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Stimmung im Bundestagswahlkampf
"'Weiter so' in der Großen Koalition"

Ein Kanzlerkandidat ohne Charisma, Konsensrealität statt Opposition, die Bevölkerung sediert: Das Land habe sich sehr bequem in der Koalition eingerichtet, sagte der Historiker Jens Hacke im Dlf. Das könne dazu führen, dass kleinere Parteien Boden gut machen - und es letzten Endes doch bei der Großen Koalition bleibt.

Jens Hacke im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Wahlplakate der CDU mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der SPD mit Spitzenkandidat Martin Schulz sind am 09.08.2017 vor dem Kaufhaus des Westens oder KaDeWe zu sehen.
    Friede, Freude, Eierkuchen? Wahlplakate der CDU mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der SPD mit Spitzenkandidat Martin Schulz. (dpa / picture alliance / Christina Peters)
    Jasper Barenberg: Mag ja sein, dass da noch etwas kommt, im Augenblick aber sieht es eben nicht danach aus, nicht nach einem spannenden Bundestagswahlkampf. Auf der einen Seite müht sich mit Martin Schulz ein Herausforderer für die SPD, der kurz auf Augenhöhe mit Kanzlerin und Union war, für den es aber danach, in den Umfragen zumindest, wieder rasant bergab ging, und auf der anderen Seite lächelt Angela Merkel auf Plakaten für ein Deutschland, Zitat: "In dem wir gut und gerne leben". Am Telefon ist der Historiker und Politikwissenschaftler Jens Hacke. Schönen guten Morgen!
    Jens Hacke: Guten Morgen, Herr Barenberg!
    SPD: "Wahrscheinlich etwas früh ihre ganze Euphorie gezündet"
    Barenberg: Herr Hacke, nicht heiß, nicht kalt, nicht einmal lau ist die Temperatur. Ist das Temperament des Wahlkampfs bis jetzt damit ganz gut beschrieben?
    Hacke: Ja, man hat so das Gefühl, dass der Wahlkampf sich dem Sommerwetter anpasst, zumindest im Norden der Republik, und man kann auch glauben, dass die SPD wahrscheinlich etwas früh ihre ganze Euphorie gezündet hat, nämlich schon im Februar. Dabei weiß ja jeder, dass es dann noch ein langer Weg bis zum September ist, und allgemein kann man darüber rätseln, warum das so ist, denn Probleme gibt es, weiß Gott, genug, aber anscheinend will keine rechte Stimmung für diesen Wahlkampf aufkommen.
    Acht Jahre Konsensrealität
    Barenberg: Mein Kollege Heribert Prantl von der "SZ" hat geschrieben: "Wahlkampf ist gar nicht." Windstille hat er das genannt zwischen den Legislaturperioden. Mehr ist nicht – woran liegt das?
    Hacke: Vielleicht hat sich das Land doch sehr bequem in der Großen Koalition eingerichtet. Das, was früher in den 60er-Jahren als großer Ausnahmezustand galt und in dem es dann eine wirklich wirksame außerparlamentarische Opposition gab, das ist jetzt zu einer Konsensrealität geworden. Wir wissen ja, dass wir in den letzten acht von zwölf Jahren von einer Großen Koalition regiert worden sind, und das macht es für die SPD natürlich auch schwierig, eine wirkliche Alternative anzubieten, denn die SPD ist ja mitverantwortlich gewesen die meiste Zeit und hat das Meiste mitgetragen. Insofern wirkt das alles etwas ohne Biss, was da angeboten wird.
    "Vieles versucht und nichts so recht zündet"
    Barenberg: Ohne Biss sagen Sie. Viele Beobachter oder die meisten sind sich ja einig, da rackert sich Martin Schulz ab, da legt die SPD ein Papier nach dem anderen vor zu wichtigen, zu entscheidenden, zu zentralen Themen und keines zündet. Liegt das möglicherweise daran, dass die SPD nicht genug wagt, wenn Sie sagen, da fehlt so ein bisschen der Biss?
    Hacke: Sie wagt nicht genug, sie hat zwar die richtige Idee gehabt, mit Martin Schulz jemanden anzubieten, der nun nicht mit der Regierung identifiziert wird, aber natürlich ist Martin Schulz nicht der Charismatiker, den wir in Macron oder in anderen Wahlkämpfen jetzt in Europa sehen, und insofern kann sie einem einfach schon ein bisschen leidtun, weil sie vieles versucht und nichts so recht zündet. Man muss auch sagen, man staunt darüber, dass die Bürger in einer Zeit, in der es genügend Probleme gibt, sich gerne die Sedative verabreichen lassen, die die Kanzlerin ihnen anbietet.
