der Regierung. Er schreibt sich und der "Bürgerplattform" eine Politik der Entspannung gegenüber Deutschland und Russland auf die Fahnen. Positiv wertet er weiter die Abschaffung der Wehrpflicht und den Rückzug der polnischen Soldaten aus dem Irak. Des weiteren verweist Komorowski auf das Wirtschaftswachstum, das Polen im vergangenen Jahr notierte - als einziges Land in der Europäischen Union:
"Die Opposition wollte uns dazu treiben, das Haushaltsdefizit zu erhöhen. Das haben wir nicht gemacht, und wir haben recht behalten. Im ersten Quartal 2010 haben wir schon wieder ein Wachstum von drei Prozent erreicht. Wir stehen außerdem dafür, dass die Wirtschaft entbürokratisiert wird. Unternehmen können ihre Steuererklärung im Internet abgeben, dafür haben wir gesorgt."
Trotzdem mache es Komorowski nervös, dass sein Rivale Jaroslaw Kaczynski in den Umfragen aufholt, schreiben polnische Medien. So erklären sie es auch, dass er überraschend das Ende des polnischen Afghanistan-Einsatzes ankündigte, der in der Bevölkerung immer unpopulärer wird.
In einem Radiointerview erklärte der Parlamentspräsident:
"Wir werden es so machen wie mit dem Irak-Einsatz. Da haben wir auch vor der Parlamentswahl versprochen, dass wir uns zurückziehen - und nach dem Wahlsieg haben wir das Versprechen wahr gemacht. Ich will die NATO bis zum Herbst davon überzeugen, dass sie einen Plan für einen Rückzug entwerfen muss. Wenn das nicht geschieht, müssen wir selbstständig handeln - natürlich nicht von heute auf morgen."
Jaroslaw Kaczynski kritisierte Komorowski für diese Aussage im Wahlkampf scharf: Sie stachele die Taliban nur zu weiteren Anschlägen an, warf der Oppositionskandidat dem Parlamentspräsidenten vor.
Damit nahm die politische Debatte nur wenige Tage vor der Wahl endlich an Fahrt auf. Zu einer echten inhaltlichen Auseinandersetzung dürfte es aber erst vor der Stichwahl kommen. Denn, dass Komorowski schon morgen die absolute Mehrheit erreicht, gilt als unwahrscheinlich.
Viel wichtiger als die inhaltlichen Differenzen zwischen den Kandidaten sei aber, dass durch einen Wahlsieg Komorowskis eine neue politische Konstellation entstehen könne, so der Politologe Bartlomiej Biskup:
"Die Bürgerplattform hat in der Regierung bisher nicht viel von dem umgesetzt, was sie versprochen hat. Sie hat das meistens mit dem Widerstand des verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski erklärt. Das wäre mit einem Präsidenten Komorowski nicht mehr möglich."
Vor allem die großen Reformen - Rente, Gesundheit, Staatsfinanzen, die das Land nach Expertenmeinung dringend braucht - sind bisher liegen geblieben.
Aber Komorowski sollte sich, selbst nach einem deutlichen Sieg bei der Wahl morgen, nicht in Sicherheit wiegen. Denn auch vor fünf Jahren führte ein Kandidat der Bürgerplattform - der heutige Premier Donald Tusk - ganz deutlich in den Umfragen und verlor dennoch die Stichwahl gegen Lech Kaczynski. Dessen Berater starteten damals im letzten Moment einen persönlichen Angriff auf Tusk. Sie erklärten, dass dessen Großvater in der Wehrmacht gedient habe. Ein Schlag unter die Gürtellinie, aber mit Erfolg.
Trotz der Trauer nach der Flugzeugkatastrophe schließen Experten nicht aus, dass auch diesmal ein grobes Foul die Präsidentenwahl in Polen entscheiden könnte.
Eigentlich sollte die Wahl erst im Herbst stattfinden. Sie wurde vorgezogen, weil der bisherige Präsident Lech Kaczynski bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Am 10. April stürzte eine Regierungsmaschine vom Typ Tupolew bei Smolensk in Russland ab. Neben dem Präsidenten starben 95 weitere Passagiere, darunter viele Mitarbeiter der Präsidentenkanzlei und Abgeordnete.
