Seit Monaten beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit einem Verfahren vor dem Landgericht Freiburg. Eine junge Frau soll im Oktober 2018 in einer Diskothek mit K.-o.-Tropfen betäubt und anschließend draußen in einem Gebüsch von mehreren Männern vergewaltigt worden sein.
Vor Gericht geht es oft um die Glaubwürdigkeit des Opfers
Gerichtsverfahren, bei denen es um Sexualstraftaten geht, sind häufig langwierig. Die Beweislage ist dünn. Oft steht die Aussage der Betroffenen gegen die Aussage der Angeklagten, weil es kaum Beweise oder andere Zeuginnen und Zeugen gibt. Vor Gericht geht es letztlich fast immer um die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers. Was passiert, wenn sich die Geschädigten kaum noch an Details erinnern, weil die K.-o.-Tropfen ihre Erinnerung beeinträchtigen?
Saal 130 im Amtsgericht Neuss ist zu klein. Fünf Gutachter, zwei Staatanwälte, zwei Nebenklagevertreterinnen quetschen sich dichtgedrängt auf die Bank vor dem Richterpult. Auf der anderen Seite des Saals sitzen fünf Angeklagte mit jeweils mindestens zwei Verteidigern, auch sie haben kaum Platz. Beim Prozessauftakt am Freitag geht es um insgesamt fünf Anklagepunkte, darunter zwei mutmaßliche Gruppenvergewaltigungen. Von den zum Tatzeitpunkt 24- bis 29-jährigen Männern aus Moers, Krefeld, Wesel und Dinslaken sollen vier im Februar eine 20-jährige Frau und drei von ihnen im März eine 21-Jährige vergewaltigt haben, sagt Gerichtssprecher Alexander Lembke:
"Die Angeklagten sollen in wechselnder Tatzusammensetzung im Frühjahr dieses Jahres in zwei Fällen Frauen in eine Wohnung nach Krefeld gelockt haben, ihnen dort körperfremde Substanzen verabreicht haben und sie so in einen handlungsunfähigen und willenlosen Zustand zu versetzen. Anschließend sollen die Männer die Frauen dann zum Teil über mehrere Stunden hin vergewaltigt haben und davon dann auch Filmaufnahmen gefertigt haben."
Im ersten Fall sollen sie der Frau K.-o.-Tropfen in ihr Glas mit Wodka Energy gefüllt haben. Die Frau sei laut Anklageschrift müde geworden und erinnere sich an nichts von dem, was in den Stunden danach geschah. In beiden Fällen zeigten jedoch mehrere Videos, wie die Angeklagten die Frauen teilweise besonders brutal vergewaltigten und erniedrigten. Die Männer sind ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung und der Filmaufnahmen, die sie von den Frauen anfertigten, angeklagt. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Beweislage in Vergewaltigungsfällen oft problematisch
Nicht nur für die mutmaßlich Geschädigten ist ein solcher Gerichtsprozess eine enorme emotionale Belastung. Auch die Justiz stößt dabei regelmäßig an ihre Grenzen. Die Beweislage sei in den meisten Vergewaltigungsfällen schwierig, sagt die Kieler Staatsanwältin Barbara Gradl-Matusek. Sie ist zuständig für Sexualdelikte. Häufig gibt es keine Zeuginnen und Zeugen außer den Betroffenen und den mutmaßlichen Tätern. Es steht also Aussage gegen Aussage.
"Es ist absolut nicht unmöglich. Also wir haben durchaus Mittel auch bei einer Aussage gegen Aussage-Konstellation zu einer Anklage zu kommen. Aber es ist schwierig. Und wenn dann eben noch hinzukommt, dass die Geschädigte oder der Geschädigte durch K.-o.-Tropfen betäubt oder jedenfalls teilweise außer Gefecht gesetzt wurde, dann greift das natürlich auch die Erinnerungen der Geschädigten oft an. Das ist aber gerade unser wesentliches Beweismittel in den Sexualdelikten."
"Das Strafgesetzbuch erfordert eine konkrete Tat"
Die meisten Verfahren, bei denen es um K.-o.-Tropfen geht, müsse sie einstellen, sagt die Staatsanwältin. Dabei handelt es sich allein bei der Verabreichung solcher Substanzen um eine gefährliche Körperverletzung. Juristisch gesehen sind die Geschädigten vergiftet worden. Doch K.-o.-Tropfen vernichten häufig das entscheidende Beweismittel: die Erinnerung. Das berichtet auch Christina Clemm. Sie war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts und vertritt Opfer von Sexualdelikten als Nebenklägerin.
