"Unser Ziel ist ein Afghanistan, in dem Strukturen herrschen, die es verhindern, dass wieder Taliban und terroristische Kräfte gemeinsam eine Bedrohung nicht nur für Afghanistan, sondern für uns auch darstellen. Das muss verhindert werden."
Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern bei der Vorstellung der Afghanistan-Strategie der Bundesregierung. Unmittelbar vor der internationalen Afghanistan-Konferenz, die morgen in London stattfindet, hat die schwarz-gelbe Bundesregierung ihre Afghanistan-Politik neu justiert. Außenminister Guido Westerwelle wird die Bundesregierung in London vertreten. Die Konferenz soll nach den Ereignissen des letzten Jahres nun mit einer veränderten Strategie einen entschlossenen und gezielten Wiederaufbau des Landes am Hindukusch einleiten.
Im vergangenen Jahr hatten die USA - einer der wichtigsten Partner bei den Aufbaubemühungen - ihre nationale Strategie verändert. Nicht nur die Geduld Washingtons mit Afghanistans Präsident neigte sich dem Ende zu. In der gesamten Staatengemeinschaft war die Kritik an Karsai gewachsen: Er hatte sich in den vergangenen Jahren immer unverhohlener auf die korrupten Ränkespiele der afghanischen Stammesfürsten und Warlords eingelassen und damit das Vertrauen des Westens zunehmend verspielt. Zuletzt sorgten die massiv gefälschten Präsidentenwahlen im Herbst vergangenen Jahres für Verärgerung. Dennoch musste die Staatengemeinschaft ihn im Amt bestätigen. Nun präsentiert sie ihm die Rechnung.
Die Entwicklung in Afghanistan sorgt in allen Staaten, die sich am Hindukusch engagieren, für politische Turbulenzen - spätestens seit den Ereignissen von Kundus und dem Auftakt des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags schieben sie sich auch hierzulande immer mehr in den Vordergrund der innenpolitischen Debatte. Mit ihrem Eintritt in die Bundesregierung hatte sich zunächst besonders die FDP zu einem Fürsprecher einer veränderten Strategie gemacht. Doch jetzt übt sich die schwarz-gelbe Bundesregierung im Schulterschluss: Die Afghanistan-Politik wird von einer breiten Phalanx von Ministern mitgetragen und öffentlich vertreten. Gestern stellten sich die Kanzlerin und vier Minister der Öffentlichkeit: Außenminister Westerwelle, Verteidigungsminister zu Guttenberg, Innenminister de Maiziere und Entwicklungshilfeminister Niebel.
In den Zeiten der Großen Koalition hatte sich vor allem Außenminister Steinmeier stets betont zurückgehalten und die Vertretung der Afghanistan-Politik dem Verteidigungsminister überlassen. Schließlich gab es doch oft genug nur schlechte Nachrichten, die da zu verkünden waren. Den Eindruck, dass die gesamte Regierung die Bemühungen um Afghanistan geschlossen mitträgt, hat die schwarz-rote Vorgängerregierung jedenfalls nicht vermitteln können.
Jetzt sorgt vor allem für Aufmerksamkeit, wie sich Entwicklungshilfeminister Niebel daran beteiligt. Seine Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte noch ein Weißbuch herausgegeben, in dem die Bundeswehr im Zusammenhang mit Afghanistan gar nicht erwähnt worden war.
Die Entwicklungshelfer hatten sich stets dagegen gewehrt, als ein Teil gesamtstaatlicher Aufbaubemühungen gesehen und damit in die Nähe des Bundeswehreinsatzes gerückt zu werden. Das führte zu Beginn des Einsatzes in Kundus dazu, dass der Vertreter des Entwicklungshilfeministeriums nicht mit dem Flugzeug der Luftwaffe von Kabul nach Kundus reiste, sondern eine tagelange Fahrt mit dem Auto in Kauf nahm. Ministerin Wieczorek-Zeul vertrat im vergangenen Herbst noch öffentlich die Auffassung, dass Bundeswehroperationen am Hindukusch den deutschen Entwicklungshelfern nur schaden könnten. Ihr Nachfolger Dirk Niebel sieht das anders:
"Überall da, wo unsere Soldaten für Sicherheit sorgen, brauchen die Menschen eine Friedensdividende. Das heißt, auch da müssen die Aufbauarbeiten intensiviert werden, und damit die Bürger merken, wenn es sicher ist, wenn nicht mehr gekämpft wird, haben wir als Bürger, als Menschen in Afghanistan da etwas davon."
Diese Position der Bundesregierung ist umstritten. Entwicklungshilfeorganisationen wollen sich nicht auf integrierte staatliche Strategien einlassen, selbst dann nicht, wenn sie zu erheblichen Teilen aus Steuermitteln finanziert werden. Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann:
"Ich bitte aber darum, auch ernst zu nehmen, auch im Interesse all derer, die zivil vor Ort arbeiten, dass die Vermengung von militärischen und humanitären Mandaten nicht nur schädlich, sondern zum Teil auch lebensgefährlich ist. Ich kann Sie auch nur einladen, mit uns mal vor Ort unterwegs zu sein, zu schauen, was Nichtregierungsorganisationen ohne militärischen Schutz leisten können, zum Beispiel im Süden, wo wir fantastische Programme machen als Alternativen zum Opiumanbau. Das geht, weil dort keine Bundeswehr unterwegs ist und weil man uns nicht mit den Amerikanern verwechselt."
