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"Strandgut" von LUX:NM
Sammlung von Fundstücken

Ein glatt polierter Stein, eine gemusterte Muschel - solche Strandfunde versammelt LUX:NM im musikalischen Sinne auf ihrer neuen CD. Ihre Fundstücke stammen von Komponisten der jüngeren Generation: mal schräg, mal zart und in jedem Fall hörbar überraschend.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre |
    Eine Gruppe von Musikern stehen mit ihren Instrumenten im hohen Gras vor einer Häuserfront
    Die Berliner Formation LUX:NM (Vincent Stefan)
    Musik: Gordon Kampe - "Knapp" daraus: "schlimm und dumpf"
    "Wir vereinen auf einem Tonträger Musik, von der wir das Gefühl haben, dass sie zu uns passt" - so das Ensemble LUX:NM über seine klanglich äußerst aufregende Produktion "Strandgut", die kürzlich beim Label GENUIN erschienen ist. Die Musiker hat es interessiert, sich von Dingen überraschen zu lassen, die das Leben unerwartet vor die Füße spült. Dementsprechend verstehen sie auch Strandgut als einer Art Allegorie auf das Leben. Allerdings handelt es sich nicht um musikalische Zufallsfunde. Bei ihrer jüngsten Suche nach Neuem in der Musik ging es LUX:NM um das Besondere, Andersartige oder auch Kantige - ganz in Entsprechung zu einem auffällig glatt polierten Stein, einer kaputten Muschel oder einem Stück Wurzelholz. All diese Gegenstände können als sogenanntes Strandgut gelten, bergen aber ihre eigene Schönheit, gleichsam einzelnen Klängen.
    Fündig geworden sind die Musiker von LUX:NM für ihre "Strandgut"-Produktion konkret bei Gordon Kampe, Yair Klartag, Philipp Maintz, Birke Bertelsmeier und Vassos Nicolaou, die auf jeweils sehr persönliche Weise das Ensemble in seinem Klang geformt, strukturiert und verändert haben.
    Von den Musikern nach jeweiligen Vorlieben bei einem Strandspaziergang befragt, können die Komponisten dort nicht nur Schönheit und Poesie für sich entdecken, sondern auch Abstoßendes. In den Fokus der Wahrnehmung rücken zugleich Steine, Wellen, Bewegung, aber auch Raum, um Nebensächliches wie Hauptsächliches zu vergessen. Alle fünf Kompositionen der vorliegenden Aufnahme repräsentieren gegenwärtige Kompositionssprachen, die mit sehr individuellen Assoziationen verknüpft sind, mal schräg, mal zart und in jedem Fall hörbar überraschend.
    Humorvoll
    Gordon Kampe, Jahrgang 1976, eröffnet mit "Knapp" für Klarinette, Saxophon, Posaune, Akkordeon, zwei Violoncelli und Zuspiel in sechs unterschiedlichen kurzen Sätzen, die ein sehr vielschichtiges und differenziertes Klangspektrum nutzen. Dabei setzt er bewusst auf gestische Momente zwischen Kantigem und Zerbrechlichen. Eine wichtige Inspirationsquelle hierfür lieferte Kampe die Musik von Kurt Weill, die er wegen ihrer trockenen Sprödigkeit und unerwarteten Wandlungsfähigkeit besonders schätzt. Die Präzision einzelner Nummern hat für ihn eine besondere Faszination. "Daher habe ich auch versucht, knappe Gesten und knappe Ideen ohne viel Gedöns zu erfinden", so Kampe.
    Musik: Gordon Kampe - "Knapp" daraus: "Tanzen"
    Literarisch
    Unter ganz anderen Vorzeichen instrumentaler Gestaltung arbeitet der 1985 in Israel geborene Yair Klartag in seinem Stück "Goo-prone". Die Klänge des Saxophons transformiert und verfremdet er, daneben hämmern klare Rhythmen im Klavier, während die Strukturen von Akkordeon und Violoncello durch pulsierende Schläge in der Posaune durchbrochen werden. Diese Komposition ist Teil einer Serie von drei Stücken, die auf Schriften des US-amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace zurückgreifen und sich mit dem Konzept der sogenannten Post-Ironie beschäftigen, so wie Yair Klartag sie begreiftt. Der Titel seines Stückes Goo-prone stammt aus einem Zitat aus dem Roman "Infinite Jest", (deutsch: Unendlicher Spaß) von Wallace, worin er schreibt: "... was als coole zynische Erhabenheit über Gefühle gilt, ist in Wirklichkeit eine eigenartige Angst vor dem Menschsein, denn ein Mensch zu sein, zumindest in seiner Auffassung, bedeutet unausweichlich sentimental, naiv, albern und allgemein armselig zu sein".
    Vor diesem Hintergrund interessierte es Klartag, unterschiedliche Distanzen zwischen sich selbst und den musikalischen Materialien zu schaffen. In der Komposition erscheint Material aus fernen Welten auf kalte und ironische Weise, die aber quasi hüpfend über die zynische strukturelle Positionierung hinausgehen, betont Klartag. Somit werden sie zu einer bedeutungsvollen, direkten Kommunikation zwischen den Musikern und Zuhörern verwandelt.