"Dann erinnert die Person sich noch an einen letzten Drink. Und auf einmal ist die Erinnerung weg. Und sie wacht wieder auf in einem fremden Bett bei einer fremden Person mit Schmerzen im Genitalbereich. Mehr erinnert sie nicht. Vielleicht noch so ein Bruchstück kommt dann irgendwann, wie sie im Taxi gefahren ist, wie sie in der Wohnung war. Dann kommt vielleicht auch noch irgendwas mit einer sexuellen Handlung, aber eben auch nicht genau. Und dann weiß man gar nicht, welche Tat war denn da. Und das Strafgesetzbuch erfordert ja eine ganz konkrete Tat."
Eine bundesweite Statistik zum Einsatz von K.-o.-Tropfen gibt es nicht. Opferverbände wie der Weiße Ring und andere Beratungsstellen warnen jedoch seit Jahren verstärkt, dass K.-o.-Drogen häufig in Verbindung mit Sexualdelikten eingesetzt werden. Carola Klein, K.-o.-Tropfen-Expertin der Berliner Fachberatung LARA, sagt, im Schnitt würden ihr mehrmals pro Woche Fälle von K.-o.-Tropfen-Vergehen berichtet. Dass sich die Frauen nicht an das genaue Geschehen erinnern könnten, mindere dabei nicht die Folgen der Tat.
"Der Gedanke oder dieses Gefühl diesen Kontrollverlust erlebt zu haben, das macht eben auch viele Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, zum Beispiel eben Schlafstörungen, große Angstzustände, Misstrauen auch bis hin zu Suizidalität. Oder auch das Gefühl ständig beobachtet zu werden."
Die meisten Vergewaltigungen zählen zum sogenannten Dunkelfeld. Das heißt, sie werden nicht angezeigt. Noch weniger werden schließlich vor Gericht verhandelt. Häufig ist die Beweislage so dünn, dass die Staatsanwaltschaft nicht davon ausgehen kann, dass es zu einer Verurteilung kommt und stellt das Verfahren daher ein. Letztlich führten einer Untersuchung des Kriminologen Christian Pfeiffer zufolge weniger als zehn Prozent der angezeigten Sexualdelikte zu einem Urteil.
Eine Überdosis K.-o.-Tropfen kann lebensbedrohlich sein
Setzen die mutmaßlichen Täter K.-o.-Tropfen ein, sinken die Chancen auf ein Urteil noch einmal dramatisch. Betroffene, Polizei und Staatsanwaltschaft stehen der Tatwaffe K.-o.-Tropfen häufig hilflos gegenüber. Denn nicht nur die Erinnerung der Geschädigten ist stark eingeschränkt, sondern auch der Zeitraum, in dem man K.-o.-Tropfen zum Beispiel mit einer Urin- oder Blutuntersuchung nachweisen kann. Carola Klein von der Berliner Fachberatung LARA:
"Selbst, wenn sie dann aufwachen, sind sie auch noch nicht wirklich in der Lage zu sagen: Oh, da ist ein Übergriff passiert, sondern die brauchen eigentlich meistens einen ganzen Tag – denen ist schlecht, die fühlen sich komisch – um überhaupt wieder in einer Position zu sein, wo sie für sich sowas entscheiden können. Ich gehe jetzt zur Polizei und erst da, ab da kann man ja dann überhaupt einen Nachweis antreten."
Unter K.-o.-Tropfen versteht man zum Beispiel Substanzen wie GHB. Die Abkürzung steht für Gamma-Hydroxybuttersäure, eine farblose Flüssigkeit, die unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Dazu zählen aber auch Flüssigkeiten wie das frei erhältliche GBL. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine chemische Verbindung, die erst im Körper zu GHB umgewandelt wird. Wer solche Substanzen bewusst oder unbewusst zu sich nimmt, kann handlungsunfähig und willenlos werden. Eine Überdosis kann lebensbedrohlich sein. Doch auch Alkohol lasse sich unter den Begriff K.-o.-Tropfen fassen, sagt Carola Klein.
"Eine Person, die zum Beispiel keinen Alkohol kennt, die gar nicht weiß, wie das wirkt, die das das erste Mal trinkt, die kann man natürlich auch mit Alkohol K.-o. setzen. Und das wird durchaus gezielt von Männergruppen, Jungsgruppen ausprobiert und dann endet das leider sehr häufig in einer Gruppenvergewaltigung."