    "Sich die Bevölkerung am liebsten in einem Weiter so einrichtet"
    Barenberg: Das ist ja wirklich ein allgemeines Staunen, wenn wir daran denken, dass es allein in der Innenpolitik genug brisante Themen gibt: prekäre Beschäftigung, Leiharbeit, Zukunft der Rente, Integration von Flüchtlingen als Riesenherausforderung für dieses Land, Rückstand bei der Digitalisierung. Da gibt es ja einiges, mal ganz abgesehen von den großen außenpolitischen Krisen, von dem Umstand, dass Europa in einem jämmerlichen Zustand dasteht. Sie haben eben gesprochen von einer Gesellschaft, die sich in der Konsensdemokratie eingerichtet hat. Liegt es nun eher an der Ununterscheidbarkeit der politischen Angebote oder liegt es eben doch darin, dass wir alle relativ zufrieden mit dem sind, wie es ist und dann ein Weiter so eben genug ist?
    Hacke: Man hat das Gefühl, dass sich ein Großteil der Bevölkerung gerne betäuben lässt. Wenn man anguckt, welche Szenarien wir im Moment zu vergegenwärtigen haben, ob nun die Flüchtlingskrise, die ja beileibe noch nicht vorbei ist und die immer noch an den Toren Europas droht und für die dringend Lösungen gefunden werden müssen, dann ist das ein Punkt, aber auch die internationale Konstellation, nicht nur Europa, sondern auch die ganzen etwas irrlichternden Aktivitäten des amerikanischen Präsidenten, die ja die Weltpolitik unmittelbar betreffen, all das wird vergleichsweise wenig zum Thema gemacht. Nun ist es immer so gewesen, dass die Außenpolitik sich schlecht für den Wahlkampf eignet, abgesehen vielleicht von den 80er-Jahren, als es um die Nachrüstung ging, aber trotzdem ist es merkwürdig, dass das größte Thema für den Deutschen zu sein scheint, was mit seinem Diesel passiert, und dass die Themen, die uns in den letzten zwei Jahren bewegt haben, auf einmal so verschwinden. Selbst das Diesel-Thema würde sich ja dafür eignen, wirklich über Alternativen nachzudenken, Alternativen der Mobilität, aber man hat das Gefühl, dass sich die Bevölkerung am liebsten in einem Weiter so einrichtet, und das macht es für die großen Parteien schwer. Was jetzt drohen könnte, oder nicht drohen könnte, aber was jetzt ein neues Szenario sein könnte: Im Februar, März hat man noch gedacht, die kleineren Parteien werden marginalisiert, aber dass vielleicht die kleineren Parteien in den letzten Wochen noch Boden gut machen werden und dass die sogenannten Volksparteien, wenn man die SPD noch als solche bezeichnen will, dass die darunter leiden werden, wenn die Wahlbeteiligung gering sein wird und dass wir dann vor relativ neuen und schwierigen Zuständen stehen, was die Koalitionsbildung angeht.
    "Wenn beide Parteien natürlich verlieren, erstarken die anderen"
    Barenberg: Schwierige Zustände, das ist eine Möglichkeit. Eine andere, die Sie gerade andeuten, wenn ich es richtig verstehe, dass es dann noch übersichtlicher werden könnte im Bundestag und die Dominanz der Großen Koalition noch größer werden könnte.
    Hacke: Ja, aber wenn beide Parteien natürlich verlieren, erstarken die anderen. Dann würde man in die nächste Legislaturperiode als Große Koalition gehen. Das hat Martin Schulz ja auch angedeutet. Man weiß zwar nicht so recht, wie er das unter seiner Führung hinbekommen möchte, wie er im Sonntagsgespräch gesagt hat, aber natürlich, das wäre dann vielleicht ein Szenario, ein Weiter so in der Großen Koalition, was man als Beobachter doch als großen Nachteil, wenn nicht als verheerend empfinden würde, weil sich dann wirklich wahrscheinlich bei nächsten Krisen große Probleme zeigen würden.