Die Delegation war unterwegs zu einer Gedenkfeier: Sie wollte der polnischen Soldaten und Zivilisten gedenken, die vor 70 Jahren in Katyn vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden. Eine Woche lang herrschte in Polen Staatstrauer.
Immer wieder versammelten sich Menschen vor dem Präsidentenpalast in Warschau und stellten Kerzen auf. Sie konnten nicht begreifen, was passiert war. Viele Polen wünschten sich damals, dass der kommende Wahlkampf friedlicher und fairer verlaufen sollte als in früheren Jahren.
"Für mich ist das Unglück ein Zeichen dafür, dass wir Polen einiger werden, dass wir nicht mehr so viel streiten sollen. Unser gemeinsames Gedenken zeigt, dass wir dazu fähig sind."
Doch die Idee, sich gemeinsam auf einen Nachfolger für Lech Kaczynski zu einigen, verwarfen die Parteien. Die Bürgerplattform PO hatte sich schon vor dem Unglück auf Bronislaw Komorowski festgelegt; davon wollte sie nicht abrücken. Alle Augen richteten sich deshalb auf Jaroslaw Kaczynski, den Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten. Und tatsächlich erklärte er seine Kandidatur. Er wolle das Werk seines Bruders fortsetzen, so schwer ihm das im Moment auch falle, erklärte er später:
"Unser Land ist in einer besonders schwierigen Lage. Da müssen wir alle an einem Strang ziehen. Wir Polen haben in unserer Geschichte bewiesen, dass wir das können. Die Solidarität ist unsere große Stärke."
Aber eine politische Debatte kam lange nicht in Gang. Denn zunächst zeigte sich Jaroslaw Kaczynski mehrere Wochen lang nicht in der Öffentlichkeit - weil er immer noch trauere, wie seine Berater erklärten. Da wollten die anderen Kandidaten nicht pietätlos wirken und hielten sich ebenfalls zurück.
Dann kam das Hochwasser. Vier Wochen lang traten die Flüsse im Osten und Westen des Landes über die Ufer. Die Naturgewalt und die Not der Opfer beherrschten die Schlagzeilen. Wenn die Medien ihren Blick auf die Kandidaten richteten, dann nur auf Jaroslaw Kaczynski und Bronislaw Komorowski, der als Parlamentspräsident kommissarisch das Amt des Staatsoberhauptes übernommen hatte.
Schon jetzt stehe deshalb ein Ergebnis des Wahlkampfes fest, sagt der Warschauer Politologe Bartlomiej Biskup:
"Die Wahl spitzt sich auf Komorowski und Kaczynski zu. Die beiden liefern sich schon jetzt ein Duell, bei dem Komorowski zurzeit einen Vorsprung von fünf oder zehn Prozent hat. Andere Kandidaten, auch wenn sie früher in Umfragen gar nicht so schlecht lagen, haben keine Chance mehr."
Der Favorit der Umfragen, der 58-jährige Bronislaw Komorowski, präsentiert sich im Wahlkampf als Patriot und treu sorgender Familienvater. In seinen Wahlspots erzählt er die Geschichte seiner Familie und seine eigene Biografie. Vor allem die Zeit des Kommunismus hebt er hervor, als er gegen das Regime kämpfte. Damals saß er insgesamt mehr als ein halbes Jahr im Gefängnis. Der Historiker arbeitete für die unabhängige Gewerkschaft "Solidarnosc" des Arbeiterführers Lech Walesa - unter anderem als wissenschaftlicher Berater.
Komorowski stand – trotz seiner zahlreichen politischen Ämter – nie im Rampenlicht der Öffentlichkeit. In den 1990er-Jahren war er mit liberal-konservativen Parteien verbunden, für die er im Parlament saß. Nur kurz war er Verteidigungsminister in einem konservativen Kabinett. Der Bürgerplattform von Donald Tusk trat er 2001 bei, kurz nach deren Gründung. Er gehört dem konservativen, eher mit der katholischen Kirche verbundenen Flügel der Partei an. Nach der Parlamentswahl 2007, bei der die PO stärkste Kraft wurde, übernahm er das Amt des Parlamentspräsidenten.
In der Partei ist der 58-Jährige beliebt und fest verwurzelt. Die PO hielt Anfang des Jahres zum ersten Mal Vorwahlen ab, bei der ihre Mitglieder den Kandidaten für das Präsidentenamt kürten. Komorowski setzte sich erwartungsgemäß und problemlos gegen Außenminister Radoslaw Sikorski durch.
