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Strahlende Zukunft

Indiens Wirtschaft boomt, der Energieverbrauch steigt und steigt. Den immer häufigeren Strom-Engpässen will das Land - das bisher überwiegend auf fossile Brennstoffe setzte - mit einem starken Ausbau der Kernenergie entgegentreten.

Von Leila Knüppel und Nicole Scherschun | 23.08.2013
    Protestierende Fischer vor dem Meiler Koodankulam.
    Protestierende Fischer vor dem Meiler Koodankulam. (picture alliance / dpa / EPA)
    Mehrmals am Tag springen in den Wohnungen und Büros der Millionenstadt Delhi dröhnend die Generatoren an. Stromausfall. Alltag in der indischen Hauptstadt.

    Bei über 40 Grad im Schatten laufen die Klimaanlagen auf Hochtouren. Dazu kommen Kühlschränke, Plasma-Fernseher und Rechner, die jeder Großstädter haben möchte. Energie wird knapp.

    Die Ökonomin Ritu Mathur arbeitet in einem hochmodernen Bürokomplex im Süden Delhis, beim Institut für Energieressourcen TERI. Auch sie kennt die täglichen Stromausfälle und versucht im Auftrag der indischen Regierung, eine Lösung für die Energieknappheit des Landes zu finden.

    "In Indien leben noch immer mehrere Millionen Menschen ohne Strom, etwa 40 Prozent der Haushalte. Wir brauchen noch sehr viel Energie. Nach unseren Berechnungen wird der Bedarf zwischen 2001 und 2031 um das Fünf- bis Siebenfache steigen."

    Die indische Wirtschaft boomt: In den vergangenen zehn Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt um über sieben Prozent pro Jahr. Deshalb steigt der Strombedarf. Schon jetzt ist Indien weltweit Energiekonsument Nummer vier, hinter China, den USA und Russland. Die Infrastruktur kann da nicht mithalten. Marode Leitungen und Energieengpässe lassen regelmäßig die Versorgung zusammenbrechen. Im Sommer vergangenen Jahres kam es zum Super-Blackout. Die Top-Nachricht weltweit.

    Halb Indien habe keinen Strom, berichtete der Sender BBC; über 500 Millionen Menschen. In Delhi fielen die Verkehrsampeln aus, U-Bahn-Passagiere mussten aus stecken gebliebenen Waggons befreit werden, Krankenhäuser auf Notbetrieb umschalten.

    Bisher deckt Indien seinen Strombedarf weitgehend mit fossilen Brennstoffen. Mehr als die Hälfte seiner Energie gewinnt das Land aus Kohle, zwölf Prozent liefern Wind und Sonne. Indiens Atomkraftwerke produzieren noch nicht einmal drei Prozent.

    "Aber nun merken wir, dass unsere Kohlevorkommen wegen des rapide steigenden Bedarfs gerade einmal für die nächsten 20, 25 Jahre reichen. Auch Gas ist keine Alternative. Daher bleiben nur Atomkraft und erneuerbare Energien. Sie müssen in Indiens Energiemix künftig eine größere Rolle spielen."

    Opposition und Regierung sind sich einig: Um in wenigen Jahren nicht auf teure Energieimporte angewiesen zu sein, braucht Indien vor allem mehr Atomkraftwerke. Und so verkündete Premierminister Manmohan Singh schon wenige Wochen nach der Katastrophe von Fukushima, dass er an seinen Plänen festhalten wolle.

    "Atomstrom macht heute nur drei Prozent der produzierten Energie in Indien aus. Das sind weniger als 5000 Megawatt. Wir wollen diese Energieproduktion bis zum Jahr 2020 auf 20.000 Megawatt steigern."

    In zehn Jahren wird viermal mehr Atomstrom fließen als bisher, verspricht Singh. Zusätzlich zu den 20 Reaktoren, die schon laufen, sind sechs leistungsstärkere Reaktoren in Planung.

    Majid Abdul Lateef Govalkar wirft geübt die Netze aus. Seit 33 Jahren fährt er aufs Meer hinaus. Als einfacher Bootsjunge habe er angefangen, erzählt der kleine, drahtige Mann. Heute besitzt der 48-Jährige selbst ein großes Fischerboot, er beschäftigt 15 Angestellte. Von Makrelen, Dorsch und Lachs lässt es sich hier gut leben, im kleinen, indischen Fischerdorf Nate an der Westküste Indiens, etwa 600 Kilometer südlich der Wirtschaftsmetropole Mumbai. Doch damit könnte es bald vorbei sein.

