Christine Heuer: Heute Nachmittag um fünf Uhr deutscher Zeit läuft die Frist für VW in den USA ab. Kurz vorher zeichnet sich eine außergerichtliche Einigung mit den Behörden in Sachen Dieselgate ab. Volkswagen ist offenbar zu hohen Entschädigungszahlungen an seine US-Kunden bereit.
Am Telefon begrüße ich den Ex-Chefvolkswirt von BMW, den Autoexperten Helmut Becker. Guten Tag!
Helmut Becker: Guten Tag, Frau Heuer!
Heuer: Herr Becker, eine Einigung in den USA ist offenbar greifbar nah. Sollen wir jetzt schnell VW-Aktien kaufen?
Becker: Eigentlich schon. Wenn es dabei bliebe, was jetzt durchgesickert ist, und die Entschädigungszahlungen oder die Strafzahlungen für Volkswagen sich in dieser Größenordnung nur bewegen würden, dann wäre das sicherlich der Himmel auf Erden, den man da erreichen kann. Aber ich befürchte, das wird noch schlimmer werden. Nichts desto trotz ist und bleibt Volkswagen ein gutes Auto und das Unternehmen für sich ist gut.
Heuer: Was meinen Sie mit, es könnte noch schlimmer werden?
Becker: Ja nun, die privaten Schadensklagen, die da anhängig sind auch vonseiten des Justizministeriums, die belaufen sich über zweistellige Milliardenbeträge. Die sind ja hiermit, wenn ich das richtig verstanden habe, mit der Einigung mit der EPA, also mit der Umweltbehörde, ja noch nicht abgedeckt. Ob da noch hinterher ein Rattenschwanz von Klagen kommt und Volkswagen nicht nur jetzt Strafzahlungen macht, sondern auch natürlich die Autos umrüsten muss oder nachbessern muss oder aus dem Verkehr ziehen muss, das ist ja noch offen. Jedenfalls das geht aus dieser Meldung präzise nicht hervor.
Staat würde VW nicht hängen lassen
Heuer: Aber in Gefahr würde selbst im schlimmsten Fall VW als Konzern damit nicht geraten?
Becker: VW als Konzern würde eigentlich nie in Gefahr geraten, wenn ich das so salopp formulieren darf, denn da steckt der Staat ja sprich das Land Niedersachsen mit 20 Prozent auch dabei, und Volkswagen beschäftigt in Deutschland 300.000 Beschäftigte. Das heißt, genauso wie man die Banken nicht hat hängen lassen in der Krise, würde man Volkswagen seitens des Staates alleine schon nicht hängen lassen.
Heuer: Also kann VW sich eigentlich auch alles leisten, Herr Becker?
Becker: Nein, es kann sich nicht alles leisten. Natürlich muss es hohe Strafzahlungen geben und natürlich geht das zulasten der Dividende und auch zulasten der Führungskräfte und der Boni.
Heuer: 5000 US-Dollar für amerikanische Kunden. Von einer ähnlichen Entschädigung für deutsche Kunden ist noch nicht die Rede. Ist das eigentlich gerecht?
Becker: Ja, weil im Grunde genommen VW gegen europäisches oder deutsches Recht in dem Fall hier nicht verstoßen hat. Jedenfalls hier ist nichts anhängig und infolgedessen kann man das eigentlich nur auf freiwilliger Basis regulieren, und Volkswagen würde natürlich gut daran tun, das auf freiwilliger Basis zu machen, und zwar möglichst bald, um die Kunden nicht noch mehr zu verärgern, als sie ohnehin schon verärgert sind.
Wenig Hoffnung für Kunden in Europa
Heuer: Herr Becker, das verstehe ich jetzt nicht. Sind deutsche Dieselkäufer bei VW weniger betrogen worden als amerikanische?
Becker: Sua lege nicht. Das heißt, hier in Deutschland herrschen andere, hier herrscht europäisches Recht, und das ist im Moment nicht justiziabel, was da passiert ist, und es trifft auch weniger Autos oder beziehungsweise hier gibt es andere Umweltgesetzgebungen und andere Prüfverfahren. Im Moment steht Volkswagen rein rechtlich gesehen hier nicht im Blickpunkt.
Heuer: Wie können denn deutsche VW-Kunden sich wehren?