    Musik: Yair Klartag - "Goo-prone"
    2010 gründeten die Saxophonistin Ruth Velten und Akkordeonistin Silke Lange gemeinsam mit diversen Solisten in Berlin ein Ensemble, um in flexiblen Besetzungen Neue Musik zu erarbeiten. LUX:NM vereint mit Saxophon, Akkordeon, Posaune, Klavier, Violoncello und Elektronik eine eher ungewöhnliche Ensemble-Besetzung, mit der klangliche Möglichkeiten in allen denkbaren Facetten ausgelotet werden. Hinzu kommen wechselnd Gastmusiker - eine musikalische Leitung durch Dirigenten gibt es nicht. Kammermusik, Performances, Installationen der jungen zeitgenössischen Komponierszene mit unterschiedlichsten Handschriften gilt eine bevorzugte Neugier. Neben Gastauftritten bei internationalen Festivals für Neue Musik präsentiert sich das Ensemble mit verschiedenen eigenen Produktionen und Projekten im Musiktheaterbereich.
    Einen literarischen Anknüpfungspunkt nutzt auch Phillip Maintz, Jahrgang 1977 in seiner Komposition "Zornerfüllte Nächte". Alles kreist um eine Textstelle aus dem Roman "Thérèse Raquin" von Émile Zola, auf dem auch seine neue Kammeroper basiert: "Aber welche zornerfüllten Nächte habe ich vor dieser Erschlaffung durchlebt! In meinem kalten Zimmer in Vernon habe ich in meine Kissen gebissen, um meine Schreie zu ersticken ... Zu zweien Malen habe ich fortlaufen, einfach in die Sonne davonlaufen wollen, der Mut hat mir gefehlt." Maintz hat hierfür allerhand Einzelteile eines Psychogramms der unglücklich verheirateten Protagonistin Thérèse zusammengestellt, bis sich ein ganzes Bild für ihn ergeben hat. Das Ensemble behandelt er in teilweise orchestraler Manier, denn trotz der kammermusikalischen Besetzung schimmert immer wieder die Kraft eines großen Klangkörpers durch.
    Musik: Philipp Maintz - "Zornerfüllte Nächte"
    Atmosphärisch
    Das Träumen ist eine wesentliche Inspirationsquelle für die musikalische Handschrift von Birke Jasmin Bertelsmeier, Jahrgang 1981. Bevorzugt sucht sie nach Klangwelten, die unerwartet stutzig machen und potentielle kompositorische Ziele verlassen. Beim Hörer soll sich etwas in Bewegung setzen, das mit Erwartungshaltungen bricht.
    Die Fantasie liefert ihr viel mehr Möglichkeiten für die Entwicklung von Strukturen innerhalb einer Komposition als strenge Regeln, die Vorbildern gehorchen. Bertelsmeier wählt für ihren "Strandgut"-Beitrag den italienischen Titel "Al di là", was "jenseits" oder "auf der anderen Seite" bedeutet. Sie bezieht sich damit inhaltlich auf ein allgemeines menschliches Phänomen und notiert dazu: "Es geht um die Gedanken und die Sehnsucht nach dem Unbekannten, an eine andere, unbekannte Seite, an ein nicht begreifbares Jenseits, an zwei Herzen im gleichen Körper und an das Danach und das Davor."
    Auf der einen Seite reduziert Bertelsmeier die einzelnen Instrumentalaktionen, um den Klang gleichzeitig via Elektronik aufzufächern und somit das Farbspektrum zu erweitern.
    Musik: Birke Bertelsmeier - "Al di là"
    Subtil
    Abschließend fällt der Blick noch auf die Komposition "Chambers" die Vassos Nicolaou, 1971 auf Zypern geboren, für das Ensemble geschrieben hat. Die vorhandenen Instrumente legen Kammermusik nahe und Nicolaou findet in LUX:NM mehrere Formationsmöglichkeiten für ein kammermusikalisches Musizieren, die sich polyphon miteinander kombinieren lassen.
    So verwendet er die beiden Celli in einem schnellen Ping-Pong-Spiel, andere Sub-Ensembles bilden für ihn eine Jazz-Combo wie beispielsweise Saxophon, Posaune und Klavier. Das Akkordeon ließ sich für ihn in Kombination mit der Live-Elektronik wie ein Synthesizer behandeln.
    Zugleich zielt "Chambers" auf verschiedene Hallräume, womit sich auch Echo-Chambers ergeben, die vor allem durch die Resonanzen des Klaviers und Akkordeons hervorgerufen werden. Solcherlei entsteht aber auch über die Elektronik, die Halleffekte erzeugen kann. Diese schaffen imaginäre Räume, in denen die Musik gespielt würde. Mit Hilfe von live-elektronischen Elementen umhüllt Vassos Nicolaou den natürlichen Ensembleklang und verändert dabei ihre Oberfläche, die - wie er dazu anmerkt - vergleichbar sei mit dem Überzug einer galvanischen Schicht.
    Musik: Vassos Nicolaou - "Chambers"
    STRANDGUT
    Ensemble LUX:NM
    Werke von Gordon Kampe, Yair Klartag, Philipp Maintz, Birke Bertelsmeier und Vassos Nicolaou
    CD GENUIN Classics 18628