    Da drüben auf dem Hochplateau beim Leuchtturm, sagt der Fischer: Da soll es bald stehen – das weltweit größte Atomkraftwerk. Sechs Leichtwasserreaktoren mit einer Leistung von insgesamt knapp 10.000 Megawatt will der französische Konzern AREVA dort errichten. Betreiber der Mega-Anlage "Jaitapur" wird der staatseigene Konzern NPCIL aus Indien sein.

    "Um das Atomkraftwerk zu kühlen, werden täglich Millionen Liter Meerwasser benötigt. Das warme Wasser soll dann einfach zurückfließen ins Meer. So etwas kann nicht gut für die Fische sein."

    Um sieben Grad könnte die Temperatur im Meer rund um das Atomkraftwerk steigen, bestätigt auch das Umweltministerium. Und eine Untersuchung des staatlichen Instituts für Meeresforschung kommt zu dem Schluss:

    "Jede Temperaturänderung beeinflusst sehr wahrscheinlich die Leistungsfähigkeit des Ökosystems, das Wachstum des Phytoplanktons, der Fischlarven und die Reproduktivität der Flora und Fauna in der Region."

    Das Umweltministerium verspricht regelmäßige Kontrollen. Doch das ist nicht die einzige Sorge der Anwohner. Das größte Atomkraftwerk der Welt wird in einer erdbebengefährdeten Zone liegen. Beim letzten großen Erdbeben vor 20 Jahren kamen etwa 9000 Menschen ums Leben. Auch eine Untersuchung der Atombehörde listet zahlreiche Erdbeben in der Region rund um Jaitapur auf. Es bestehe ein "mäßiges Schadensrisiko", heißt es. Vom Bau des Kraftwerks rät die Studie jedoch nicht ab.

    In der Moschee von Nate sitzen die Fischer und ihre Frauen auf Teppichen und diskutieren über weitere Protestaktionen gegen den Bau des Atomkraftwerks in der Nähe ihres Dorfes. Wer drinnen keinen Platz mehr gefunden hat, schaut von draußen durch die unverglasten Fenster.

    Das ganze Dorf sei gegen das Atomkraftwerk, sagt Fischer Govalkar. Alle treffen sich mehrmals im Monat. Dabei sind Demonstrationen und Versammlungen hier in der Region verboten worden. Regelmäßig patrouillieren Polizisten durch die Dörfer. Manchmal griffen sie brutal durch, erzählt Govalkar und erinnert sich an den 18. April 2011. Damals erschoss die Polizei während einer Demonstration einen der Aktivisten aus dem Dorf.

    "Ich war dabei. Frauen und Kinder wurden geschlagen. Und direkt vor mir habe ich gesehen, wie der Junge erschossen wurde. Danach hat die Polizei uns gedroht. Wenn wir nicht verschwinden, sagten sie, werdet ihr die nächsten sein."

    Noch ist die Anti-Atomkraft-Bewegung in Indien klein. Meist engagieren sich nur Anwohner, die vom Bau neuer Reaktoren direkt betroffen sind. Doch an diesem Abend sind auch Aktivisten wie Rajendra Phatarpekar aus dem 600 Kilometer entfernten Mumbai zur Unterstützung angereist. Für ihn ist Jaitapur die Keimzelle einer langsam wachsenden nationalen Anti-Atomkraftbewegung.

    "Die Brutalität der Polizei hat vielen die Augen geöffnet. Nun verstehen sie, dass die Regierung bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen, um Atomkraft zu fördern. Sie ist sogar bereit, ihre eigenen Bürger zu töten."

    Die Verhandlungen um den Bau des Atomkraftwerks Jaitapur laufen noch. Die Anwohner hoffen daher, die Mega-Anlage ganz verhindern zu können.

    Professor Ramamurti Rajaraman kann die Aufregung um den Reaktorbau nicht verstehen. Der Physiker gehört seit einigen Jahren dem Beirat des renommierten US-Magazins "Bulletin of the Atomic Scientists" an. Er glaubt, dass die Bauern und Fischer falsch informiert und instrumentalisiert werden.