Becker: Bitte?
Heuer: Wie können deutsche VW-Kunden sich wehren?
Becker: Sich wehren? - Volkswagen hat ja die Kunden alle identifiziert, wo eine Software eingebaut worden ist, die im Grunde genommen nicht den Versprechungen oder den Auslobungen entspricht. …, dass das nachgearbeitet wird. Die Kunden sind angeschrieben worden, oder die Kunden sollen sich direkt bei Volkswagen melden.
Heuer: Aber klagen können wir hier nicht?
Becker: Klagen in dem Sinne ist mir bisher nichts bekannt, nein.
Heuer: Wir haben über die Politik schon kurz gesprochen, Herr Becker. Die USA, die kämpfen für Wiedergutmachung. Sie sagen, die haben ganz andere Möglichkeiten. In Deutschland fällt ja schon auf, dass das Thema jetzt von der politischen Seite, von der Entscheidungsseite her nicht sehr offensiv angegangen wird. Alexander Dobrindt, der Verkehrsminister, geht da jedenfalls nicht sehr in die Offensive. Deckt die deutsche Politik in Wahrheit die Automobilindustrie?
Becker: Was heißt decken? Ich meine, die Automobilindustrie steht für 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Jeder Siebte arbeitet für und in der deutschen Automobilindustrie. Sie können genauso gut fragen, möchte die Politik sich selber enthaupten, möchte sie den Ast, auf dem sie sitzt, absägen. Nein, das will sie natürlich nicht. Infolgedessen geht man ein bisschen fürsorglicher sicherlich mit der Branche um, als man das normalerweise mit jemandem täte, der nur Stecknadeln herstellt.
Brüssel muss reagieren
Heuer: Aber wie können denn zum Beispiel die Kontrollen verbessert werden, wenn es da nicht eine ganz starke politische Initiative gibt und wenn dieses Thema immer so dahin dümpelt?
Becker: Diese Initiative läuft. Die läuft auf europäischer Ebene. Insofern kann sich die deutsche Politik hinter der Brüsseler oder beziehungsweise europäischen Verkehrspolitik verstecken und zurückziehen. Die Initiative muss aus Brüssel kommen. Hier müssen die Kontrollverfahren und die Messverfahren justiert werden, angepasst werden, verbessert werden, runter vom Rollenprüfstand, rauf auf die Straße. Das läuft, das ist auch schon verabredet und das kommt. Insofern: Hier ist schon eine Reaktion auf diesen Vorgang erfolgt und wird jetzt Ende 2016, Anfang 2017 in Kraft treten, und dann werden andere Kontrollen durchgeführt, als sie das jetzt waren rein unter Rollenprüfstand-Bedingungen.
Heuer: Trotzdem, Herr Becker, hat man ja den Eindruck, dass VW und vielleicht auch politische Verantwortliche ein bisschen lax mit dem Thema umgehen. Ein anderes Beispiel: VW hat es bis heute nicht geschafft, einen Ermittlungsbericht vorzulegen. Können oder wollen die nicht?
Becker: Beides, würde ich sagen. Es ist auch wahnsinnig schwierig, im Grunde den richtigen Schuldigen und die richtige Stelle und den richtigen, wie soll man sagen, Schuldigen-Tatbestand zu identifizieren.
Heuer: Aber wir reden doch jetzt schon seit Monaten darüber.
Becker: Ja, seit sieben Monaten, genau genommen. Das hat den ganzen Konzern kalt erwischt und allein die Tatsache, dass zig interne und externe Berater und Experten dabei sind, Millionen von Papieren und E-Mails zu analysieren und zu versuchen herauszufinden, an welcher Stelle denn gedreht worden ist.
Heuer: Aber es war doch offenbar die gesamte Konzernspitze informiert.
Becker: Bisher ist das nicht justiziabel. Ich habe noch niemanden gesehen und gehört, der gesagt hätte, der Herr Winterkorn oder der Herr Hackenberg oder der Herr Pötsch oder wer auch immer sei darüber informiert worden.
Heuer: Und weil wir es nicht beweisen können, was einigermaßen offensichtlich ist, wird nichts unternommen?