Doch nach außen sei er blass geblieben und mache einen unselbstständigen Eindruck, sagt der Warschauer Politologe Wojciech Jablonski:
"Premier Donald Tusk war es eigentlich, der die Kandidatur von Komorowski plante. Denn Komorowski ist dem Regierungschef gegenüber loyal und dürfte kaum eine eigene Politik betreiben. In der Bürgerplattform ist es wie in allen polnischen Parteien: Die Vorsitzenden treffen alle wichtigen Entscheidungen."
Während des Hochwassers der vergangenen Wochen wurde dies besonders deutlich: Komorowski hätte alleine die Krisengebiete besuchen können, aber er wartete auf Premier Tusk - und stand daneben, als dieser eine Soforthilfe für die Opfer ankündigte. Als Komorowski wenig später einen neuen Vorsitzenden für die Nationalbank vorschlug, nannte Tusk dies einen mutigen Schritt, der nicht mit ihm abgesprochen gewesen sei.
Jaroslaw Kaczynski dagegen, der andere aussichtsreiche Kandidat, muss seine Selbstständigkeit nicht unter Beweis stellen. Er gilt als Vollblutpolitiker, der mehrere Parteien ins Leben gerufen hat. Mit seinen national-konservativen Ansichten hat er Polen entscheidend geprägt - vor allem in den vergangenen zehn Jahren.
Der 61-Jährige stammt wie Komorowski aus der Solidarnosc-Bewegung der 1980er-Jahre. Als Jurist beriet er die unabhängige Gewerkschaft in Rechtsfragen. Dabei arbeitete er eng mit seinem Zwillingsbruder Lech zusammen, mit dem er zuvor an der Universität Warschau studiert hatte.
Schon damals – so das Solidarnosc-Mitglied Henryk Wujec - zeigte Jaroslaw Kaczynski die Anlagen, die ihm später so oft vorgeworfen wurden:
"Er ist ein sehr misstrauischer Mensch. Deshalb umgibt er sich nur mit wenigen, ganz engen Mitarbeitern. Deren Ansichten spielen keine so große Rolle, Hauptsache, sie sind loyal. Außerdem hatte Jaroslaw Kaczynski schon immer einen Drang zur Macht."
Nach der Wende, 1991, zerstritten sich die Kaczynski-Zwillinge mit Lech Walesa. Sie warfen ihm vor, dass er nicht entschieden genug gegen kommunistische Seilschaften vorgehe - in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Außerdem sperrten sie sich gegen die rasche Privatisierung von Staatsbetrieben.
Erfolg hatte Jaroslaw Kaczynski erst zehn Jahre später. Seine Partei "Recht und Gerechtigkeit", PiS, Gründungsdatum 2001, kam mit ihrem Ruf nach strengeren Gesetzen auf Anhieb ins Parlament. Kein Wunder: Die Vorgängerregierungen, gleich ob links oder rechts, hatten einen Bestechungsskandal an den anderen gereiht.
2005 wurde für Jaroslaw Kaczynski zum Erfolgsjahr. Zuerst bekam die PiS bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen. Und dann gewann sein Bruder Lech auch noch überraschend die Präsidentenwahl. Hinter dem Erfolg stand Jaroslaw, der als genialer Stratege gefeiert wurde.
Wenige Monate später übernahm er auch das Amt des Premierministers. Die Koalitionsverhandlungen mit der Bürgerplattform von Donald Tusk waren da bereits gescheitert. Deshalb schloss sich die PiS mit EU-skeptischen und national-katholischen Parteien zusammen.
Viele Wähler haben Jaroslaw Kaczynski diesen Schwenk nach rechts übel genommen, meint der Soziologe Ireneusz Krzeminski von der Warschauer Universität:
"Jaroslaw Kaczynski hat damals versucht, dem ganzen Land seine Moralvorstellung überzustülpen. Dabei hat er die Menschen in zwei Kategorien geteilt – in die, seiner Ansicht nach, echten Polen und die anderen, seine Feinde. Er vergaß wohl, dass die Polen es nicht ertragen, wenn jemand ihre Freiheit und Individualität einschränken will."