    "Das sind sehr ungebildete, arme Leute. Sie haben nicht viel zu tun. Dann kommt jemand vorbei und sagt ihnen, ich organisiere einen Protest und ihr kommt jetzt mit. Und sie gehen einfach. Sie wissen gar nicht, wogegen sie protestieren. Ihnen wird erzählt, ihre Kinder würden wegen des Atomkraftwerks missgebildet. Und sie glauben das, weil sie sich nicht auskennen."

    Indiens Traum von Fortschritt durch die Atomenergie kam schon vor Jahrzehnten auf. Seit es das unabhängige Indien gibt, existiert auch ein nationales Atomprogramm, erzählt Kumar Sundaram. Der Politologe arbeitet für die Vereinigung für Nukleare Abrüstung und Frieden in Neu Delhi.

    "Nach der Unabhängigkeit 1947 gab es in Indien die Hoffnung, dass technologische Entwicklungen unser Land ganz weit nach vorne bringen. Deswegen hat die Regierung sehr viel in Raumfahrt und Nukleartechnik investiert. Indien sollte zu einer Großmacht aufsteigen. Deswegen herrscht hier bis heute große Ehrfurcht vor allem, was mit Atomkraft zusammenhängt."

    Bereits 1948, zwei Jahre bevor die Verfassung verabschiedet wurde, ließ Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru die Behörde für Atomenergie gründen.

    Das Atomprogramm entwickelte sich jedoch nur langsam, erzählt Ramamurti Rajaraman. Der emeritierte Professor für Physik und Vize-Vorsitzende der "Nationalen Akademie der Wissenschaft" setzt sich seit Jahren für nukleare Abrüstung ein. Strom aus Atomkraft befürwortet er jedoch.

    "Wegen Indiens Atomtests in den 70er- und 90er-Jahren und wegen der Weigerung, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, war der Nuklearhandel lange Zeit sanktioniert. Wir durften nur in geringem Umfang Atomtechnik und Uran importieren. Eigenes Uran haben wir aber kaum. Also ging es mit dem Atomprogramm nur sehr, sehr langsam voran."

    Erst die Unterzeichnung des US-Indischen Atomabkommens 2008 gab der Vision neuen Schwung. Indien lehnte zwar nach wie vor den Atomwaffensperrvertrag ab, erklärte sich aber bereit, einige seiner Reaktoren von der internationalen Atomaufsichtsbehörde, IAEO, überprüfen zu lassen. Im Gegenzug fiel das Handelsembargo. 14 der 20 indischen Reaktoren sind ab dem kommenden Jahr für die IAEO-Kontrolleure zugänglich. Denn diese werden offiziell nicht zur Atomwaffenproduktion benötigt.

    "Für das Abkommen mussten wir das zivile und das militärische Atomprogramm stärker voneinander trennen. Zuvor gehörten Bomben und Energie zusammen. Es war eine Behörde, dieselben Mitarbeiter in einem Gebäude. Nun können wir durch den Deal mit den USA weltweit Reaktoren kaufen und verkaufen."

    Seitdem geht Indien auf Shoppingtour: Die Regierung hat Verträge mit US-amerikanischen, französischen und russischen Firmen zum Bau neuer Reaktoren abgeschlossen. Der Subkontinent entwickelt sich zu einem sehr wichtigen Absatzmarkt für Nukleartechnik. Selbst das Bundeswirtschaftsministerium erwägt, das Projekt in Jaitapur mit einer Hermesbürgschaft zu unterstützen. Denn für AREVA sind in Deutschland knapp 6000 Mitarbeiter tätig. Der Bau des Mega-Atomkraftwerks könnte so mit deutschen Steuergeldern abgesichert werden.

    Im kleinen Küstendorf Ghivli leben etwa 3000 Bewohner direkt neben dem Gelände des Atomkraftwerks Tarapur. Nur eine drei Meter hohe Steinmauer trennt den Hafen von der Anlage. Hier steht Indiens - sogar Asiens - erstes Atomkraftwerk. Im Oktober 1969 gingen die beiden Siedewasserreaktoren ans Netz. Seitdem sind einige Bauten hinzugekommen, erzählt der 42-jährige Anwohner Madhukar Devnath Keni. Von Evakuierungsplänen für die Dorfbewohner habe er noch nichts gehört.