Industriechemikalie GBL wird als K.-o.-Tropfen genutzt
Dass es sich beim Einsatz von K.-o.-Tropfen um geplante Straftaten handelt, davon geht auch die Kieler Staatsanwältin Barbara Gradl-Matusek aus. "Was sich sicherlich festhalten lässt, dass man K.-o.-Tropfen ja erstmal besorgen muss. Die hat man ja nicht Zuhause."
Wer sich im Internet auf die Suche nach K.-o.-Tropfen macht, landet schnell auf den Seiten von herkömmlichen Industrie- und Handelsunternehmen. GBL wird dort in verschiedenen Verpackungsgrößen zu niedrigen Preisen angeboten. Denn die K.-o.-Droge GBL ist in erster Linie ein Lösungsmittel. Es wird zum Beispiel genutzt, um Schmierereien von Häuserwänden zu entfernen. Das meiste GBL, das mutmaßlich als K.-o.-Droge eingesetzt wird, komme laut Bundeskriminalamt ohnehin aus Asien. Für Staatsanwältin Gradl-Matusek lässt das nur einen Schluss zu.
"Sodass die Gabe von K.-o.-Tropfen mit dem Ziel, eben das Opfer gefügig zu machen, immer so einen gewissen Grad an Planung voraussetzt. Und damit unterscheidet sich das von den üblicherweise oft spontan begangenen Sexualdelikten durchaus."
Die Konferenzen der Frauen- und Gleichstellungs- und die Gesundheitsministerien der Bundesländer haben die Bundesregierung im Juni aufgefordert, eine Studie zum Ausmaß von K.-o.-Tropfen zu erstellen – und Substanzen wie GBL zu regulieren. Doch im Bundesgesundheitsministerium verweist man darauf, dass sich eine Industriechemikalie wie GBL wegen ihrer Bedeutung für die Industrie nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fassen ließe. Ein Sprecher teilt jedoch mit, dass Tätern beim Verabreichen von K.-o.-Tropfen hohe Freiheitsstrafen drohen.
Forschungsbericht des Bundeskriminalamts
Man kann K.-o.-Tropfen durchaus als besonders tückische Tatwaffe betrachten. Denn viele der eingesetzten Substanzen lassen sich nur einige Stunden lang nachweisen. Wohlgemerkt, von dem Zeitpunkt, an dem sie in den Körper gelangen. Dazu kommt, dass die Betroffenen teilweise selbst Alkohol oder Partydrogen wie Ecstasy konsumiert haben – so wie viele Feiernde in einer Diskothek. Das erschwere den Nachweis von K.-o.-Tropfen zusätzlich, sagt Staatsanwältin Gradl-Matusek.
"Natürlich haben K.-o.-Tropfen grundsätzlich eine andere Wirkung als Alkohol. Aber auch Alkohol hat ja durchaus eine enthemmende Wirkung und man kann es oft schwer auseinander dividieren, was jetzt zu dem Zustand geführt hat."
Kommen wie bei einer Gruppenvergewaltigung mehrere mutmaßliche Täter infrage, die die K.-o.-Tropfen verabreicht haben könnten, wird eine Ahndung von K.-o.-Tropfen nahezu unmöglich. Und das, obwohl bei Gruppenvergewaltigungen verhältnismäßig häufiger K.-o.-Tropfen eingesetzt werden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsbericht des Bundeskriminalamts vom Mai dieses Jahres.
Staatsanwältin Gradl-Matusek berichtet von einem beispielhaften Fall, in dem zwei Männer mithilfe von Videoaufnahmen der gemeinschaftlichen Vergewaltigung überführt und zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Die betroffene Frau sei auf dem Video vollkommen bewegungslos gewesen, sagt die Staatsanwältin. Die Täter hatten ihr K.-o.-Tropfen verabreicht. Sie schwebte in Lebensgefahr.
"Wir haben aber nicht nachweisen können, wer ihr die K.-o.-Tropfen verabreicht hat. Nur, dass es so war. Dann greift aber natürlich der Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, sodass wir für jeden einzelnen Angeklagten davon ausgehen müssen, dass es jeweils der andere war. Der Strafrahmen war dadurch deutlich niedriger, als wenn wir hätten nachweisen können, dass hier eben K.-o.-Tropfen und damit Gift verabreicht worden wäre."
