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Straßenkinder in Indien
Die Schule unter der Brücke

Der Schuldirektor ist der Betreiber eines Tante-Emma-Ladens um die Ecke und ein schwarz gestrichenes Quadrat dient als Tafel: In der indischen Hauptstadt Neu-Delhi lernen über 200 Straßenkinder in einer freien Schule unter einer Metrobrücke.

Von Sandra Petersmann |
    Kinder in der freien Schule unter der Metro-Brücke in Neu-Delhi
    Kinder in der freien Schule unter der Metro-Brücke in Neu-Delhi (ARD / Sandra Petersmann)
    Da kommt sie wieder. Die Metro donnert im Fünf-Minuten-Takt über die Hochbrücke, unter der Monu auf einer alten Yogamatte sitzt und lernt. Er liebt Mathe, mit dem Lesen hapert es. Monu ist zehn Jahre alt, obwohl sein schmächtiger, kleiner Körper nicht danach aussieht.
    Monu lernt in der freien Schule unter einer Metrobrücke in Neu-Delhi. Er möchte am liebsten Soldat werden.
    Monu lernt in der freien Schule unter einer Metrobrücke in Neu-Delhi. Er möchte am liebsten Soldat werden. (ARD / Sandra Petersmann)
    "Manchmal ist die Metro da oben so rasend schnell, dass ich hier unten Angst habe wegzufliegen", sagt er mit schelmischem Lächeln. Wie die meisten Kinder der freien Schule unter der Brücke an der Metrostation am Yamuna-Fluss lebt Monu in den Slums rund um das Viertel Shakapur im Osten Neu-Delhis. Die Eltern der Kinder sind Tagelöhner, sie schuften für Hungerlöhne auf Baustellen und Feldern. Die meisten sind Analphabeten, die ihre Heimatdörfer auf dem Land verlassen haben, um sich in der indischen Hauptstadt mit ihren Familien ein besseres Leben aufzubauen.
    Die Straßenkinder unter der Brücke im Osten Neu-Delhis. 
    Die Straßenkinder unter der Brücke im Osten Neu-Delhis. (ARD / Sandra Petersmann)
    Berufsziel Soldat
    "Ich gehe hier zur Schule, weil ich mal Soldat werden möchte", erzählt der aufgeweckte Monu stolz. Seine Kleidung ist zerrissen. Er mag Uniformen, und er hat gehört, dass Indiens Soldaten sichere Jobs haben und gut verdienen.
    Rajesh Kumar Sharma hat Monu's Schule unter der Brücke vor fünf Jahren gegründet. Der Mittvierziger ist kein gelernter Lehrer. Er besitzt einen kleinen Tante-Emma-Laden und hat nur einen einfachen Schulabschluss. Er hätte gerne studiert, doch das konnten sich seine Eltern nicht leisten.
    Als Rajesh vor fünf Jahren spazierenging, um sich die riesige Metro-Baustelle in seiner Nachbarschaft anzuschauen, sah der Kleinladenbesitzer die Kinder der Wanderarbeiter im Dreck spielen.
    Archana ist eine der freiwilligen Lehrerinnen unter der Metrobrücke in Neu-Delhi. 
    Archana ist eine der freiwilligen Lehrerinnen unter der Metrobrücke in Neu-Delhi. (ARD / Sandra Petersmann)
    Hilfe von Freunden und Freiwilligen
    "Ohne Bildung ist das Leben dieser Kinder zum Scheitern verurteilt", sagte er damals zu sich selber und beschloss, die Slumkinder aus der Nachbarschaft eigenhändig zu unterrichten. Am Anfang kam nur eine Handvoll. Heute sind es mehr als 210.
    Anerkannt ist die freie Schule nicht. Doch die Kinder lernen Lesen und Schreiben, Mathe und Hindi, Erdkunde und Naturwissenschaften. In zwei Schichten, zwischen 9 und 14 Uhr.
    Hilfe bekommt der selbsterklärte Schuldirektor Rajesh von Freunden und von Freiwilligen wie Archana, die regelmäßig ihre Freizeit unter der Metro-Brücke verbringt, um zu unterrichten. Archana schreibt englische Wörter auf ein schwarz angestrichenes Quadrat an einem Stützpfeiler, das als Tafel dient.
    "Diese Kinder wollen unbedingt lernen, sie sind richtig glücklich, wenn sie etwas Neues können", sagt die gut gekleidete Frau aus der indischen Mittelklasse. Der 12-jährige Kishan im zerrissenen Hemd hängt an ihren Lippen. "Hier kann ich so viele Fragen stellen, wie ich will, hier erklären mir die Lehrer immer alle Sachen, die ich in der anderen Schule nicht verstehe", berichtet Kishan und ergänzt: "Nur wenn ich so viel wie möglich lerne, kann ich eine bessere Arbeit finden als meine Eltern."
    Der Junge geht wie die meisten Slum-Schüler unter der Brücke inzwischen auch auf eine staatliche Schule. Darauf legt Schulgründer Rajesh viel wert. Er spricht viel mit den Schulen in der näheren Umgebung. Und mit den Eltern seiner Schüler, um sie davon abzuhalten, ihre Kinder arbeiten zu schicken.
    "Wir sind eine Erste-Hilfe-Station und wir sorgen für kostenlosen Nachhilfeunterricht, aber die Kinder brauchen auch eine richtige Schule", sagt Rajesh Kumar. Eine Frau im gelben Sari kommt auf ihn zu. Sie ist noch ziemlich neu in der Hauptstadt und hat ein kleines Mädchen an der Hand, das sie in der freien Schule unter der Brücke anmelden möchte.
    Geeta, im gelben Sari, meldet ihre kleine Tochter in der freien Schule unter der Metrobrücke im Osten Neu-Delhis an.
    Geeta, im gelben Sari, meldet ihre kleine Tochter in der freien Schule unter der Metrobrücke im Osten Neu-Delhis an. (ARD / Sandra Petersmann)
    Die meisten Eltern sind Analphabeten
    Die Frau im gelben Sari heißt Geeta und schuftet auf den Feldern unten am verdreckten Yamuna-Fluss – für weniger als einen Euro am Tag. Sie ist selber nie zur Schule gegangen. Über 30 Prozent der indischen Bevölkerung können nicht lesen und schreiben. Geeta hat vier Kinder. Ihre kleine Tochter ist das letzte, das sie in der freien Schule unter der Metrobrücke im Osten Neu-Delhis anmeldet.