Änne Seidel: Jedes neue Buch ist wie eine neue Welt – das sagt die Übersetzerin Olga Radetzkaja. Und sie muss es wissen, denn sie ist in ihrem Leben schon in so einige Welten eingetaucht. In die Welten von Schriftstellern wie Lew Tolstoi, Vladimir Sorokin oder Maria Stepanova, deren Werke sie aus dem Russischen ins Deutsche übertragen hat. Morgen wird Olga Radetzkaja mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet. Ein Ritterschlag, könnte man sagen, denn der Preis ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für Übersetzer im deutschsprachigen Raum.
Olga Radetzkaja erhält diesen Preis zum einen für ihr Lebenswerk, zum anderen aber auch ganz konkret für ihre Übersetzung von Viktor Schklowskijs Roman "Sentimentale Reise". Dieses Buch spielt in den Jahren nach der Russischen Revolution von 1917, 1923 ist es erstmals erschienen. Ich habe Olga Radetzkaja vorhin zunächst mal gefragt: Was ist das also für eine Welt, in die uns der Autor Viktor Schklowskij da mitnimmt?
Olga Radetzkaja: Das ist ein unglaublicher Ereigniswirbel, in den er einen mitnimmt. Der Zeitraum, den das Buch umfasst, ist 1917 bis 1922. Und in diesem Zeitraum passiert alles das, wovon wir wissen, dass es passiert. Aber man kriegt es selten in dieser Dichte präsentiert. Er steigt ein – da ist er im Ersten Weltkrieg – als Armeekommissar, zunächst mal als Ausbilder in einem Panzerwagen-Bataillon. Und dann, nach der Februar-Revolution, an der er aktiv sich beteiligt, ist er Kommissar der Revolutionsregierung an der Front in Galizien und dann in Persien. Dann kommt die Oktober-Revolution; dann geht er erst mal in den Untergrund, weil er mit dieser Oktober-Revolution im Gegensatz zur ersten Februar-Revolution nichts anfangen kann, sehr dagegen ist. Er schlägt sich durch, reist unglaublich viel herum, landet dann wieder in Petersburg. Gleichzeitig, parallel dazu, arbeitet er immer an seiner Literaturtheorie, denn sein erster Beruf ist Literaturwissenschaftler.
Seidel: Das Buch ist ja autobiografisch gefärbt, das muss man vielleicht dazu sagen. Viktor Schklowskij war selbst Revolutionär. Was bedeutet das für Ihre Arbeit als Übersetzerin? Wie haben Sie sich dem Autor und seinem Leben genähert?
Radetzkaja: Das bedeutet weniger wegen des Autobiographischen, sondern vielleicht wegen dieses Faktenhintergrunds. Man muss wahnsinnig viel recherchieren bei diesem Buch, weil unglaublich viel historisches Geschehen da verarbeitet ist, aber oft in sehr knapper Weise. Das heißt, man muss sich den ganzen Hintergrund anlesen und ihn wissen, ohne ihn dann natürlich hinterher im Buch zu erwähnen.
Viel Recherche
Seidel: Es ist ja ein Russland, das wir hier in Deutschland heute nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen, über das Schklowskij da schreibt - wenn überhaupt wir es noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Das heißt: Es ging für Sie nicht nur darum, von einer Sprache in die andere zu übersetzen, sondern Sie mussten die Geschichte auch aus einer anderen Zeit ins Hier und Jetzt holen. Wie haben Sie das gemacht?
Radetzkaja: Wie gesagt: Recherche ist ein wichtiger Punkt. Und das Lebensgefühl, das Schklowskij speziell transportiert, das läuft eigentlich über die Sprache, über die spezifische sprachliche Form, die er dem Ganzen gibt. Das ist eine ungeheuer knappe, mit sehr viel Luft zwischen kurzen Sätzen. In diesen Pausen sozusagen baut sich eine wahnsinnige Spannung auf. Ich hoffe, dass es gelungen ist, das rüberzubringen. Die andere Sache war natürlich, dass wir einen großen Anmerkungsapparat gemacht haben, um dem Leser, der es genauer wissen will, zu ermöglichen, sich das dann zu holen, dieses Wissen, das ihm da fehlt.
Zwischen den Zeilen übersetzen
Seidel: Das heißt aber, wenn ich Sie richtig verstehe, dass Sie auch das übersetzen mussten, was zwischen den Zeilen gesagt wird: diese Spannung, von der Sie gerade sprachen. Wie macht man das? Wie übersetzt man etwas, das zwischen den Zeilen passiert?