"Moralische Wende" nannte Jaroslaw Kaczynski seine Politik. Er wollte mehrere 100.000 Bürger zwingen, ihre Vergangenheit offen zu legen, darunter auch Journalisten und Universitäts-Dozenten. Denn unter ihnen gebe es immer noch zu viele ehemalige Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes, erklärte er.
In der Außenpolitik warfen Kritiker Jaroslaw Kaczynski vor, zu undiplomatisch, zu aggressiv vorzugehen - vor allem gegenüber den Nachbarländern Deutschland und Russland. Kaczynski beharrte auf einem überproportional großen Einfluss Polens im EU-Rat und hätte so fast den Lissabon-Vertrag verhindert. Er sorgte international mit seinem Argument für Empörung, Polen stünden wegen seiner vielen Kriegstoten mehr Sitze zu als anderen Ländern.
Die Umfragewerte des damaligen Premiers sanken, und schon nach zwei Jahren war die Regierung am Ende. Auslöser waren Streitereien innerhalb der Koalition.
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl 2007 wurde die "Bürgerplattform" stärkste Partei und bildete mit der gemäßigten Bauernpartei PSL die Regierung, die noch heute im Amt ist. In der Opposition beschränkte sich die PiS weitgehend darauf, die Regierung zu kritisieren. Sie unterstützte weiter Präsident Lech Kaczynski, der gegen viele beschlossene Gesetze sein Veto einlegte.
Der verstorbene Präsident zeigte in den beiden vergangenen Jahren, wie weit die Macht des Staatsoberhauptes in Polen geht. Die meisten Gesetze, die er ablehnte, traten nie in Kraft. Denn das Parlament braucht eine Mehrheit von 60 Prozent, um das Veto des Präsidenten zu überstimmen.
Auch in der Außenpolitik setzte Lech Kaczynski Akzente: Er bestand darauf, neben dem Premier an Sitzungen des EU-Rats teilzunehmen. Ganz Europa schüttelte den Kopf, als der Premier ihm die Regierungsmaschine verweigerte, und Lech Kaczynski ein Flugzeug nach Brüssel chartern musste.
Das Verfassungsgericht gab ihm damals jedoch recht. Es entschied, dass der Präsident die Außenpolitik zumindest mitbestimmen darf.
Die beiden wichtigsten Kandidaten, Komorowski und Kaczynski, erklärten den Wählern bisher nicht, wie sie diese Macht ausüben wollen. Wegen des Flugzeugunglücks und des Hochwassers führten sie weitgehend einen Wahlkampf der Symbole.
Allen voran Jaroslaw Kaczynski. Er wandte sich im Internet mit einer Grußbotschaft an die russische Nation und dankte für die Anteilnahme am Tod seines Bruders. Die Geste machte Eindruck, denn er galt ja bisher als scharfer Kritiker des großen Nachbarlandes.
Auch gegenüber seinen Landsleuten schlägt Kaczynski betont versöhnliche Töne an. Ein Schachzug, so der Politologe Bartlomiej Biskup, um das Image des Spalters und Scharfmachers los zu werden:
"Er zeigt, dass er die Gesellschaft nicht mehr teilen, sondern einen will. Das ist eine durchdachte Strategie, die nicht nur seinem Image hilft. Sie bringt ihn auch als Politiker weiter. Denn zu einem bestimmten Grad wird er sich in Zukunft an das halten müssen, was er jetzt sagt."
Symbol-Politik betrieb Jaroslaw Kaczynski auch, indem er sich immer wieder auf das Gedenken an seinen Bruder berief. Seine Anhänger, die Unterschriften für seine Kandidatur sammelten, verteilten dabei Fotos mit dem verstorbenen Präsidentenehepaar. Kritiker warfen dem 61-jährigen deshalb vor, aus der Flugzeugtragödie politisches Kapital zu schlagen.
Um sich - wie Komorowski - als Familienmensch präsentieren zu können, zeigte sich der Junggeselle Kaczynski möglichst viel mit jungen Menschen. Er ließ sich sogar mit den Kindern von Marta Kaczynska fotografieren, der Tochter des verstorbenen Präsidenten.
Zu seinem Programm äußerte sich Jaroslaw Kaczynski erst in den vergangenen Tagen. Dabei präsentierte er sich als Anwalt der sozial Schwächeren. Schon in den vergangenen Jahren gelang es der rechtskonservativen PiS auf diese Weise, viele Menschen an sich zu binden, die früher linke Parteien wählten.