Becker: Hinter den Kulissen und auch in der Justiz und im Verkehrsministerium - das will hier jetzt hier nicht so im Raum stehen lassen -, da wird schon eine ganze Menge unternommen. Nur die Frage ist, was trägt man am Marktplatz aus und was tut man hinter den Kulissen. Ich glaube schon. Auch die TÜV, die ja in die Prüfungen bisher eingeschaltet worden sind, sind natürlich stärker involviert jetzt in Zukunft und stärker gefordert als in der Vergangenheit. So ohne Weiteres stehen bleiben wird das nicht.
Heuer: Der Skandal betrifft ja nicht ausschließlich VW, sondern nach Medienberichten fast alle Hersteller. Ist die ganze Autobranche eigentlich eine große Dreckschleuder?
Becker: Nein. Die Autobranche nutzt die Spielräume, die der Gesetzgeber ihr lässt. Die Umweltgesetze, die wir haben, die sind sehr scharf und sind auch laufend verschärft worden von Euro I, II, III, IV bis inzwischen Euronorm VI. Da ist also eine ganze Menge gemacht worden und da ist auch viel in Bewegung geraten. Allerdings kostet das alles Geld und die Branche scheut sich davor, dieses Geld in die Hand zu nehmen, weil sie das dem Kunden mehr oder weniger aufs Auge drücken muss.
Heuer: Und umgeht deshalb die Regeln, die getroffen wurden.
Becker: Nein, sie umgeht nicht die Regeln. Noch mal!
Heuer: Bei den Abgastests aber schon, Herr Becker.
Regeln wurden eingehalten
Becker: Bei den Abgastests, die sind nach den herrschenden Normen, den bis dato herrschenden Normen durchgeführt worden. Wir haben keine aufgeblasenen Luftreifen, wie jetzt bei Mitsubishi, sondern wir haben uns an die Regeln gehalten und die haben wir auch erfüllt. Alles andere ist nicht justiziabel im Moment. Dann müssen wir es halt justiziabel machen, und ich glaube, das passiert ja auch.
Heuer: Über Europa. - Im Gesamtblick, Herr Becker: Wir haben die USA, wie die damit umgehen. Wir haben jetzt über Deutschland und Europa gesprochen. Welches Verhalten finden Sie besser? Welchen Umgang finden Sie besser? Würden Sie schon dafür sein, ein bisschen strenger zu verfahren, so wie die USA das machen?
Becker: Ja, das ist mit Sicherheit so. Wir müssen aber eines wissen und auch im Blick behalten: Die USA sind streng gegenüber welchen Herstellern? Gegenüber ihren eigenen, die die großen Dreckschleudern auf die Straße bringen, die großen SUV und Geländewagen? Oder gegenüber Ausländern? - Diejenigen, die in den USA immer am Pranger stehen, sind ausländische Hersteller, nicht amerikanische. Punkt eins.
Punkt zwei: Natürlich ist es wichtig und notwendig, dass es eine Behörde wie gerade in Amerika die EPA gibt, die solche strengen Dinge erlässt und auch observiert, das heißt auch justiziabel macht, und wir müssen uns natürlich daran gewöhnen, hier in Europa schärfer zu werden. Wir hätten die Möglichkeit und ich betone noch mal, das Absatzproblem zu lösen. Nicht das Absatz-, das Abgasproblem natürlich. Absatzproblem auch. Aber wir wollen uns kein Absatzproblem an den Hals schaffen, um das Abgasproblem zu lösen. Das heißt, es kostet Geld und der Kunde muss "at the end oft the day", am Ende des Tages diese Kosten zahlen. Das heißt, Autofahren wird teurer, ganz schlicht und ergreifend. Wenn man das akzeptiert, haben wir das Problem rein technisch gesehen übermorgen gelöst.
Heuer: Aber es geht um die Wirtschaft und auch darum, wie viel Geld die Kunden auszugeben bereit sind.
Becker: So ist es. Aber im Moment geben die Kunden 13 Milliarden Euro weniger aus, weil der Treibstoff so billig geworden ist. Also man hätte eine tolle Gelegenheit, das jetzt in die Wege zu leiten.
Heuer: Ein konkreter Vorschlag zum Ende unseres Gesprächs.
Becker: Ja.
Heuer: Der frühere Chefvolkswirt bei BMW Helmut Becker war das. Haben Sie vielen Dank!
Becker: Vielen Dank, Frau Heuer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.