Manch ein Entwicklungshelfer, der direkt im Einsatzland ist, steht einer Zusammenarbeit vor Ort allerdings offener gegenüber. Minister Niebel versichert:
"Wir wollen ausdrücklich keine Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, aber wir wollen ein abgestimmtes Vorgehen."
Durch dieses Zusammenrücken der unterschiedlichen Ministerien wird es nun möglich, dass Deutschland in allen Aufgabebereichen der Nordregion die Zuständigkeit übernimmt, nicht nur im militärischen. Dieser breite Ansatz ist Teil des vernetzten Konzepts, für das Deutschland eigentlich immer geworben hatte. Das Wiederaufbauteam Kundus wurde noch zu Zeiten der rot-grünen Regierung konzipiert und eingerichtet. Dort sollten Vertreter des Außenministeriums, des Entwicklungshilfeministerium, des Wirtschaftsministeriums und der Polizei mit der Bundeswehr zusammenarbeiten. Diese sogenannten PRTs wurden von der CDU/CSU-SPD-Regierung fortgesetzt, die auch auf vielen internationalen Konferenzen weiter für den vernetzten Ansatz warb. Aber erst jetzt soll dieser Ansatz tatsächlich umgesetzt werden. Die Ziele formulierte Bundeskanzlerin Angela Merkel so:
"Wir wollen, dass am Ende der Legislaturperiode drei Viertel der Menschen im Norden einen Zugang zu Beschäftigung haben. Heute sind es 30 Prozent. Also eine deutliche Steigerung. Wir wollen 700 Kilometer Straßen und Infrastrukturverbesserungen bauen, damit auch Märkte erreicht werden können, damit Produkte verkauft werden können. Wir wollen 50 Prozent der Menschen im Norden Zugang zu Energie und Trinkwasser ermöglichen. Heute sind es 22 Prozent, also über eine Verdoppelung. Und wir wollen, dass anstelle der 25 Prozent der Kinder, die heute in die Schulen gehen, am Ende dieser Legislaturperiode 60 Prozent der Kinder Zugang zu einer Schule haben durch deutsche Entwicklungshilfe."
Diese Ziele sollen überall dort erreicht werden, wo Deutschland bereits engagiert ist:
"Was den Wiederaufbau anbelangt: Hier haben wir uns vorgenommen, wie auch in allen militärischen Fragen, uns auf den Norden besonders zu konzentrieren und die Mittel für den zivilen Wiederaufbau ab dem Jahre 2010 nahezu zu verdoppeln. Das heißt, von heute 220 Millionen Euro auf 430 Millionen Euro."
Das sind konkrete Ziele - und ein ehrgeiziges Unterfangen: Die Bundesregierung will mit ihren Anstrengungen nun aus den Ballungszentren in ländliche Regionen vordringen. Entwicklungshilfeminister Niebel:
"In den Zentren sind wir schon relativ gut. 25 Prozent der Schüler im Norden Afghanistans gehen in die Schule, 900.000 Menschen haben mittlerweile Zugang zu Strom und Wasser. Das sind gute Erfolge. Die müssen aber in die Fläche getragen werden, weil die Masse der Menschen in Afghanistan eben in ländlichen Regionen lebt. Und deswegen müssen wir die ländlichen Strukturen stärken."
Auch damit geht die Bundesregierung den bereits eingeschlagenen Weg weiter. Die Staatengemeinschaft begann ihr Afghanistan-Engagement 2001 in der Hauptstadt Kabul, dehnte es ab 2004 dann langsam über alle Provinzen im Land aus. Jetzt soll sich das deutsche Engagement auf die ländlichen Regionen erstrecken. Die intensivierten Aufbaubemühungen auf dem Land zeigen auch, dass das Bild von der Entwicklung Afghanistans durchaus differenzierter ist, als das oft dargestellt wird. Auch der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel betont das:
"Vieles Gute ist vorangekommen. Den Rückzugsraum für international agierende Terroristen gibt es in Afghanistan längst nicht mehr. Schulen und Straßen wurden gebaut. Die medizinische Versorgung hat sich verbessert, die Strom- und Wasserversorgung ebenfalls. Das Talibanregime ist nicht mehr an der Macht. Das Land hat eine neue Verfassung, erste Wahlen haben stattgefunden."
Aber das ist nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden nur die eine Seite der Medaille - Gabriel sieht hauptsächlich diese Probleme:
"Die Sicherheitslage im Land hat sich in letzter Zeit verschlechtert. Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind heftiger geworden. Die Helfer der internationalen Gemeinschaft und die afghanische Armee und Polizei haben bittere Verluste zu beklagen. Viele Zivilisten leiden."
