Eigentlich hatte ich es mir alles viel dramatischer vorgestellt, als ich dieses Treffen vereinbart habe: Ich besuche einen Zürcher Studenten, der bei sich zuhause einen illegalen Flüchtling versteckt. Aber die Haustür ist offen, ich gehe das Treppenhaus hoch, klingele – und ohne jede Vorsichtsmaßnahme geht die Tür auf. Ähnlich schnell ging es wohl auch vor einem halben Jahr.
"Mir war es sofort klar. Ich wusste, dass ein großes Risiko dabei ist. Aber für mich war es nicht so, dass ich gedacht habe: Jetzt muss ich mich genau informieren über das Strafmaß – und falls es zu hoch ist, dann gehe ich es nicht ein. Sondern: Er ist da – also mache ich es."
Die beiden kannten sich schon, wenn auch mehr vom Sehen. Beide sind 29. Der Student engagiert sich ehrenamtlich, dabei ist ihm der Flüchtling schon mal begegnet. Inoffiziell, denn er hat keine Papiere. Er kann in der Schweiz auch kein Asyl beantragen, weil er aus einem Land in Afrika stammt, das als sicher gilt, obwohl er selbst dort politisch verfolgt wurde.
"... weil er jedes Mal sein Leben riskiert, wenn er rausgeht"
Wir sitzen heute nur zu zweit in der kleinen Küche, denn wir führen das Gespräch absichtlich jetzt, wo sein Gast mal für eine Woche auf dem Land ist. Um ihn durch das Interview nicht in Gefahr zu bringen. Neben der Küche gibt es in der Wohnung noch zwei weitere kleine Kammern. Mir scheint es recht eng für zwei – zumal, wenn der eine eigentlich nicht aus dem Haus kann.
"Sobald man eng zusammenlebt, wird es schwierig. Ob er jetzt Ausländer ist oder Schweizer – das macht keinen Unterschied. Ich hatte vielleicht zu viele Wünsche, wie man zusammenlebt. Ich habe versucht, nicht zu bestimmen, was die Regeln sind, nur weil das meine Wohnung ist. Was schwierig war für mich zu akzeptieren, dass er oft hier war, Computerspiele gemacht hat und nicht rausgegangen ist, um verschiedene Sachen zu probieren, um sein Leben zu verbessern. Aber das ist natürlich auch viel verlangt von mir, weil er jedes Mal sein Leben riskiert, wenn er rausgeht."
Ab und zu nimmt er ihn mit, wenn er selbst rausgeht, um sich mit Freunden zu treffen. Die Nervosität aber mache sich dann auch bei ihm bemerkbar, erzählt er. Seinem Gast ist das vertraut.
"Er hat mir einfach erzählt, dass wenn die Polizei kommt und an ihm vorbeifährt, dass er meist vom Fahrrad absteigt und zu Fuß geht oder eine Zigarette raucht. Ich weiß es nicht so genau, auf jeden Fall fühlt er sich oft unsicher auf der Straße. Ich kann mir das gut vorstellen: Irgendwann kommt man in so einen paranoiden Zustand."
Tatsächlich könnte die Polizei seinen Gast von der Straße weg verhaften und abschieben lassen. Was ihm selbst dann für eine Strafe droht, will er gar nicht wissen. Spielt nicht so eine Rolle, findet er. Schließlich habe er einen Schweizer Pass, und das Schlimmste, was ihm passieren könne, sei eine kurze Haftstrafe. Und selbst das sei unwahrscheinlich. Tatsächlich ist die Rechtslage unklar: Solange kein Geld fließt, droht wohl keine schwere Verurteilung. Aber schon eine vorsätzliche "Erleichterung illegalen Aufenthalts" ist strafbar. Andererseits muss sich keine Privatperson, die einen Gast aufnimmt, dessen Ausweis zeigen lassen. Schwieriger für ihn war, dass er sich am Anfang so verantwortlich gefühlt hat für seinen Gast. – auch wenn die beiden gleich alt sind.
"Am Anfang habe ich mich vielleicht mehr verhalten wie ein Vater: Ich muss schauen, dass er gute Sachen macht, dass er Deutsch lernt. Aber mit der Zeit dachte ich auch: Er darf doch das machen, was er möchte."
Noch ist nicht klar, wie lange der Flüchtling bei ihm wohnen wird. Wie sollte man das auch festlegen? Eine rhetorische Frage. Natürlich. Trotzdem frage ich ihn, ob es ihm nicht auch mal zu viel wird. An Risiko, an Verantwortung, oder einfach im Alltag.
"Es gibt immer eine Grenze. Aber was das genau bedeutet, verändert sich ja. Ich versuche auch immer, die Sachen zu hinterfragen, weil oft sind die ja blödsinnig. Keine Ahnung. Zum Beispiel hat er öfters mal meine Schuhe genommen und da dachte ich: Warum hat er meine Schuhe genommen? Aber es ist doch scheißegal. Eigentlich. Weil ihm gefallen meine Schuhe, das ist doch cool. Das ist doch eigentlich kein großes Ding. Ich habe sie auch ab und zu getragen, wenn ich sie gebraucht habe. Ich denke, dass sich diese Grenze auch entwickelt. Ich versuche immer wieder herauszufinden, wo die ist."