Radetzkaja: Man übersetzt es nicht wirklich, aber man denkt es mit beim Übersetzen. Es ist ungemein schwierig – tatsächlich. Ich dachte das nicht, dass es so schwierig sein würde, diese Knappheit so zu formen in einer anderen Sprache, dass sie nicht flach wirkt. Ich habe sehr viel gearbeitet an den Reihenfolgen der Wörter und den Informationen in einem Satz oder in einem Absatz. Man kann sich das vorstellen, wie wenn Sie eine Brücke bauen. Dann ist es ganz wichtig: Über diese Leere, damit das hält, sind diese beiden Punkte, wo die Brücke ansetzt, ganz wichtig.
Seidel: Der Ton des Buches ist trotz des ernsten Themas ja durchaus ein ironischer. Geht das überhaupt, Ironie von einer Sprache in die andere zu übersetzen?
Radetzkaja: Selbstverständlich geht das. Warum soll das nicht gehen?
Seidel: Ich stelle es mir wahnsinnig schwierig vor. Ironie ist ja immer verbunden mit kultureller Prägung und auch mit der Sprache an sich, oder?
Radetzkaja: Ja. Aber das gilt für sehr viele andere Dinge auch. Auch für eine traurige Stimmung, auch für Gemütlichkeit oder Aggression. Die sind alle sprachlich geformt, wenn sie uns in einem Text begegnen. Also hat man diese Schwierigkeit eigentlich immer. Und solange man nicht etwas transportieren muss, was es in der anderen Kultur einfach gar nicht gibt, gibt es immer Wege, das zu tun.
"Wie Russland hätte anders werden können"
Seidel: Verrät uns dieses Buch irgendetwas über das heutige Russland? Kann es vielleicht helfen, aktuelle politische Entwicklungen besser zu verstehen?
Radetzkaja: Es gibt einem vor allem einen Eindruck davon, wie Russland hätte anders werden können. Denn Schklowskij ist ein Sozialrevolutionär. Ihm liegt unglaublich viel an sozialer Gerechtigkeit. Er engagiert sich ganz aktiv in dieser Februar-Revolution. Aber er ist gleichzeitig wirklich ein Liberaler: jemand, dem Freiheit enorm wichtig ist.
Dazu kommt, dass er, wiewohl er Literaturwissenschaftler ist, gleichzeitig einen unglaublich direkten Zugriff auf die materielle Welt hat. Er ist Ausbilder in diesem Panzerwagen-Bataillon nicht zufällig, sondern er hat wirklich eine Leidenschaft für Motoren, für Fahrzeuge. Und er schildert stellenweise in diesem Buch, wie dieses revolutionäre Russland dann nach der Oktober-Revolution unter den Bolschewiki, wie diese ganze materielle Kultur den Bach runtergeht. Wie mutwillig oder einfach fahrlässig Fabriken zerstört werden, weil man einfach die Maschinen falsch behandelt und auch Motoren und so weiter. Das tut ihm richtig weh! Und über diesen Weg kriegt man den Eindruck davon, wie sich Russland hätte anders entwickeln können, wenn diese Seite der revolutionären Bewegung sich durchgesetzt hätte. Das ist unglaublich interessant! Ich fand es auch sehr befruchtend für den heutigen Blick auf Russland, eben dieses "es ist nicht zwangsläufig so, wie es jetzt ist".
Seidel: Sie übersetzen ja auch zeitgenössische russische Literatur ins Deutsche, zum Beispiel von Maria Stepanowa. Wie ist Ihr Eindruck: Wie groß ist das Interesse des deutschen Buchmarkts, des deutschen Publikums an der aktuellen russischen Literatur?
Radetzkaja: Ich kann das nicht so richtig objektiv beurteilen. Mein Eindruck ist, dass es immer noch relativ groß ist. Russisch gehört nicht zu den größten Übersetzungssprachen, aber es wird schon immer noch relativ viel übersetzt. Es gibt diese Erwartung, dass man von der zeitgenössischen russischen Literatur ein Bild von dem anderen, dem nicht offiziellen Russland vermittelt bekommt. Und das stimmt natürlich auch, denn dieser Bereich ist immer noch ziemlich frei in Russland. Im Unterschied zum Beispiel zu den Medien, wo die unabhängigen Medien mehr und mehr in die Enge gedrängt werden und es kaum noch eine unabhängige Berichterstattung wirklich gibt, ist dieser literarische Bereich, die Verlage: Da ist immer noch viel Freiheit und Vielfalt eigentlich vorhanden. Und das bildet sich in dem, was hier übersetzt wird, schon auch ab.
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