Um die Sicherheitslage zu verbessern, will die Bundesregierung neben den militärischen Mitteln nun auch ein weiteres ziviles Element aufgreifen: Menschen, die sich nicht aus Überzeugung, sondern aus wirtschaftlicher Not den Aufständischen angeschlossen haben, sollen eine neue Perspektive erhalten. Außenminister Westerwelle spricht von einem Aussteigerprogramm:
"Wir werden auch in London den Vorschlag machen, dass es ein Aussteigerprogramm gibt für die sogenannten Mitläufer. Das heißt, dass diejenigen, die nicht als gewaltbereite Terroristen mit ideologischer Verblendung diesen Kampf führen, sondern dass andere, die mitlaufen, oft genug auch, weil sie wirtschaftlich dort etwas angeboten bekommen, dass die jetzt ein Aussteigerprogramm bekommen, um auch in die Gesellschaft reintegriert zu werden."
Für diesen Zweck ist ein internationaler Fonds geplant, der mit jährlich 350 Millionen Euro gespeist werden soll. Deutschland will jährlich zehn Millionen Euro beisteuern - fünf Jahre lang. Der Fonds soll Arbeitsplätze schaffen, um Menschen in Afghanistan eine wirtschaftliche Perspektive zu geben.
Dieser Ansatz greift Beobachtungen auf, die Soldaten der internationalen Schutztruppen schon lange machten: Die Taliban - und andere aufständische Gruppen - greifen bei Anschlägen immer auf Männer zurück, die sich aus der Zivilbevölkerung rekrutieren. Die Taliban unterhalten keine stehenden Heere. Spätestens seit der Umstellung auf Guerilla- und Terrortaktiken sind sie bei jedem Anschlag auf Kämpfer aus der Region angewiesen. Diese werben sie oft als Tagelöhner an. So wird die Unterscheidung zwischen Taliban und Zivilisten immer schwieriger. Und erschwerend kommt hinzu, dass die angeworbenen Aktivisten aus den Dörfern jeden Baum und Strauch in ihrem Umfeld kennen.
Deshalb setzt der neue Fonds auf der lokalen Ebene an: Er soll Arbeitsplätze finanzieren, die den Dorfbewohnern angeboten werden. Ziel ist es, sie in längerfristige Beschäftigungsverhältnisse umzuwandeln. Die Dorfbewohner, so das Kalkül, seien dann nicht mehr so leicht von Aufständischen zu rekrutieren.
Dieses Konzept hat sich schon bewährt. Vor einigen Jahren hatten die Niederländer in ihren Einsatzregionen derartige Programme aufgelegt und positive Erfahrungen gemacht: Dort verloren die Taliban sukzessive ihre Rekrutierungsbasis. In vielen Dörfern kehrte langsam die Normalität zurück - und mit ihr viele Arbeitgeber. Allmählich begann ein Prozess der Stabilisierung. Warum man aus diesen Erfahrungen nicht die entsprechenden Lehren zog, gehört zu den Ungereimtheiten des internationalen Einsatzes in Afghanistan.
Nun soll dieser Fonds unter dem Etikett Reintegration - wie alle Maßnahmen - gemeinsam mit der Regierung Afghanistans verwaltet werden. Bundesaußenminister Guido Westerwelle nennt einige Bedingungen für jene, die aus dem Fonds unterstützt werden sollen:
"Natürlich ist es so, dass die Grundlage dieses Reintegrationsprogramms Gewaltverzicht ist und selbstverständlich auch die Akzeptanz der afghanischen Verfassung."
Aber wer will schon zuverlässig feststellen, dass nicht doch irrtümlicherweise militante Taliban und aktive Kämpfer mitfinanziert werden? Hier setzt die Bundesregierung auf die Mitwirkung afghanischer Regierungsstellen - obwohl das Vertrauen in die politische Führung Afghanistans schweren Schaden genommen hat.
Präsident Karsai wird von der Staatengemeinschaft immer wieder ermahnt, die Prinzipien einer "guten Regierungsarbeit" umzusetzen. Das heißt: Er soll vor allem gegen die Korruption in seinem Land, aber auch in seiner eigenen Regierung vorgehen. Karsai hat dies bei seiner zweiten Amtseinführung im vergangenen Herbst versprochen. Tatsächlich gibt es erste Anzeichen für eine entschlossenere Korruptionsbekämpfung. Das Parlament lehnte - auch wegen Korruptionsverdachts - etliche Kandidaten für Ministerposten im Kabinett Karsai ab. Und es soll Verhaftungen gegeben haben - angeblich sitzt der Bürgermeister von Kabul in Haft. Entwicklungsminister Dirk Niebel bleibt jedoch skeptisch:
"Wir versuchen, das dadurch zu flankieren, dass die neuen Maßnahmen durch deutsche Durchführungsorganisationen umgesetzt werden, dass die Mittelvergabe direkt durch die KfW Entwicklungsbank an den beauftragten Unternehmer stattfindet und dass nachgehalten wird, was mit den Mitteln dann tatsächlich passiert."
Dies gilt auch für die anderen Wirtschaftsmaßnahmen, die die Bundesregierung angekündigt hat. Ziel des Programms ist es, den Sicherheitsrahmen auszufüllen, den ISAF gestaltet - doch das geht viel zu langsam, beklagen sich Soldaten der ISAF. Diplomatisch äußert sich der Chef des Stabes beim NATO Hauptquartier für Operationen, der deutsche Vier-Sterne-General Karl-Heinz Lather - nicht nur die NATO sucht nach zusätzlichen Kräften:
"Es geht ja parallel einher - das ist je eine etwas einseitige Debatte, die wir haben - zu der sogenannten militärischen Surge eine zivile Surge, also ein Aufwuchs von zivilen Aufbaukräften, der aber verständlicherweise immer langsamer vorangeht als der militärische."