    Rajendra Phatarpekar steht mit Keni und anderen Fischern auf der Kaimauer und unterhält sich. Der Aktivist besucht die Dörfer rund um das Atomkraftwerk Tarapur regelmäßig. Seit das Atomkraftwerk am Netz ist, passieren immer wieder Unfälle und Betriebsfehler, sagt er. Oft müssten die Reaktoren abgeschaltet werden. Bereits vier Jahre nach Start – 1973 – floss eine große Menge radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer. Ein Leck war die Ursache.

    "Der gesamte Fang der Fischer wurde damals beschlagnahmt und vermutlich vernichtet. Sie haben die Fischer medizinisch behandelt, ohne zu sagen, warum. Wahrscheinlich waren sie hoher radioaktiver Strahlung ausgesetzt."

    Physik-Professor Rajamaran sieht in solchen Vorfällen nichts Ungewöhnliches.

    "Auch in einem Chemiewerk gibt es hier und da mal ein Leck oder Kurzschluss. Das passiert eben. Vor allem in Indien. Wenn die Atombehörde das alles melden würde, gäbe es nur Panik. Denn die meisten wissen gar nicht, was das bedeutet, ob nun Reaktor 2 leckt oder nur die Toilette. Für sie macht das doch keinen Unterschied. Ich kann zwar nicht behaupten, es gäbe keine kleinen Zwischenfälle in unseren Atomkraftwerken, aber eines ist sicher: Die Sterblichkeitsrate ist deswegen nicht signifikant gestiegen."

    Genaue Untersuchungen dazu oder zu erhöhten Krebsrisiken für die Anwohner gibt es allerdings nicht. Zahlen und Werte werden von der Atombehörde nur selten herausgegeben. Denn mit dem "Atomic Energy Act" von 1962 darf die indische Regierung mögliche Anfragen mit dem Verweis auf die nationale Sicherheit abweisen. Hinzu kommen fehlende Kontrollstrukturen, sagt der Politologe Kumar Sundaram.

    "Die indische Atombehörde ist direkt dem Premierminister unterstellt. Dem Parlament gegenüber ist sie nicht auskunftspflichtig. Seit 1983 wird die Atomindustrie hier zwar von einem Aufsichtsgremium kontrolliert. Das ist aber nicht unabhängig. Es wird personell und finanziell von der Atombehörde selbst ausgestattet."

    Eine Tatsache, die nicht nur Atomkraftgegner, sondern auch Befürworter kritisieren. Nach dem Reaktor-Unfall im japanischen Fukushima 2011 versprach die indische Regierung Besserung: Ein neues Regulierungsgremium sollte geschaffen werden. Es soll nicht mehr der Atombehörde, sondern den Abgeordneten des Parlaments Auskunft geben. Bisher sind das jedoch nur Pläne.

    Während Indiens Atomprogramm jahrzehntelang kaum vorankam, wächst die junge Ökostrom-Branche rasant. Im April 2012 wurde im Bundesstaat Gujarat, im Nordwesten Indiens, der größte Solarpark Asiens eröffnet. Nur eines der vielen staatlich geförderten Vorzeigeprojekte. Mittlerweile liefern Wind- und Sonne etwa zwölf Prozent der Gesamtenergie Indiens, sagt Chandra Bushan vom Zentrum für Umweltwissenschaften, CSE, in Delhi. Bushan ist deshalb überzeugt, dass Indien ganz auf Atomenergie verzichten könnte.

    "Erneuerbare Energien sind ungefährlicher, wesentlich sauberer und rentabler. Ich sehe keinen Grund, warum wir auf Atomenergie setzen sollten. Wir sollten all unser Geld in erneuerbare Energien stecken und diese fördern."

    Das werde nicht ausreichen, sagt hingegen die Ökonomin Ritu Mathur vom Institut für Energieressourcen. Schließlich sei Ökostrom noch zu teuer und die Technik noch nicht ausgereift. In ihrer Studie rät Mathur der indischen Regierung, auf beides zu setzen; Erneuerbare Energien und Atomkraft.

    "Ich wünsche mir, dass wir schon bald keine Stromausfälle mehr haben, aber ehrlich gesagt sind wir ein Entwicklungsland, das so sehr viel Energie braucht. Ich bin mir sicher, selbst im Jahr 2050 werden wir noch mit Stromausfällen und Energiemangel zu kämpfen haben."