Videoaufnahme, die Täter verbreiten
In manchen Verfahren helfen die mutmaßlichen Täter der Wahrheitsfindung selbst auf die Sprünge. Sie fertigen Videos an und verbreiten sie, zum Beispiel über Messenger-Dienste im Freundeskreis. So auch im Fall vor dem Amtsgericht Neuss. Beide mutmaßlich vergewaltigten Frauen wurden laut Staatsanwaltschaft von den Angeklagten gefilmt. Ein Video zeige nicht nur die Penetration der Geschädigten, sondern auch wie die Täter die Frau gezwungen hätten eine Gaspistole in den Mund zu nehmen, um "ein geiles Foto zu machen", wie es in der Anklageschrift heißt.
"Eine Videoaufnahme ist für uns natürlich ein geniales Beweismittel, weil es objektiv widergibt, wie die Situation sich jedenfalls für einen unvoreingenommenen Beobachter darstellen würde."
Voraussetzung für eine Verurteilung ist unter anderem, dass der oder die Angeklagten erkennen konnten, dass die betroffene Person nicht in der Lage gewesen sei, ihren Willen zu bilden. So plädierte auch in einem Fall vor dem Landgericht Freiburg die Verteidigung darauf, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei. Eine 18-Jährige soll von mehreren Angeklagten in einem Gebüsch in der Nähe einer Diskothek vergewaltigt worden sein. In der Diskothek soll ihr einer der Angeklagten unbemerkt K.-o.-Tropfen in das Getränk geträufelt haben. Staatsanwältin Gradl-Matusek:
"Das kann durchaus sein, dass es freiwillig aussieht, obwohl es das nicht war. Das ist ja auch eine Auswirkung, die K.-o.-Tropfen haben können, dass eben der Widerstand, der innere Widerstand herabgesetzt wird und dass man einfach tut, was von einem erwartet oder verlangt wird, und dann kann es freiwillig aussehen. Dann muss man aber auch sagen ist es möglicherweise für den oder die Täter, die keine K.-o.-Tropfen verabreicht haben, auch nicht sichtbar gewesen. Und wir brauchen ja für eine Verurteilung immer auch den Vorsatz, also den Willen gegen den Willen des Opfers zu handeln."
Verteidigung versucht oft, Zeugen zu diskreditieren
Teilweise werden derartige Videos aber auch von der Verteidigung selbst im Prozess angeführt, berichtet Nebenklagevertreterin Christina Clemm. Wie in dem Fall einer Mandantin, die sich an nichts erinnerte.
"Und dann reichte der Täter ein Video ein. Und dieses Video wirkte tatsächlich so, als sei das alles sehr freiwillig geschehen. Dann wird das Verfahren natürlich eingestellt. So deswegen gibt es Täterstrategien durchaus, die das aufnehmen, um wenn sie dann später angezeigt werden, nachweisen zu können, das war ja alles freiwillig."
Häufig stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren an diesem Punkt schon ein. Wird ein solches Video jedoch im Prozess gezeigt, stellt das für die Betroffenen eine enorme Belastung dar.
"Aber es ist schon krass genug für die betroffene Person zu wissen, dieses Video wird dann in dem Gerichtssaal gezeigt. Man kann die Öffentlichkeit dafür ausschließen, aber schon alleine der Umstand, dass die Verfahrensbeteiligten alle diese Situation sehen, ist furchtbar für die Betroffenen."
Die Geschädigten, also die mutmaßlichen Vergewaltigungsopfer, stehen bei ihrer Aussage im Gerichtssaal noch aus einem anderen Grund unter enormen Druck. Denn die Verteidigung versucht das Hauptbeweisstück der Anklage, die Erinnerung der Betroffenen, zu entkräften – indem sie unter anderem die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Zweifel zieht. Das führe teilweise zu Fragen, die suggerieren, dass die Betroffene möglicherweise doch freiwillig zugestimmt habe, sagt Christina Clemm.
"Denn häufig geht es gar nicht darum irgendwas herauszufinden, sondern es geht darum die Zeugin zu diskreditieren, zu verunsichern, was aus Verteidigungssicht durchaus Sinn macht. Eine verunsicherte Zeugin ist eine verunsicherte Zeugin. Es ist aber für ein Gericht, die könnten da sehr viel strikter gegen vorgehen."