Um den erforderlichen Sicherheitsrahmen zu erhalten und zu schaffen, bedarf es vieler Polizisten und Soldaten. Die Staatengemeinschaft will nun verstärkt afghanische Sicherheitskräfte ausbilden. Deutschland engagiert sich besonders bei der Ausbildung der Polizei. Insgesamt sollen rund 135.000 Polizisten qualifiziert werden. Diese sollen in einem Land für innere Sicherheit sorgen, das seine internen Sicherheitsprobleme noch niemals in seiner Geschichte durch eine zentrale Polizei lösen ließ. So werden besonders die Polizisten zur Zielscheibe der Aufständischen, die sich durch Polizeikräfte der künftigen Kabuler Zentralmacht in ihrem Machtanspruch bedroht sehen.
Trotzdem will die Bundesregierung hier - wiederum besonders für den Norden - eine spezielle Verantwortung wahrnehmen. Die Zahl der Polizeiausbilder soll von gegenwärtig 123 auf 200 steigen. Ähnliche Zusagen konnten indes bislang nicht eingehalten werden, weil man auf Polizisten angewiesen ist, die sich freiwillig zum Einsatz melden. Bisher gab es aber nicht genügend Kandidaten, die bereit gewesen wären, nach Afghanistan zu gehen.
Neben den Polizeikräften sollen auch rund 170.000 Soldaten ausgebildet werden. Auch daran beteiligt sich die Bundeswehr seit Beginn des Einsatzes, und darauf wird sie künftig einen noch größeren Wert legen. Verteidigungsminister zu Guttenberg formuliert den Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan so:
"Schutz der Bevölkerung, Verstärkung der Ausbildungsbemühungen, um hier auch messbare Erfolge zu erzielen, natürlich auch die Gewährleistung und Sicherung von zivilen Aufbauerfolgen."
Schutz vor Anschlägen und Absicherung des Erreichten - das sind Kampfaufträge für den Fall, dass die Bevölkerung oder neu geschaffene Einrichtungen angegriffen werden. Da dürfte die Schnelle Eingreiftruppe, die die Bundeswehr bislang dort unterhielt, möglicherweise schnell vermisst werden:
"Die Quick Reaction Force wird es nicht mehr geben wie es sie bisher gab, sondern die Quick Reaction Force wird in ihrem Auftrag aufgelöst - und gerade da finden die Umstrukturierungen statt. Statt der Quick Reaction Force werden mit einem gewissen Aufwuchs, der hier noch stattfindet, die Ausbildungs- und Schutzkomponente herausgebildet."
Die Frage des Aufwuchses, also der Erhöhung der Zahl eingesetzter Soldaten, ist politisch in Deutschland hoch umstritten. Die deutschen Kommandeure, die aus Afghanistan zurückkehren, haben immer wieder rund 2500 zusätzliche Soldaten gefordert, um alle Aufgaben angemessen bewältigen zu können. Ein ähnliche Zahl nannte auch die NATO. Aber die Bundesregierung zögerte lange und entschied sich anders.
Die Reaktion: Die USA erklärten, sie würden bis zu 5000 Soldaten in den Norden verlegen. Damit ist zwar der Druck auf die Bundesregierung genommen. Sie will nun lediglich 500 zusätzliche Soldaten dauerhaft entsenden und eine Reserve von 350 Soldaten bereit halten, um das deutsche Kontingent von derzeit 4500 deutschen Soldaten aufzustocken. Wie sich die Berliner Entscheidung aber auf die Lage vor Ort und auf die Diskussionen im Bündnis auswirken wird, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Diese Entscheidung ist der innenpolitischen Kontroverse um diesen Einsatz geschuldet - hatte die SPD-Opposition doch erklärt, sie werde keinem Konzept zustimmen, bei dem zusätzliche Kampftruppen vorgesehen sind. Das wird auch die Regierung bei der Formulierung der eigenen Strategie beeinflusst haben.
Damit nicht genug: Die SPD pochte auf einen Termin für den Beginn eines Truppenrückzugs. US-Präsident Barack Obama will 2011 die ersten Truppenteile nach Hause holen. SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert:
"Beginn des Abzugs mit den Amerikanern Mitte 2011. Es kann ja nicht sein, dass die Bundeswehr dort bleibt und die Amerikaner beginnen, abzuziehen. Zweitens: Im Zentrum dürfen nicht Kampfhandlung stehen, sondern die verstärkte Ausbildung von afghanischer Polizei und Soldaten."
Für das Abzugsszenario ist ein weiterer Termin von Bedeutung: Im Jahr 2012 finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Der Vorwahlkampf beginnt bereits Mitte 2011. Die US-amerikanische Innenpolitik wird bei der Debatte um den Truppenrückzug aus Afghanistan also immer eine große Rolle spielen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel will keinen Termin für das Ende der Abzugsphase nennen. Heute in der Regierungserklärung meinte sie:
"Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Aber ich sage an dieser Stelle auch klar und deutlich: Ein endgültiges Abzugsdatum nenne ich ausdrücklich nicht."
Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern bei der Vorstellung der Afghanistan-Strategie der Bundesregierung. Unmittelbar vor der internationalen Afghanistan-Konferenz, die morgen in London stattfindet, hat die schwarz-gelbe Bundesregierung ihre Afghanistan-Politik neu justiert. Außenminister Guido Westerwelle wird die Bundesregierung in London vertreten. Die Konferenz soll nach den Ereignissen des letzten Jahres nun mit einer veränderten Strategie einen entschlossenen und gezielten Wiederaufbau des Landes am Hindukusch einleiten.
Im vergangenen Jahr hatten die USA - einer der wichtigsten Partner bei den Aufbaubemühungen - ihre nationale Strategie verändert. Nicht nur die Geduld Washingtons mit Afghanistans Präsident neigte sich dem Ende zu. In der gesamten Staatengemeinschaft war die Kritik an Karsai gewachsen: Er hatte sich in den vergangenen Jahren immer unverhohlener auf die korrupten Ränkespiele der afghanischen Stammesfürsten und Warlords eingelassen und damit das Vertrauen des Westens zunehmend verspielt. Zuletzt sorgten die massiv gefälschten Präsidentenwahlen im Herbst vergangenen Jahres für Verärgerung. Dennoch musste die Staatengemeinschaft ihn im Amt bestätigen. Nun präsentiert sie ihm die Rechnung.
Die Entwicklung in Afghanistan sorgt in allen Staaten, die sich am Hindukusch engagieren, für politische Turbulenzen - spätestens seit den Ereignissen von Kundus und dem Auftakt des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags schieben sie sich auch hierzulande immer mehr in den Vordergrund der innenpolitischen Debatte. Mit ihrem Eintritt in die Bundesregierung hatte sich zunächst besonders die FDP zu einem Fürsprecher einer veränderten Strategie gemacht. Doch jetzt übt sich die schwarz-gelbe Bundesregierung im Schulterschluss: Die Afghanistan-Politik wird von einer breiten Phalanx von Ministern mitgetragen und öffentlich vertreten. Gestern stellten sich die Kanzlerin und vier Minister der Öffentlichkeit: Außenminister Westerwelle, Verteidigungsminister zu Guttenberg, Innenminister de Maiziere und Entwicklungshilfeminister Niebel.
In den Zeiten der Großen Koalition hatte sich vor allem Außenminister Steinmeier stets betont zurückgehalten und die Vertretung der Afghanistan-Politik dem Verteidigungsminister überlassen. Schließlich gab es doch oft genug nur schlechte Nachrichten, die da zu verkünden waren. Den Eindruck, dass die gesamte Regierung die Bemühungen um Afghanistan geschlossen mitträgt, hat die schwarz-rote Vorgängerregierung jedenfalls nicht vermitteln können.
Jetzt sorgt vor allem für Aufmerksamkeit, wie sich Entwicklungshilfeminister Niebel daran beteiligt. Seine Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte noch ein Weißbuch herausgegeben, in dem die Bundeswehr im Zusammenhang mit Afghanistan gar nicht erwähnt worden war.
Die Entwicklungshelfer hatten sich stets dagegen gewehrt, als ein Teil gesamtstaatlicher Aufbaubemühungen gesehen und damit in die Nähe des Bundeswehreinsatzes gerückt zu werden. Das führte zu Beginn des Einsatzes in Kundus dazu, dass der Vertreter des Entwicklungshilfeministeriums nicht mit dem Flugzeug der Luftwaffe von Kabul nach Kundus reiste, sondern eine tagelange Fahrt mit dem Auto in Kauf nahm. Ministerin Wieczorek-Zeul vertrat im vergangenen Herbst noch öffentlich die Auffassung, dass Bundeswehroperationen am Hindukusch den deutschen Entwicklungshelfern nur schaden könnten. Ihr Nachfolger Dirk Niebel sieht das anders:
"Überall da, wo unsere Soldaten für Sicherheit sorgen, brauchen die Menschen eine Friedensdividende. Das heißt, auch da müssen die Aufbauarbeiten intensiviert werden, und damit die Bürger merken, wenn es sicher ist, wenn nicht mehr gekämpft wird, haben wir als Bürger, als Menschen in Afghanistan da etwas davon."
Diese Position der Bundesregierung ist umstritten. Entwicklungshilfeorganisationen wollen sich nicht auf integrierte staatliche Strategien einlassen, selbst dann nicht, wenn sie zu erheblichen Teilen aus Steuermitteln finanziert werden. Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann:
"Ich bitte aber darum, auch ernst zu nehmen, auch im Interesse all derer, die zivil vor Ort arbeiten, dass die Vermengung von militärischen und humanitären Mandaten nicht nur schädlich, sondern zum Teil auch lebensgefährlich ist. Ich kann Sie auch nur einladen, mit uns mal vor Ort unterwegs zu sein, zu schauen, was Nichtregierungsorganisationen ohne militärischen Schutz leisten können, zum Beispiel im Süden, wo wir fantastische Programme machen als Alternativen zum Opiumanbau. Das geht, weil dort keine Bundeswehr unterwegs ist und weil man uns nicht mit den Amerikanern verwechselt."
