"Hallo, hat hier jemand ein Problem, möchte jemand beraten werden?" Burkhard Czarnitzki sitzt auf einem grünen Sofa mitten vor dem Hamburger Hauptbahnhof und scherzt mit einer Gruppe Jugendlicher. Ein bunter Haufen, die einen punkig mit Dreadlocks, Piercings oder gefärbten Haaren, die anderen mit tief sitzender Hose und Schirmmütze oder mit Hotpants und Dutt. Was sie eint: Sie alle sind Straßenkinder. Gemeinsam mit dem Leiter Czarnitzki haben sie ihre Anlaufstelle namens Kids kurzerhand auf die Straße verlegt. Aus Protest.
"Wir haben die Sofas und alles was zum Kids gehört, raus gebracht. Jetzt sind wir hier und zeigen halt, wie es wäre, wenn wir diese Räume nicht mehr haben, weil wir dann ja selber auch mit unserem Raum vor der Obdachlosigkeit stehen, genau wie die Leute, die hier reingehen."
Kicker, Sofa, Lautsprecherboxen stehen normalerweise im Kids. Einem geschützten Raum für junge Obdachlose, im Erdgeschoss eines über einhundert Jahre alten Kontorhauses direkt am Hauptbahnhof. Die 17-jährige Anna ist hier fast zwei Jahre ein und aus gegangen. "Das Kids hat eine extrem wichtige Rolle gespielt, weil ich halt einmal die lebensnotwendigen Sachen gekriegt habe, ich hab hier Essen haben können, ich hab hier duschen können, ich hab hier alles mögliche haben können. Aber vor allem war es auch der emotionale Bereich, dass ich immer mit irgendwem sprechen konnte, wenn mich was belastet hat, und dass die mich dann im Endeffekt davon überzeugt haben, dass es vielleicht besser wäre, mal wieder zum Jugendamt zu gehen."
Gebäude soll saniert werden
Seit drei Monaten ist sie runter von der Straße, rein in eine Jugendwohnung. Jetzt führt Anna durch die 160 Quadratmeter Rückzugsraum. Küche, ein offener Bereich, Fernseher, drei Computer. Tag für Tag kommen bis zu 40 Minderjährige hierher zum Wäschewachsen, Essen, Ausruhen, Reden. "Hier ist auch noch ein riesen Schrank, wo immer Kleidungsspenden drin sind. Und jetzt gehen wir halt von dem offenen Bereich zu dem Zimmer der Pädagogen."
Ein niedrigschwelliges Angebot ohne viele Regeln, das die Kinder und Jugendlichen wieder mit Erwachsenen ins Gespräch bringen soll. Zehn Sozialpädagogen arbeiten hier. Sie wollen die Kids da abholen, wo sie sind, in ihrer Lebenswelt. "Straßenkinder in Hamburg sind hier am Hamburger Hauptbahnhof. Und das seid 23 Jahren."
2006 hat der damalige CDU-Senat die repräsentative Liegenschaft mit Dutzenden anderen verkauft, jetzt will die Immobiliengesellschaft Alstria das Gebäude sanieren. Dach ab, Fassade neu, zwei Jahre Großbaustelle, sagt Sprecher Ralf Dibbern, das Kids könne unmöglich bleiben. Man habe angeboten, den Umzug zu bezahlen, für Mehrkosten bei der neuen Miete aufzukommen. Nur: Es findet sich nichts. Seit letztem Sommer bereits unterstützt die Sozialbehörde die Raumsuche. "Das ist aber eben in Hauptbahnhofnähe hier in Hamburg sehr, sehr schwierig, weil es schlichtweg keine staatlichen Gebäude dort gibt, wir sind auf Privatvermieter angewiesen", sagt Behördensprecher Marcel Schweitzer. "Wir haben aber ein Empfehlungsschreiben zugesandt, das zeigen soll, unsere Behörde steht hinter dem Projekt. Wir haben ein großes Interesse daran, dass es dort vor Ort weiter aktiv sein kann."
Doch: Es nützt nichts. Das einzige Angebot sei zu abgeschieden, die Gegend zu dunkel, kritisiert Leiter Czarnitzki. Und nicht weit vom Drogenkonsumraum Drob-Inn, kritisiert Trietze, die ihren Bundesfreiwilligendienst in der Straßensozialarbeit macht. "Das kann's nicht sein, dass 14-, 15-Jährige, die sowieso schon eine Problematik haben, abends um neun unter Umständen noch am Drob-Inn vorbei müssen, das geht einfach nicht."
Stadt hilft bei der Suche
Die 20-Jährige war vor drei Jahren selbst auf der Straße: "Ich bin aus einem Heim geflüchtet, das nicht sehr schön war, und kam dann hier in Hamburg an, ohne Klamotten, Perspektive, Geld, gar nichts dabei. Wäre das Kids irgendwann nicht gewesen, wäre ich am Hauptbahnhof versackt, und wäre da nie rausgekommen, würde da heute noch besoffen in der Ecke rumliegen."
Die Stadt fördert das Kids seit der Gründung 1993. 750.000 Euro überweist sie in diesem Jahr für den Betrieb der wohl größten Straßenkinderanlaufstelle Deutschlands. "Das ist eine ganz, ganz wichtige Anlaufstelle für Straßenkinder, weil wir so überhaupt einen Zugang haben zu ihnen", sagt Behördensprecher Schweitzer. Er ist optimistisch, dass es für das Kids irgendwie weitergeht. Nur wie, das bereitet Leiter Burkhard Czarnitzki Sorgen. "Allein schon wenn ich das Wort Notlösung in den Mund nehme, wird mir schon übel. Weil diese jungen Menschen, die wir betreuen, die haben ihr Leben lang unter Notlösungen teilweise gelitten. Und für die möchte ich keine Notlösung, sondern ich möchte denen eine Lösung anbieten."
Doch die ist nicht in Sicht. Czarnitzki stellt sich schon auf einen Umzug in Bürocontainer ein. Schon bald könnten nicht mehr nur bunte Sofa vor dem Hauptbahnhof stehen, sondern weiße Blechmodule.