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Straßenkinder und Koranschulen im Senegal
Das Leid der Talibés

Über 30.000 Kinder betteln allein auf den Straßen von Senegals Hauptstadt Dakar. Viele leben buchstäblich unter der Knute von dubiosen Koranlehrern, die mit dem erbettelten Geld den Terror finanzieren. Gegen einige wird inzwischen ermittelt. Und Senegals Regierung unternimmt einen neuen Versuch, um die Kinder endlich von der Straße zu holen.

Von Alexander Göbel |
    Kinder schlafen im Senegal in einer Daara, einer Koranschule, auf dem Boden. Zehn bis 15 Kinder müssen sich einen Raum teilen.
    Kinder schlafen im Senegal in einer Daara, einer Koranschule, auf dem Boden. (Imago / ZUMA Press)
    Lange vor Sonnenaufgang sitzen mehr als 30 kleine Jungen in ihrem engen, stickigen Schlafraum auf dem nackten Betonboden. Im Kerzenschein lernen sie Koranverse auswendig. Mehrere Stunden geht das so, bis es hell wird. Dann schickt Ibrahim sie raus in die Stadt. Jeder Junge nimmt eine Blechschale mit, zum Betteln. Ibrahim – so nennt sich der Marabout, der Koranlehrer der Kinder. Ibrahim leitet eine Daara, eine Koranschule – in seinem Fall eigentlich eine verlassene Baustelle. Fließendes Wasser gibt es nicht, die Kinder waschen sich notdürftig in einem verschmierten Plastikeimer, tragen Lumpen an den dünnen Körpern. Hautausschläge, laufende Nasen, Luftbäuche und Narben verraten, dass viele von ihnen krank sind - und misshandelt werden.
    "Wenn die Kinder abends in die Koranschule zurückkommen, müssen sie auf jeden Fall etwas mitbringen, sonst werden sie verprügelt", sagt Babacar, der in Dakar für eine Hilfsorganisation arbeitet und das Schicksal der Kinder dokumentiert. "Sie müssen Zucker oder Mehl abliefern, oder Geld - mindestens 250 Franc." Das sind umgerechnet 80 Cent.
    Mehr als 30.000 kleine Talibés, schätzen Hilfsorganisationen, gibt es allein in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Landesweit sollen es mehr als 80.000 solcher Koranschüler sein, die Jüngsten gerade mal vier oder fünf Jahre alt. Daaras, Koranschulen, haben im Sahel eine lange Tradition und sind weit verbreitet. Auch wegen der wachsenden Armut in den Dörfern schicken viele Eltern ihre Kinder lieber auf diese kostenlosen Internate statt auf öffentliche, kostenpflichtige und westlich geprägte Schulen. Betteln gehört zur Ausbildung dazu. Aber in vielen Fällen beuten Koranlehrer ihre Schüler aus, sagt Olivier Kassoka vom Kinderhilfswerk UNICEF.
    Immer mehr Eltern vertrauen ihre Kinder den Daaras an
    "Viele Koranschulen sind nicht in der Lage, den Kindern eine anständige Erziehung zu bieten, geschweige denn eine Schulbildung. Es gibt einfach zu viele Koranlehrer, die selbst keine Ausbildung haben. Die sogar von Stadt zu Stadt ziehen und Kinder zum Betteln schicken, um dieses Geld dann selbst einzukassieren."
    Von einer regelrechten Mafia sprechen Experten in Dakar – denn mit dem erbettelten Geld komme eine Menge zusammen. Da jedoch immer mehr Eltern ihre Kinder den Daaras anvertrauten, müssten die Marabouts - seien sie auch noch so skrupellos - keine Rücksicht auf das Wohl der Kinder nehmen. "Da war ein Lehrer, er hieß Batch. Er schlug mich mit oft mit einem Stock, bis der durchbrach. Deshalb bin ich weggelaufen."