Manch ein Entwicklungshelfer, der direkt im Einsatzland ist, steht einer Zusammenarbeit vor Ort allerdings offener gegenüber. Minister Niebel versichert:
"Wir wollen ausdrücklich keine Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, aber wir wollen ein abgestimmtes Vorgehen."
Durch dieses Zusammenrücken der unterschiedlichen Ministerien wird es nun möglich, dass Deutschland in allen Aufgabebereichen der Nordregion die Zuständigkeit übernimmt, nicht nur im militärischen. Dieser breite Ansatz ist Teil des vernetzten Konzepts, für das Deutschland eigentlich immer geworben hatte. Das Wiederaufbauteam Kundus wurde noch zu Zeiten der rot-grünen Regierung konzipiert und eingerichtet. Dort sollten Vertreter des Außenministeriums, des Entwicklungshilfeministerium, des Wirtschaftsministeriums und der Polizei mit der Bundeswehr zusammenarbeiten. Diese sogenannten PRTs wurden von der CDU/CSU-SPD-Regierung fortgesetzt, die auch auf vielen internationalen Konferenzen weiter für den vernetzten Ansatz warb. Aber erst jetzt soll dieser Ansatz tatsächlich umgesetzt werden. Die Ziele formulierte Bundeskanzlerin Angela Merkel so:
"Wir wollen, dass am Ende der Legislaturperiode drei Viertel der Menschen im Norden einen Zugang zu Beschäftigung haben. Heute sind es 30 Prozent. Also eine deutliche Steigerung. Wir wollen 700 Kilometer Straßen und Infrastrukturverbesserungen bauen, damit auch Märkte erreicht werden können, damit Produkte verkauft werden können. Wir wollen 50 Prozent der Menschen im Norden Zugang zu Energie und Trinkwasser ermöglichen. Heute sind es 22 Prozent, also über eine Verdoppelung. Und wir wollen, dass anstelle der 25 Prozent der Kinder, die heute in die Schulen gehen, am Ende dieser Legislaturperiode 60 Prozent der Kinder Zugang zu einer Schule haben durch deutsche Entwicklungshilfe."
Diese Ziele sollen überall dort erreicht werden, wo Deutschland bereits engagiert ist:
"Was den Wiederaufbau anbelangt: Hier haben wir uns vorgenommen, wie auch in allen militärischen Fragen, uns auf den Norden besonders zu konzentrieren und die Mittel für den zivilen Wiederaufbau ab dem Jahre 2010 nahezu zu verdoppeln. Das heißt, von heute 220 Millionen Euro auf 430 Millionen Euro."
Das sind konkrete Ziele - und ein ehrgeiziges Unterfangen: Die Bundesregierung will mit ihren Anstrengungen nun aus den Ballungszentren in ländliche Regionen vordringen. Entwicklungshilfeminister Niebel:
"In den Zentren sind wir schon relativ gut. 25 Prozent der Schüler im Norden Afghanistans gehen in die Schule, 900.000 Menschen haben mittlerweile Zugang zu Strom und Wasser. Das sind gute Erfolge. Die müssen aber in die Fläche getragen werden, weil die Masse der Menschen in Afghanistan eben in ländlichen Regionen lebt. Und deswegen müssen wir die ländlichen Strukturen stärken."
Auch damit geht die Bundesregierung den bereits eingeschlagenen Weg weiter. Die Staatengemeinschaft begann ihr Afghanistan-Engagement 2001 in der Hauptstadt Kabul, dehnte es ab 2004 dann langsam über alle Provinzen im Land aus. Jetzt soll sich das deutsche Engagement auf die ländlichen Regionen erstrecken. Die intensivierten Aufbaubemühungen auf dem Land zeigen auch, dass das Bild von der Entwicklung Afghanistans durchaus differenzierter ist, als das oft dargestellt wird. Auch der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel betont das:
"Vieles Gute ist vorangekommen. Den Rückzugsraum für international agierende Terroristen gibt es in Afghanistan längst nicht mehr. Schulen und Straßen wurden gebaut. Die medizinische Versorgung hat sich verbessert, die Strom- und Wasserversorgung ebenfalls. Das Talibanregime ist nicht mehr an der Macht. Das Land hat eine neue Verfassung, erste Wahlen haben stattgefunden."
Aber das ist nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden nur die eine Seite der Medaille - Gabriel sieht hauptsächlich diese Probleme:
"Die Sicherheitslage im Land hat sich in letzter Zeit verschlechtert. Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind heftiger geworden. Die Helfer der internationalen Gemeinschaft und die afghanische Armee und Polizei haben bittere Verluste zu beklagen. Viele Zivilisten leiden."
Um die Sicherheitslage zu verbessern, will die Bundesregierung neben den militärischen Mitteln nun auch ein weiteres ziviles Element aufgreifen: Menschen, die sich nicht aus Überzeugung, sondern aus wirtschaftlicher Not den Aufständischen angeschlossen haben, sollen eine neue Perspektive erhalten. Außenminister Westerwelle spricht von einem Aussteigerprogramm:
"Wir werden auch in London den Vorschlag machen, dass es ein Aussteigerprogramm gibt für die sogenannten Mitläufer. Das heißt, dass diejenigen, die nicht als gewaltbereite Terroristen mit ideologischer Verblendung diesen Kampf führen, sondern dass andere, die mitlaufen, oft genug auch, weil sie wirtschaftlich dort etwas angeboten bekommen, dass die jetzt ein Aussteigerprogramm bekommen, um auch in die Gesellschaft reintegriert zu werden."
