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Strafvollzug in Russland
Aus der Sicht des Systems

Sergej Bronnikow trainiert Häftlinge in russischen Strafkolonien im Stemmen von Kugelhanteln. Wie viele Mitarbeiter im Strafvollzug setzt er auf Disziplin. Manchen seiner Schüler hat das tatsächlich auf den richtigen Weg gebracht. Der Umgang mit Gefangenen in Russland steht dennoch in der Kritik.

Von Gesine Dornblüth |
Sergej Bronnikow stemmt eine Kugelhantel in die Höhe
Sergej Bronnikow setzt auf Disziplin und Hanteltraining (Deutschlandradio/ Gesine Dornblüth)
Millimeter für Millimeter ritzt der Drucker einen Namen in schwarzen Marmor, dann ein Geburts- und ein Sterbedatum. Der kleine Laden in einem Wohngebiet in Kirow ist vollgestellt mit Grabsteinen und Gestecken. Konstantin, der Eigentümer, sitzt hinter einem Laptop: Ein kräftiger junger Mann mit freundlichem Blick.
"Ich bin eigentlich KFZ-Mechaniker. Aber nach der Haftstrafe – ich rede lieber nicht so laut, das soll niemand hören – bin ich in der Beerdigungsbranche gelandet. Erst hatte ich eine Stelle als Arbeiter. Dann habe meine eigene Brigade zusammengestellt und schließlich dieses Büro aufgemacht."
Lob für den Lehrmeister
Er hätte das nicht geschafft ohne die Hilfe eines Mannes, sagt Konstantin: "Mit dem richtigen Lehrmeister an der Seite, wie Sergej Anatoljewitsch einer ist, kann man seine Fehler einsehen und vorankommen. Auf dem Weg der Besserung ebenso wie in der persönlichen Entwicklung."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Strafvollzug in Russland - "In der Zone bist du ein Stück Vieh".
Der Mann, den Konstantin meint, ist gerade zu Besuch: Sergej Anatoljewitsch Bronnikow, kurz geschorene Haare, kantige Gesichtszüge, kräftiger Händedruck, ist Unternehmer mit einer großen Leidenschaft: dem Heben und Stemmen von Kugelhanteln.
Das traditionelle russische Sportgerät ist sonst vor allem beim Militär beliebt. Bronnikow stattet die Strafkolonien im Gebiet Kirow damit aus. "Das Training mit der Hantel beruhigt. Das ist, als gehe man zur Kirche. Der Mensch erneuert sich dabei und überdenkt seine Werte", sagt er.
Geringe Rückfallsquote bei Bronnikows Schützlingen
Konstantin lächelt ihm zu. "Ich war schon immer ein sehr aktiver Mensch, zu Hause, in der Schule. In der Haft gibt es aber nicht viele Möglichkeiten, Sport zu treiben. Als ich erfuhr, dass es dort ein Training mit Kugelhanteln gibt, bin ich hingegangen und habe gefragt, was es damit auf sich hat. Sergej Anatoljewitsch hat einfach gesagt: Halt mal, probier selbst. Damit ging es los."
Konstantin trainierte von jenem Tag an regelmäßig, half Bronnikow, im Lager Wettkämpfe zu organisieren. Das bekam auch die Lagerleitung mit. Wegen guter Führung wurde Konstantin vorzeitig entlassen.
Die beiden verabschieden sich. Bronnikow geht zu seinem Auto, einem schweren schwarzen Geländewagen. "Ich trainiere seit mehr als zehn Jahren Häftlinge. Von meinen Schützlingen sind nur zwei erneut straffällig geworden. Nur zwei Rückfällige! Das ist eine sehr gute Zahl."
Bronnikow war selbst mal im Staatsdienst. Wo genau, möchte er nicht sagen. Aber eines ist klar: Er schätzt Disziplin.
Korruption in Untersuchungsgefängnissen und Lagern
Auf einem Parkplatz steigt ein Bekannter Bronnikows zu. Schnurrbart, volle Lippen, lachende Augen. Sergej Reschatnik hat sein Leben lang im Strafvollzug gearbeitet: Erst in verschiedenen Lagern, dann in der Verwaltung im Gebiet Kirow. Zuletzt leitete er den Sicherheitsdienst der Behörde. Vor 16 Jahren ging er in Rente.
"Der Mensch ist von Natur aus schwach", sagt Reschatnik. "Er will mehr. Und wenn dann noch eine niedrige moralische Qualität der Mitarbeiter dazukommt, dann lassen sich die Leute eben auf Korruption ein."
Reschatnik räumt ein, dass es in den Untersuchungsgefängnissen und Lagern Korruption gibt. Deshalb seien eigene Sicherheitsdienste gegründet worden, die solche Fälle aufspüren und unterbinden sollten.
"Mit Häftlingen zu arbeiten, ist kein Zuckerschlecken"
Menschenrechtler fordern, den Strafvollzug transparenter zu machen, ihn der Kontrolle der Gesellschaft zu unterstellen. Dann werde die Korruption aufhören. Reschatnik sieht es anders. Zuallererst müssten die Gehälter der Wärter angehoben werden. Einsteiger bekämen umgerechnet rund 250 Euro. Das ist etwa das Anderthalbfache des Mindestlohns, aber trotzdem zu wenig, findet Reschatnik.
"Mit Häftlingen zu arbeiten, ist kein Zuckerschlecken. Das ist eine sehr schwere Arbeit. Man holt sich dort einen Haufen Krankheiten. Alle, mit denen ich meinen Dienst begonnen habe, sind schon im Jenseits."
Sergej Bronnikow, der Mann mit den Hanteln, nickt. Doch nur höhere Löhne reichten nicht, meint er. Das Personal im russischen Strafvollzug müsse auch besser ausgebildet werden:
"Die Wärter müssen begreifen, dass die Häftlinge bereits von der Gesellschaft für das von ihnen verübte Verbrechen bestraft werden, dass sie die Verurteilten nicht erniedrigen dürfen. Sie müssen sich mit ihnen solidarisch fühlen und sie sanft dazu bringen, anzuerkennen, dass sie ein Verbrechen begangen haben. Es muss ein Verhältnis sein wie zwischen Lehrer und Schüler."
Ein Verhältnis wie zwischen ihm und dem ehemaligen Häftling Konstantin, der jetzt Grabsteine verkauft. Doch das ist ein Einzelfall. Insgesamt ist der russische Strafvollzug davon noch weit entfernt.