Jaroslaw Kaczynski forderte nun unter anderem auch den Ausbau von Kindergärten und eine kostenlose Universitätsausbildung für alle. Immer wieder verwendet er in seinen Interviews das Wort "Solidarität" und betont die Einigkeit in der Gesellschaft, für die er als Staatsoberhaupt sorgen werde.
Bronislaw Komorowski wirbt dagegen mit den - in seinen Augen - Erfolgen der Regierung. Er schreibt sich und der "Bürgerplattform" eine Politik der Entspannung gegenüber Deutschland und Russland auf die Fahnen. Positiv wertet er weiter die Abschaffung der Wehrpflicht und den Rückzug der polnischen Soldaten aus dem Irak. Des weiteren verweist Komorowski auf das Wirtschaftswachstum, das Polen im vergangenen Jahr notierte - als einziges Land in der Europäischen Union:
"Die Opposition wollte uns dazu treiben, das Haushaltsdefizit zu erhöhen. Das haben wir nicht gemacht, und wir haben recht behalten. Im ersten Quartal 2010 haben wir schon wieder ein Wachstum von drei Prozent erreicht. Wir stehen außerdem dafür, dass die Wirtschaft entbürokratisiert wird. Unternehmen können ihre Steuererklärung im Internet abgeben, dafür haben wir gesorgt."
Trotzdem mache es Komorowski nervös, dass sein Rivale Jaroslaw Kaczynski in den Umfragen aufholt, schreiben polnische Medien. So erklären sie es auch, dass er überraschend das Ende des polnischen Afghanistan-Einsatzes ankündigte, der in der Bevölkerung immer unpopulärer wird.
In einem Radiointerview erklärte der Parlamentspräsident:
"Wir werden es so machen wie mit dem Irak-Einsatz. Da haben wir auch vor der Parlamentswahl versprochen, dass wir uns zurückziehen - und nach dem Wahlsieg haben wir das Versprechen wahr gemacht. Ich will die NATO bis zum Herbst davon überzeugen, dass sie einen Plan für einen Rückzug entwerfen muss. Wenn das nicht geschieht, müssen wir selbstständig handeln - natürlich nicht von heute auf morgen."
Jaroslaw Kaczynski kritisierte Komorowski für diese Aussage im Wahlkampf scharf: Sie stachele die Taliban nur zu weiteren Anschlägen an, warf der Oppositionskandidat dem Parlamentspräsidenten vor.
Damit nahm die politische Debatte nur wenige Tage vor der Wahl endlich an Fahrt auf. Zu einer echten inhaltlichen Auseinandersetzung dürfte es aber erst vor der Stichwahl kommen. Denn, dass Komorowski schon morgen die absolute Mehrheit erreicht, gilt als unwahrscheinlich.
Viel wichtiger als die inhaltlichen Differenzen zwischen den Kandidaten sei aber, dass durch einen Wahlsieg Komorowskis eine neue politische Konstellation entstehen könne, so der Politologe Bartlomiej Biskup:
"Die Bürgerplattform hat in der Regierung bisher nicht viel von dem umgesetzt, was sie versprochen hat. Sie hat das meistens mit dem Widerstand des verstorbenen Präsidenten Lech Kaczynski erklärt. Das wäre mit einem Präsidenten Komorowski nicht mehr möglich."
Vor allem die großen Reformen - Rente, Gesundheit, Staatsfinanzen, die das Land nach Expertenmeinung dringend braucht - sind bisher liegen geblieben.
Aber Komorowski sollte sich, selbst nach einem deutlichen Sieg bei der Wahl morgen, nicht in Sicherheit wiegen. Denn auch vor fünf Jahren führte ein Kandidat der Bürgerplattform - der heutige Premier Donald Tusk - ganz deutlich in den Umfragen und verlor dennoch die Stichwahl gegen Lech Kaczynski. Dessen Berater starteten damals im letzten Moment einen persönlichen Angriff auf Tusk. Sie erklärten, dass dessen Großvater in der Wehrmacht gedient habe. Ein Schlag unter die Gürtellinie, aber mit Erfolg.
Trotz der Trauer nach der Flugzeugkatastrophe schließen Experten nicht aus, dass auch diesmal ein grobes Foul die Präsidentenwahl in Polen entscheiden könnte.