    Khadim, neun Jahre alt, ist einer der kleinen Zeugen, die die Organisation Human Rights Watch für einen Bericht befragt hat. Von regelrechter Folter ist dort die Rede, von unbehandelten Krankheiten und von Kindern, die in ihrer verzweifelten Lage kriminell werden. Die Regierung des Senegal kennt das Leid der Talibés. Vor einigen Jahren starben bei einem Brand in einer Koranschule acht Jungen. Die Regierung versprach, massiv gegen das Zwangsbetteln vorzugehen. Ein neues Kinderschutzgesetz wurde angekündigt. Die wütenden Petitionen im Internet wolle man ernst nehmen, hieß es. Lange ist nichts passiert – bis jetzt. Niokhobaye Diouf, staatlicher Kinderschutzbeauftragter:
    "Seit 2005 gibt es im Senegal ein Gesetz, das Betteln unter Zwang verbietet – für den Missbrauch von Straßenkindern stehen hohe Strafen, von Geldstrafen bis zu fünf Jahren Haft. Leider schert sich niemand um das Gesetz, niemand wacht darüber. Deshalb muss die Regierung jetzt andere Wege gehen, um die Rechte der Kinder zu schützen und sie von der Straße zu holen."
    Das staatliche Schulsystem wurde vernachlässigt
    In einer "Opération Coup de Poing" – zu deutsch: Operation Faustschlag – sammeln Polizisten in Zivil die Kinder ein und führen sie ab wie kleine Verbrecher. Seit Ende Juni werden sie in das Centre Guinddi gebracht, wo sie medizinisch und psychologisch betreut werden. "Bei allen Kindern, die hier bei uns sind, tun wir alles, um die Eltern ausfindig zu machen und die Familien zusammenzubringen", sagt Etienne Dieng vom Centre Guinddi. "Kinder gehören eben nicht auf die Straße – sie sollen nur so lange übergangsweise bei uns bleiben, bis wir ihre Familien gefunden haben."
    Bisher ist der Erfolg mäßig – weniger als 200 Kinder konnten seitdem gerettet werden. Unklar ist auch, ob sie jemals wieder bei ihren Eltern leben können. Überhaupt, so kritisieren Kinderschutzverbände und politische Beobachter, sei diese Initiative nur Kosmetik, wahrscheinlich entstanden auf Druck internationaler Geber, bei denen die Regierung des Senegal sich einmal mehr als Musterschüler zeigen wolle. Man setze bei den Symptomen an – nicht bei den Ursachen. In Wahrheit müsse die Marabout-Mafia bekämpft werden – doch an die traue der Staat sich nicht heran, ebenso wenig an eine echte Reform des Schulsystems. Bakary Sambé, Direktor des Timbuktu Instituts für Friedensforschung in Dakar, kritisiert: Statt das säkulare Schulsystem zu fördern, habe der Senegal jahrzehntelang zugesehen, wie islamische Organisationen Schulen gründeten - mit viel Geld aus arabischen Ländern. "Sie haben Schulen gebaut und Moscheen; sie haben Imame eingesetzt, über die der Staat keine Kontrolle hat – weder über ihre pädagogische Arbeit, noch über ihre ideologische Ausrichtung!"
    Koranschulen als Rekrutierungsorte für den Terrorismus
    Mit verheerenden Folgen: Koranschulen sind auch im Senegal ins Visier der Behörden gerückt – und das nicht wegen der Misshandlungen. Im Februar wurde ein Imam verhaftet, der in der Stadt Kaolack eine Schule mit rund 300 Jungs betrieb. Er hatte sich mehrfach mit einem senegalesischen Dschihadisten getroffen, der in mehreren westafrikanischen Ländern für die nigerianische Terrororganisation Boko Haram rekrutierte. Seit Januar gab es über 500 Verhaftungen, die vage mit "dem Kampf gegen Extremismus" erklärt wurden. Die Regierung erkennt, dass angesichts der weitverbreiteten Armut ein ähnliches Potenzial wie im Norden Nigerias herrscht, wo die Koranschulen zu den wichtigsten Rekrutierungsorten für Boko Haram zählen. Den vielen Tausend kleinen Bettelsklaven im Senegal hilft diese Erkenntnis wenig.
    In Ibrahims Koranschule am Stadtrand von Dakar ändert sich so schnell nichts. Acht Stunden Betteln, neun Stunden Koran – das ist und bleibt der Rhythmus der kleinen Talibés. Und wer die Suren nicht auf Kommando herbeten kann, bekommt Ibrahims Peitsche zu spüren.