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Modernes Scouting im Radsport
Profis von der Rolle

Jahrelang war der Weg über unterklassige Rennen die einzige Möglichkeit, Radprofi zu werden. Heute kann man sich die Reisen aber teilweise sparen – und von zu Hause aus Profi werden. Der Radsport erschließt sich so auch neue Talente.

Von Christian von Stülpnagel | 28.01.2023
Der australische Radprofi Jay Vine hat die Tour Down Under gewonnen.
Der australische Radprofi Jay Vine hat die Tour Down Under gewonnen. (AAPIMAGE / MATT TURNER)
Der australische Radprofi Jay Vine hat 2023 die Tour Down Under gewonnen - das wichtigste Radrennen seines Heimatlandes. Nur zwei Jahre zuvor ist das noch nicht absehbar. Da fährt Vine noch bei kleinen Rennen für das unterklassige Team Nero Continental aus Australien.
Und zu Hause „auf der Rolle“, wie die Profis es nennen, wenn sie ihr Rennrad als Heimtrainer im Wohnzimmer nutzen, um etwa auf der Plattform Zwift, virtuell gegen andere Fahrer anzutreten. Eine Art Videospiel für’s Radtraining. Für Jay Vine eröffnet sich so der Weg zum Profi: Ende 2020 gewinnt er die sogenannte “Zwift Academy“. Eine Serie von virtuellen Rennen, die ihm einen Platz im Profi-Team Alpecin-Fénix einbringt.
"Wir sammeln über unsere Plattform so viele Daten, wie zum Beispiel die Wattzahlen oder die Geschwindigkeit", sagt Kate Veroneau, bei Zwift zuständig für die Entwicklung des Frauenradsports: "Deshalb haben wir 2016 entschieden, unsere Plattform zu nutzen, um einen weltweiten Wettkampf zu starten und den nächsten Pro zu finden."

Vom Heimtrainer in die erste Radsport-Liga

Über diesen Weg ist auch Tanja Erath zum Radprofi geworden. 2017 hat sie die Zwift-Academy gewonnen und fuhr ab da in der World Tour, der höchsten Rad-Liga. Erst für das deutsche Team Canyon-Sram, später bei einem amerikanischen Team. Auf klassischem Wege hätte sie das wohl nicht geschafft: "Man müsste erstmal in kleineren KT-Teams anfangen, in belgischen oder auch deutschen. Und dazu war ich zu dem Zeitpunkt schon zu alt. Und zu weit fortgeschritten in meiner beruflichen Ausbildung, um zu sagen, ich strebe den langen, steinigen Weg an. Weil so war es eine Art Abkürzung in das höchste Niveau des Frauenradsports."
Denn normalerweise ist Scouting ein sehr analoges Geschäft, erklärt Christian Schrot, Head of Scouting beim deutschen World-Tour-Team Bora-hansgrohe: "Der klassische Weg, wie wir Talente finden, ist über Talentscouts. Das sind Mitarbeiter, die bei Radrennen vor Ort sind, und visuell das Rennen inspizieren. Und wenn wir dann Sportler finden, wo wir sagen, das ist interessant, gehen wir auch in individuelle Gespräche mit den Sportlern, führen dann auch Performance-Tests durch. Das ist ein ganzer Scouting-Prozess, der sich anschließt."
Aber auch bei dem Raublinger Radrennstall haben sie erkannt, welche Potenziale die Online-Plattformen bieten. Gemeinsam mit dem Partner Red Bull möchten sie in diesem Jahr über die Netzwerke Strava und Zwift Talente finden – und zwei mit einem Vertrag für ihr Nachwuchs-Team ausstatten: "Wir haben insgesamt damit zu kämpfen, dass die Nachwuchsdichte nicht unbedingt höher wird. Der Radsport konkurriert mit anderen Sportarten, das heißt, die Teams sind auf der Suche nach Talenten, und da bieten eben moderne Plattformen sehr schöne Messmöglichkeiten. Das wird definitiv genutzt."

Eine Demokratisierung des Radsports?

Außerdem machen es die online-Plattformen einfacher, bei denen auch Wattzahlen und Herzfrequenzdaten ermittelt werden können, weltweit nach Talenten zu suchen. Die Digitalisierung könne so die Welt des Radsports öffnen, sagt Tanja Erath: "Selbst wenn man einen geliehenen Rollentrainer hat: Man braucht ein Rennrad, man braucht ein Laptop oder iPad, man braucht einen Zugang zu Zwift. Ganz demokratisiert würde ich es nicht nennen, weil man natürlich trotzdem einen gewissen Status und Privilegien haben muss, um sich das leisten zu können. Aber natürlich gibt es einem die Möglichkeit, auch ohne die elterliche Unterstützung, die wirklich sagen: Okay, wir zahlen dir die komplette U23-Zeit, einfach falls du es irgendwann in die Worldtour schaffst. Die Sachen kann man dadurch etwas einfacher umgehen und auf sich aufmerksam machen."
Vor allem für Fahrer*innen aus Australien oder Neuseeland eröffne sich so ein Weg zu einem der mehrheitlich europäischen oder US-amerikanischen Teams.

Chancen für Quereinsteiger

Für Scout Christian Schrot spielt aber auch die Möglichkeit des Quereinstiegs eine Rolle: "Wenn wir eben nur im Becken Straßenradsport fischen, dann können wir auch nur Sportler finden, die auf eigenem Weg dorthin gefunden haben. Und über moderne oder neue Plattformen und neue Kanäle ist es eben möglich, eben auch unerkannte Talente aus anderen Sportarten oder unerkannte Talente zu finden."
So zum Beispiel auch Jason Osborne. 2021 gewann der deutsche Ruderer bei den olympischen Spielen in Tokio noch Silber im Leichtgewichts-Doppelzweier. Bei der offiziellen virtuellen Radsport-WM vom Weltverband UCI wurde er 2020 Weltmeister über 50 Kilometer – und ist seit 2021 Radprofi.

"Es braucht auch erfahrene Rennfahrer"

Für Kate Veronneau von Zwift ein Zeichen, dass immer mehr Teams auf die Talente aus der digitalen Welt zurückgreifen: "Was wir über die Jahre gesehen haben: Nicht nur der Sieger unserer Akademie bekommt einen Profivertrag. Auch die anderen Finalisten werden von Teams gescoutet. Die Teams passen ganz genau auf, wer sich bei diesen Wettbewerben gut schlägt, weil du sehr genau sehen kannst, wie groß das Potenzial der Fahrer ist."
Für den Scout Christian Schrot ist aber klar: "Am Ende braucht man auch erfahrene Rennfahrer, die das von der Pieke auf gelernt haben. Das hat gewisse Vorteile, weil ich dann gerade auch im technischen oder taktischen Bereich auf ein ganz anderes Basislevel aufbauen kann."
Die Profis von der Rolle werden die klassischen Talente also auch in Zukunft nicht ganz verdrängen.