    "Im derzeitigen AfD-Zustand wird nicht das Schlimmste eintreten"
    Barenberg: Das heißt, was Sie sagen, ist, dass dieses Einrichten in den Verhältnissen und der Umstand, dass Angela Merkels Motto von vier Jahren - "Sie kennen mich" - wo alle gesagt haben, das reicht dieses Mal auf keinen Fall, wenn das doch reichen sollte, dass das auch Kosten haben wird, die wir dann in den Jahren danach zu spüren bekommen?
    Hacke: Das glaube ich ganz bestimmt, denn wo keine Ideen diskutiert werden, wo nicht über alternative Zukunftsentwürfe geredet wird, da braut sich immer etwas zusammen, und das können wir beobachten in Europa, dass dann der Trend ins Abstruse wächst, dass dann wirklich auch Regressionen zu erwarten sind – Nationalismus, Verschwörungstheorien –, dass dann überwunden Geglaubtes wieder zum Vorschein kommt. Nun können wir wahrscheinlich erwarten, dass im derzeitigen Zustand der AfD da nicht das Schlimmste eintreten wird, was wir noch vor einem Jahr befürchten mussten, aber wenn wir weiter eine derart ruhige Politik erleben, in der der Bürger eigentlich sich so in seiner passiven Konsumhaltung eingerichtet hat und auch nichts mehr verändern will und überhaupt sich gar keine andere Zukunft vorstellen kann, keine Probleme angehen möchte und auch nicht neugierig darauf ist, was man politisch gestalten kann, dass das Rückschläge geben kann.
    "Werden uns auf Paradigmenwechsel einzurichten haben"
    Barenberg: Aber das spricht ja möglicherweise auch darauf, dass die Politik auf sich, die Politik als Verwaltung der Verhältnisse so lange eben funktioniert und so lange auch die dominante Erscheinung ist, bis es wieder neue Probleme, neue Herausforderungen ganz unmittelbar gibt, und dann setzt auch wieder eine gesellschaftliche Debatte ein. Also ist das kritisch zu sehen, was wir im Moment erleben oder können wir ruhig abwarten, bis sich die Zeiten wieder ändern?
    Hacke: Ich glaube schon, dass es einen Zustand im Moment erreicht, der kritischer ist. Also die internationale Lage haben wir kurz angedeutet, aber auch, was die Umweltproblematik angeht, was die Sicherheit in Europa angeht. Wir werden – und das zeigen ja auch die intellektuellen Debatten – uns auf wirkliche Paradigmenwechsel einzurichten haben, denn es ist ja ganz merkwürdig: Die Befunde der Intellektuellen sind alarmistischer, man spricht von großer Regression, man spricht von einem Ende des Weiter so, ist ganz frustriert, dass nichts passiert, wenn die Bevölkerung, zumindest in Deutschland, darauf gar nicht besonders zu achten scheint und eigentlich in dem Bewusstsein lebt, mit Angela Merkel sich Komfort und Bequemlichkeit für die nächsten vier Jahre zu sichern.
    "Geschlossenheit kann der Union noch auf die Füße fallen"
    Barenberg: Und wird es dann, sollte es so kommen und Angela Merkel wieder Bundeskanzlerin werden, wird es dann unmittelbar danach im Grunde anfangen, was einige Beobachter jetzt auch schon erwarten, dass dann die großen Debatten beginnen, nämlich mit dem Tenor, was kommt nach Angela Merkel?
    Hacke: Das glaube ich ganz bestimmt, und es ist ja auch kein Geheimnis, dass die CDU sehr, sehr stark von der Kanzlerin lebt. Wir erinnern uns an die 90er- oder Nullerjahre, wo bestimmt sechs bis sieben Ministerpräsidenten in Wartestellung waren, wo die Landespolitik immer die Startrampe war für eine bundespolitische Karriere oder zumindest die Ambitionen geäußert wurden, und da haben wir ja eine Stille und eine Ruhe in der Partei, wie wir sie unter Kohl nie erleben konnten, und insofern darf sich die CDU wahrscheinlich nicht so sicher wähnen, wie sie das im Augenblick tut aus eigenem Interesse, aber man ist da, glaube ich, ganz zufrieden, dass man Herrn Seehofer wenigstens vorübergehend pazifiziert hat, dass alles ruhig bleibt und dass in dieser Geschlossenheit, wie man das gerne nennt, dann das Erfolgsrezept liegt, aber ich glaube, das kann der Union dann noch auf die Füße fallen, wenn es wirklich um die Zeit nach Angela Merkel geht.
    Barenberg: Sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Jens Hacke. Danke für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk!
    Hacke: Ich danke Ihnen, Herr Barenberg!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.