Für diesen Zweck ist ein internationaler Fonds geplant, der mit jährlich 350 Millionen Euro gespeist werden soll. Deutschland will jährlich zehn Millionen Euro beisteuern - fünf Jahre lang. Der Fonds soll Arbeitsplätze schaffen, um Menschen in Afghanistan eine wirtschaftliche Perspektive zu geben.
Dieser Ansatz greift Beobachtungen auf, die Soldaten der internationalen Schutztruppen schon lange machten: Die Taliban - und andere aufständische Gruppen - greifen bei Anschlägen immer auf Männer zurück, die sich aus der Zivilbevölkerung rekrutieren. Die Taliban unterhalten keine stehenden Heere. Spätestens seit der Umstellung auf Guerilla- und Terrortaktiken sind sie bei jedem Anschlag auf Kämpfer aus der Region angewiesen. Diese werben sie oft als Tagelöhner an. So wird die Unterscheidung zwischen Taliban und Zivilisten immer schwieriger. Und erschwerend kommt hinzu, dass die angeworbenen Aktivisten aus den Dörfern jeden Baum und Strauch in ihrem Umfeld kennen.
Deshalb setzt der neue Fonds auf der lokalen Ebene an: Er soll Arbeitsplätze finanzieren, die den Dorfbewohnern angeboten werden. Ziel ist es, sie in längerfristige Beschäftigungsverhältnisse umzuwandeln. Die Dorfbewohner, so das Kalkül, seien dann nicht mehr so leicht von Aufständischen zu rekrutieren.
Dieses Konzept hat sich schon bewährt. Vor einigen Jahren hatten die Niederländer in ihren Einsatzregionen derartige Programme aufgelegt und positive Erfahrungen gemacht: Dort verloren die Taliban sukzessive ihre Rekrutierungsbasis. In vielen Dörfern kehrte langsam die Normalität zurück - und mit ihr viele Arbeitgeber. Allmählich begann ein Prozess der Stabilisierung. Warum man aus diesen Erfahrungen nicht die entsprechenden Lehren zog, gehört zu den Ungereimtheiten des internationalen Einsatzes in Afghanistan.
Nun soll dieser Fonds unter dem Etikett Reintegration - wie alle Maßnahmen - gemeinsam mit der Regierung Afghanistans verwaltet werden. Bundesaußenminister Guido Westerwelle nennt einige Bedingungen für jene, die aus dem Fonds unterstützt werden sollen:
"Natürlich ist es so, dass die Grundlage dieses Reintegrationsprogramms Gewaltverzicht ist und selbstverständlich auch die Akzeptanz der afghanischen Verfassung."
Aber wer will schon zuverlässig feststellen, dass nicht doch irrtümlicherweise militante Taliban und aktive Kämpfer mitfinanziert werden? Hier setzt die Bundesregierung auf die Mitwirkung afghanischer Regierungsstellen - obwohl das Vertrauen in die politische Führung Afghanistans schweren Schaden genommen hat.
Präsident Karsai wird von der Staatengemeinschaft immer wieder ermahnt, die Prinzipien einer "guten Regierungsarbeit" umzusetzen. Das heißt: Er soll vor allem gegen die Korruption in seinem Land, aber auch in seiner eigenen Regierung vorgehen. Karsai hat dies bei seiner zweiten Amtseinführung im vergangenen Herbst versprochen. Tatsächlich gibt es erste Anzeichen für eine entschlossenere Korruptionsbekämpfung. Das Parlament lehnte - auch wegen Korruptionsverdachts - etliche Kandidaten für Ministerposten im Kabinett Karsai ab. Und es soll Verhaftungen gegeben haben - angeblich sitzt der Bürgermeister von Kabul in Haft. Entwicklungsminister Dirk Niebel bleibt jedoch skeptisch:
"Wir versuchen, das dadurch zu flankieren, dass die neuen Maßnahmen durch deutsche Durchführungsorganisationen umgesetzt werden, dass die Mittelvergabe direkt durch die KfW Entwicklungsbank an den beauftragten Unternehmer stattfindet und dass nachgehalten wird, was mit den Mitteln dann tatsächlich passiert."
Dies gilt auch für die anderen Wirtschaftsmaßnahmen, die die Bundesregierung angekündigt hat. Ziel des Programms ist es, den Sicherheitsrahmen auszufüllen, den ISAF gestaltet - doch das geht viel zu langsam, beklagen sich Soldaten der ISAF. Diplomatisch äußert sich der Chef des Stabes beim NATO Hauptquartier für Operationen, der deutsche Vier-Sterne-General Karl-Heinz Lather - nicht nur die NATO sucht nach zusätzlichen Kräften:
"Es geht ja parallel einher - das ist je eine etwas einseitige Debatte, die wir haben - zu der sogenannten militärischen Surge eine zivile Surge, also ein Aufwuchs von zivilen Aufbaukräften, der aber verständlicherweise immer langsamer vorangeht als der militärische."