Lange Wartezeiten auf Prozess als Problem für Geschädigte
Dabei wird die Glaubwürdigkeit der Geschädigten häufig noch durch einen weiteren Faktor untergraben: Zeit. Viele Gerichte und Staatsanwaltschaften in Deutschland kämpfen mit Personalmangel und sind dementsprechend überlastet. In der Folge bleiben Fälle lange Zeit unbearbeitet, Verhandlungstermine werden hinausgeschoben. Teilweise werden Haftsachen oder prominente Fälle vorgezogen. Manchmal vergingen bis zu fünf Jahre, bis ein Gericht ein rechtskräftiges Urteil gefällt hat, sagt Christina Clemm.
"Also, ein bis zwei Jahre, bis es verhandelt wird, das ist regelmäßig so, und dann erstinstanzlich verhandelt wird. Und dann gibt es die zweite Instanz und möglicherweise noch eine Revision und möglicherweise geht's dann auch nochmal zurück, also das dauert."
Ein Verhandlungstermin nach mehr als vier Jahren sei in Kiel zwar die absolute Ausnahme, sagt Staatsanwältin Gradl-Matusek, doch die Zeit bis zur Hauptverhandlung spiele zwangsläufig den Angeklagten in die Hände.
"Dieser lange Tatzeitraum ist absolut schädlich für die Erinnerung der Zeugen. Und man muss sagen, in einer Hauptverhandlung, die Jahre später stattfindet, gehen Erinnerungsdefizite immer zu Lasten der Zeugen. Wegen des Grundsatzes ‚im Zweifel für den Angeklagten’."
Fehlende forensische Beweise, die getrübte, lückenhafte, wenn nicht gar ausgelöschte Erinnerung der Betroffenen und Videobeweise, die der Verteidigung nutzen. All das führt dazu, dass nur ein Bruchteil der angezeigten Sexualdelikte, bei denen K.-o.-Tropfen eingesetzt wurden, überhaupt zur Anklage kommen. Oft bliebe ihr nichts anderes übrig am Telefon zu erklären, warum sie ein Verfahren einstellen musste, sagt Gradl-Matusek.
"Das ist oft sehr schwierig zu verstehen für Opfer, die es ja gegebenenfalls aus ihrer eigenen Sicht eine Straftat erlebt haben, und die nicht bewusst wahrheitswidrig angezeigt haben. Ich gehe davon aus, dass das der absolut geringe Anteil der Anzeigen ist."
Unterstützung für frühe Beweisaufnahme
Seit 2017 haben Geschädigte Anspruch auf eine psychosoziale Prozessbegleitung. Carola Klein von der Fachberatungsstelle LARA in Berlin begleitet in dem Rahmen betroffene Frauen zu den Gerichtsterminen und bereitet sie emotional – nicht inhaltlich – darauf vor, ihre Aussage im Gerichtssaal zu machen.
"Und es geht darum, dass sie eben nicht traumatisiert oder retraumatisiert aus so einer Aussage herauskommen. Das ist wirklich gefährlich für Leib und Leben, kann man sagen, denn die können komplett ihre Stabilität verlieren, wenn sie direkt in diese Geschehnisse reinmüssen und dann möglicherweise auf eine Art und Weise gefragt werden, die Schuld- und Schamgefühle und Angst erzeugt."
Am Freitag hat der Bundestag eine Reform des Strafprozessrechts beschlossen. Sie soll unter anderem mutmaßlichen Opfern von Sexualstraftaten die Aussage erleichtern, indem ihre erste Aussage auf Video festgehalten wird. Im Hauptverfahren müssen die Geschädigten dann nicht noch einmal – von Angesicht zu Angesicht mit den übrigen Verfahrensbeteiligten – aussagen. Die Beweisschwierigkeiten, vor denen Staatsanwaltschaften und Gerichte in Fällen mit K.-o.-Tropfen stehen, wird das voraussichtlich nicht lösen. Immerhin hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, die Hürden für die Spurensicherung nach Sexualdelikten zu senken.
Eine Untersuchung soll beim Verdacht auf eine Straftat künftig in allen Bundesländern von den Krankenkassen übernommen werden, anonym und ohne Anzeige bei der Polizei. Dann müssten Betroffene nach der Tat nicht direkt zur Polizei gehen, und hätten möglicherweise trotzdem zu einem späteren Zeitpunkt gerichtsfeste Beweise für eine Straftat mit K.-o.-Tropfen.