Um den erforderlichen Sicherheitsrahmen zu erhalten und zu schaffen, bedarf es vieler Polizisten und Soldaten. Die Staatengemeinschaft will nun verstärkt afghanische Sicherheitskräfte ausbilden. Deutschland engagiert sich besonders bei der Ausbildung der Polizei. Insgesamt sollen rund 135.000 Polizisten qualifiziert werden. Diese sollen in einem Land für innere Sicherheit sorgen, das seine internen Sicherheitsprobleme noch niemals in seiner Geschichte durch eine zentrale Polizei lösen ließ. So werden besonders die Polizisten zur Zielscheibe der Aufständischen, die sich durch Polizeikräfte der künftigen Kabuler Zentralmacht in ihrem Machtanspruch bedroht sehen.
Trotzdem will die Bundesregierung hier - wiederum besonders für den Norden - eine spezielle Verantwortung wahrnehmen. Die Zahl der Polizeiausbilder soll von gegenwärtig 123 auf 200 steigen. Ähnliche Zusagen konnten indes bislang nicht eingehalten werden, weil man auf Polizisten angewiesen ist, die sich freiwillig zum Einsatz melden. Bisher gab es aber nicht genügend Kandidaten, die bereit gewesen wären, nach Afghanistan zu gehen.
Neben den Polizeikräften sollen auch rund 170.000 Soldaten ausgebildet werden. Auch daran beteiligt sich die Bundeswehr seit Beginn des Einsatzes, und darauf wird sie künftig einen noch größeren Wert legen. Verteidigungsminister zu Guttenberg formuliert den Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan so:
"Schutz der Bevölkerung, Verstärkung der Ausbildungsbemühungen, um hier auch messbare Erfolge zu erzielen, natürlich auch die Gewährleistung und Sicherung von zivilen Aufbauerfolgen."
Schutz vor Anschlägen und Absicherung des Erreichten - das sind Kampfaufträge für den Fall, dass die Bevölkerung oder neu geschaffene Einrichtungen angegriffen werden. Da dürfte die Schnelle Eingreiftruppe, die die Bundeswehr bislang dort unterhielt, möglicherweise schnell vermisst werden:
"Die Quick Reaction Force wird es nicht mehr geben wie es sie bisher gab, sondern die Quick Reaction Force wird in ihrem Auftrag aufgelöst - und gerade da finden die Umstrukturierungen statt. Statt der Quick Reaction Force werden mit einem gewissen Aufwuchs, der hier noch stattfindet, die Ausbildungs- und Schutzkomponente herausgebildet."
Die Frage des Aufwuchses, also der Erhöhung der Zahl eingesetzter Soldaten, ist politisch in Deutschland hoch umstritten. Die deutschen Kommandeure, die aus Afghanistan zurückkehren, haben immer wieder rund 2500 zusätzliche Soldaten gefordert, um alle Aufgaben angemessen bewältigen zu können. Ein ähnliche Zahl nannte auch die NATO. Aber die Bundesregierung zögerte lange und entschied sich anders.
Die Reaktion: Die USA erklärten, sie würden bis zu 5000 Soldaten in den Norden verlegen. Damit ist zwar der Druck auf die Bundesregierung genommen. Sie will nun lediglich 500 zusätzliche Soldaten dauerhaft entsenden und eine Reserve von 350 Soldaten bereit halten, um das deutsche Kontingent von derzeit 4500 deutschen Soldaten aufzustocken. Wie sich die Berliner Entscheidung aber auf die Lage vor Ort und auf die Diskussionen im Bündnis auswirken wird, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Diese Entscheidung ist der innenpolitischen Kontroverse um diesen Einsatz geschuldet - hatte die SPD-Opposition doch erklärt, sie werde keinem Konzept zustimmen, bei dem zusätzliche Kampftruppen vorgesehen sind. Das wird auch die Regierung bei der Formulierung der eigenen Strategie beeinflusst haben.
Damit nicht genug: Die SPD pochte auf einen Termin für den Beginn eines Truppenrückzugs. US-Präsident Barack Obama will 2011 die ersten Truppenteile nach Hause holen. SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert:
"Beginn des Abzugs mit den Amerikanern Mitte 2011. Es kann ja nicht sein, dass die Bundeswehr dort bleibt und die Amerikaner beginnen, abzuziehen. Zweitens: Im Zentrum dürfen nicht Kampfhandlung stehen, sondern die verstärkte Ausbildung von afghanischer Polizei und Soldaten."
Für das Abzugsszenario ist ein weiterer Termin von Bedeutung: Im Jahr 2012 finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Der Vorwahlkampf beginnt bereits Mitte 2011. Die US-amerikanische Innenpolitik wird bei der Debatte um den Truppenrückzug aus Afghanistan also immer eine große Rolle spielen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel will keinen Termin für das Ende der Abzugsphase nennen. Heute in der Regierungserklärung meinte sie:
"Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Aber ich sage an dieser Stelle auch klar und deutlich: Ein endgültiges Abzugsdatum nenne ich ausdrücklich nicht."